Elemente des
Antisemitismus
- Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der
Aufklärung - Philosophische Fragmente. Elektronische Quelle:
http://www.nadir.org
Der Antisemitismus heute
gilt den einen als Schicksalsfrage der Menschheit, den anderen als
bloßer Vorwand. Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität,
sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer
Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.
Dem entgegengesetzt ist die These, die Juden, frei von nationalen oder
Rassemerkmalen, bildeten eine Gruppe durch religiöse Meinung und
Tradition, durch nichts sonst. Jüdische Kennzeichen bezögen sich auf
Ostjuden, jedenfalls bloß auf noch nicht ganz Assimilierte.
Beide Doktrinen sind wahr und falsch zugleich.
Teil IDie erste ist
wahr in dem Sinn, daß der Faschismus sie wahr gemacht hat. Die Juden
sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den
Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche
Ordnung aus sich heraus produziert...
Teil II Der
Antisemitismus als Volksbewegung war stets, was seine Anstifter den
Sozialdemokraten vorzuwerfen liebten: Gleichmacherei. Denen, die keine
Befehlsgewalt haben, soll es ebenso schlecht gehen wie dem Volk. Vom
deutschen Beamten bis zu den Negern in Harlem haben die gierigen
Nachläufer im Grunde immer gewußt, sie würden am Ende selber nichts
davon haben als die Freude, daß die andern auch nicht mehr haben...
Teil III Die heutige Gesellschaft, in der
religiöse Urgefühle und Renaissancen ebenso wie die Erbmasse von
Revolutionen am Markte feilstehen, in der die faschistischen Führer
hinter verschlossenen Türen Land und Leben der Nationen aushandeln,
während das gewiegte Publikum am Radioempfänger den Preis nachrechnet,
die Gesellschaft, in der noch das Wort, das sie entlarvt, sich eben
damit als Empfehlung zur Aufnahme in ein politisches Racket legitimiert:
diese Gesellschaft, in der nicht bloß mehr die Politik ein Geschäft ist,
sondern das Geschäft die ganze Politik - sie entrüstet sich über das
zurückgebliebene Händlergebaren des Juden und bestimmt ihn als den
Materialisten, den Schacherer, der dem Feuergeist derer weichen soll,
die das Geschäft zum Absoluten erhoben haben...
Teil IV Der völkische
Antisemitismus will von der Religion absehen. Er behauptet, es gehe um
Reinheit von Rasse und Nation. Sie merken, daß die Menschen der Sorge
ums ewige Heil längst entsagt haben. Der durchschnittliche Gläubige ist
heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden
vorzuwerfen, sie seien versteckte Ungläubige, bringt keine Masse mehr in
Bewegung. Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für
zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erlöschen...
Teil V
"Ich kann dich ja nicht leiden - Vergiß das nicht so
leicht" sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte
Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkrasie. Davon, ob
der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff erhoben, das Sinnlose seiner
selbst innewird, hängt die Emanzipation der Gesellschaft vom
Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber heftet sich an Besonderes. Als
natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge
der Gesellschaft einfügt...
Teil VI Der
Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel
zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der
pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis
sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt
sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich
anschmiegt, das Fremde zum 'Vertrauten, so versetzt diese das
sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als
Feind...
Teil VII Aber es gibt
keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre
antiliberale Meinung sagen wollten. Die altkonservative Distanz des
Adels und der Offizierskorps von den Juden war im ausgehenden
neunzehnten Jahrhundert bloß reaktionär. Zeitgemäß waren die Ahlwardts
und Knüppelkunzes. Sie hatten zur Gefolgschaft schon das
Menschenmaterial des Führers, aber ihren Rückhalt bei den boshaften
Charakteren und Querköpfen im ganzen Land. Wurde antisemitische
Gesinnung laut, so fühlte sie sich als bürgerlich und aufsässig
zugleich... Vgl. Freud, Das Unheimliche.
Gesammelte Werke. Band XII, S. 254, 259 u. a. Kant, Kritik der reinen
Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S. 180 f.
Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Band IX. S. 91.
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