Elemente des
Antisemitismus - Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der
Aufklärung - Philosophische Fragmente. Elektronische Quelle:
http://www.nadir.org
VII Aber es gibt keine
Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale
Meinung sagen wollten. Die altkonservative Distanz des Adels und der
Offizierskorps von den Juden war im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert
bloß reaktionär. Zeitgemäß waren die Ahlwardts und Knüppelkunzes. Sie
hatten zur Gefolgschaft schon das Menschenmaterial des Führers, aber
ihren Rückhalt bei den boshaften Charakteren und Querköpfen im ganzen
Land. Wurde antisemitische Gesinnung laut, so fühlte sie sich als
bürgerlich und aufsässig zugleich. Das völkische Schimpfen war noch die
Verzerrung von ziviler Freiheit. In der Bierbankpolitik der Antisemiten
kam die Lüge des deutschen Liberalismus zum Vorschein, von dem sie
zehrte und dem sie schließlich das Ende bereitete. Wenn sie auch gegen
Juden ihre eigene Mittelmäßigkeit als Freibrief für das Prügeln geltend
machten, das schon den universalen Mord in sich hatte, so sahen sie
ökonomisch doch noch genug vor sich selber, um das Risiko des Dritten
Reichs gegen die Vorteile einer feindseligen Duldung einstweilen
abzuwägen. Der Antisemitismus war noch ein konkurrierendes Motiv in
subjektiver Wahl. Die Entscheidung bezog sich spezifisch auf ihn. In der
Annahme der völkischen These freilich war immer schon das ganze
chauvinistische Vokabular mitgesetzt. Seit je zeugte antisemitisches
Urteil von Stereotypie des Denkens. Heute ist diese allein übrig.
Gewählt wird immer noch, aber einzig zwischen Totalitäten. Anstelle der
antisemitischen Psychologie ist weithin das bloße Ja zum faschistischen
Ticket getreten, dem Inventar der Parolen der streitbaren Großindustrie.
Wie auf dem Wahlzettel der Massenpartei dem Wähler von der
Parteimaschine die Namen derer oktroyiert werden, die seiner Erfahrung
entzückt sind und die er nur en bloc wählen kann, so sind die
ideologischen Kernpunkte auf wenigen Listen kodifiziert. Für eine von
ihnen muß man en bloc optieren, wenn nicht die eigene Gesinnung einem
selbst als so vergeblich erscheinen soll wie die Splitterstimmen am
Wahltag gegenüber den statistischen Mammutziffern. Antisemitismus ist
kaum mehr eine selbständige Regung, sondern eine Planke der Plattform:
wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, subskribiert mit der
Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus
automatisch auch die Erledigung der Juden. Die wie sehr auch verlogene
Überzeugung des Antisemiten ist in die vorentschiedenen Reflexe der
subjektlosen Exponenten ihrer Standorte übergegangen. Wenn die Massen
das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen die Juden enthält,
gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen gezeigt,
daß der Antisemitismus in judenreinen Gegenden nicht weniger Chancen hat
als selbst in Hollywood. Anstelle von Erfahrung tritt das Cliché,
anstelle der in jener tätigen Phantasie fleißige Rezeption. Bei Strafe
rapiden Untergangs ist den Mitgliedern jeder Schicht ihr Pensum an
Orientierung vorgeschrieben. Orientieren müssen sie sich sowohl im Sinn
des Wissens ums neueste Flugzeug wie im Sinn des Anschlusses an eine der
vorgegebenen Instanzen der Macht. In der Welt
als Serienproduktion ersetzt deren Schema, Stereotypie, die kategoriale
Arbeit. Das Urteil beruht nicht mehr auf dem wirklichen Vollzug der
Synthesis, sondern auf blinder Subsumtion. Hat auf einer historisch
frühen Stufe Urteilen einmal im raschen Unterscheiden bestanden, das den
giftigen Pfeil sogleich in Bewegung setzte, so hatten inzwischen Tausch
und Rechtspflege das Ihre getan. Urteilen war durch die Stufe des
Abwägens hindurchgegangen, das dem Urteilssubjekt gegen die brutale
Identifikation mit dem Prädikat einigen Schutz gewährte. In der
spätindustriellen Gesellschaft wird auf den urteilslosen Vollzug des
Urteils regrediert. Als im Faschismus die beschleunigte Prozedur das
umständliche Gerichtsverfahren im Strafprozeß ablöste, waren die
Zeitgenossen ökonomisch darauf vorbereitet; sie hatten gelernt,
besinnungslos die Dinge durch die Denkmodelle hindurch zu sehen, durch
die termini technici, welche beim Zerfall der Sprache jeweils die
eiserne Ration ausmachen. Der Wahrnehmende ist im Prozeß der Wahrnehmung
nicht mehr gegenwärtig. Er bringt die tätige Passivität des Erkennens
nicht mehr auf, in der die kategorealen Elemente vom konventionell
vorgeformten "Gegebenen" und dieses von jenen neu, angemessen sich
gestalten zu lassen, so daß dem wahrgenommenen Gegenstand sein Recht
wird. Auf dem Felde der Sozialwissenschaften wie in der Erlebniswelt des
Einzelnen werden blinden Anschauung und leere Begriffe starr und
unvermittelt zusammengebracht. Im Zeitalter der dreihundert Grundworte
verschwindet die Fähigkeit zur Anstrengung des Urteilens und damit der
Unterschied zwischen wahr und falsch. Sofern nicht Denken in höchst
spezialisierter Form noch in manchen Sparten der Arbeitsteilung ein
Stück beruflicher Ausrüstung bildet, wird es als altmodischer Luxus
verdächtig: "armchair thinking". Man soll etwas vor sich bringen. Je
mehr die Entwicklung der Technik körperliche Arbeit überflüssig macht,
desto eifriger wird diese zum Vorbild der geistigen erhoben, welche
nicht in Versuchung kommen darf, eben daraus die Konsequenzen zu ziehen.
Das ist das Geheimnis der Verdummung, die dem Antisemitismus
zugutekommt. Wenn selbst innerhalb der Logik der Begriff dem Besonderen
nur als ein bloß Äußerliches widerfährt, muß erst recht in der
Gesellschaft erzittern, was den Unterschied repräsentiert. Die
Spielmarke wird aufgeklebt: jeder zu Freund oder Feind. er Mangel an
Rücksicht aufs Subjekt macht es der Verwaltung eicht. Man versetzt
Volksgruppen in andere Breiten, schickt Individuen mit dem Stempel Jude
in die Gaskammer. Die Gleichgültigkeit gegens
Individuum, die in der Logik sich ausdrückt, zieht die Folgerung aus dem
Wirtschaftsprozeß. Es e zum Hemmnis der Produktion. Die
Ungleichzeitigkeit in der technischen und menschlichen Entwicklung, das
"cultural lag" er das sich die Soziologen aufhielten, beginnt zu
verschwinden. Ökonomische Rationalität, das gepriesene Prinzip des
kleinsten Mittels formt unablässig noch die letzten Einheiten der
Wirtschaft um: den Betrieb wie den Menschen. Die je fortgeschrittenere
Form wird zur vorherrschenden. Einmal enteignete das Warenhaus das
Spezialgeschäft alten Stils. Der merkantilistischen Regulierung
entwachsen, hatte dieses Initiative, Disposition, Organisation in sich
hineingenommen und war, wie die alte Mühle und Schmiede, zur kleinen
Fabrik, selbst zur freien Unternehmung geworden. In ihm ging es
umständlich, kostspielig, mit Risiken zu. Daher setzte dann Konkurrenz
die leistungsfähigere zentralisierte Form des Detailgeschäfts durch,
eben das Warenhaus. Dem psychologischen Kleinbetrieb, dem Individuum
ergeht es nicht anders. Es war enstanden als Kraftzelle ökonomischer
Aktivität. Von der Bevormundung auf früheren Wirtschaftsstufen
emanzipiert, sorgte es für sich allein: als Proletarier durch Verdingung
über den Arbeitsmarkt und fortwährende Anpassung an neue technische
Bedingen, als Unternehmer durch unermüdliche Verwirklichung des
Idealtyps homo oeconomicus. Die Psychoanalyse hat den inneren
Kleinbetrieb, der so zustandekam, als komplizierte Dynamik von Bewußtem
und Bewußtem, von Es, Ich und Über-Ich dargestellt. In
Auseinandersetzung mit dem Über-Ich, der gesellschaftlichen
Kontrollinstanz im Individuum, hält das Ich die Triebe in den Grenzen
der Selbsterhaltung. Die Reibungsflächen sind groß und die Neurosen, die
faux frais solcher Triebökonomie, unvermeidlich. Dennoch hat die
umständliche seelische Apparatur das einigermaßen freie Zusammenspiel
der Subjekte ermöglicht, in dem die Marktwirtschaft bestand. In der Ära
der großen Konzerne und Weltkriege aber erweist sich die Vermittlung des
Gesellschaftsprozesses durch die zahllosen Monaden hindurch als
rückständig. Die Subjekte der Triebökonomie werden psychologisch
expropriiert und diese rationeller von der Gesellschaft selbst
betrieben. Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst
mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen,
Selbsterhaltung und Trieben abzuringen. Für den Menschen als
Erwerbstätigen wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur
nationalen Verwaltung entschieden, in der Privatsphäre durchs Schema der
Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen ihrer
Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt. Als Ich und Über-Ich fungieren die
Gremien und Stars, und die Massen, selbst des Scheins der Persönlichkeit
entäußert, formen sich viel reibungsloser nach den Losungen und
Modellen, als je die Instinkte nach der inneren Zensur. Gehörte im
Liberalismus Individuation eines Teils der Bevölkerung zur Anpassung der
Gesamtgesellschaft an den Stand der Technik, so fordert heute das
Funktionieren der wirtschaftlichen Apparatur die durch Individuation
unbehinderte Direktion von Massen. Die
ökonomisch bestimmte Richtung der Gesamtgesellschaft, die seit je in der
geistigen und körperlichen Verfassung der Menschen sich durchsetzte,
läßt die Organe des Einzelnen verkümmern, die im Sinne der autonomen
Einrichtung seiner Existenz wirkten. Seitdem Denken ein bloßer Sektor
der Arbeitsteilung wurde, haben die Pläne der zuständigen Experten und
Führer die ihr eigenes Glück planenden Individuen überflüssig gemacht.
Die Irrationalität der widerstandslosen und emsigen Anpassung an die
Realität wird für den Einzelnen vernünftiger als die Vernunft. Wenn vor
dem Bürger den Zwang als Gewissenspflicht sich selbst und den Arbeitern
introjiziert hatten, so wurde inzwischen der ganze Mensch zum
Subjekt-Objekt der Repression. Im Fortschritt der Industriegesellschaft,
die doch das von ihr selbst gezeitigte Gesetz der Verelendung
hinweggezaubert haben soll, wird nun der Begriff zuschanden, durch den
das Ganze sich rechtfertigte: der Mensch als Person, als Träger der
Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den Wahnsinn
um. Der Wahnsinn ist zugleich einer der
politischen Realität. Als dichtes Gewebe neuzeitlicher Kommunikation ist
die Welt so einheitlich geworden, daß die Unterschiede der
Diplomatenfrühstücke in Dumbarton Oaks und Persien als nationales Timbre
erst ausgesonnen werden müssen und die nationale Eigenart vornehmlich an
den nach Reis hungernden Millionen erfahren wird, die durch die engen
Maschen gefallen sind. Während die Fülle der Güter, die überall und zur
gleichen Zeit produziert werden könnten, den Kampf um Rohmaterialien und
Absatzgebiete stets anachronistischer erscheinen läßt, ist doch die
Menschheit in ganz wenige bewaffnete Machtblöcke aufgeteilt. Sie
konkurrieren erbarmungsloser als je die Firmen anarchischer
Warenproduktion und streben der wechselseitigen Liquidierung zu. Je
aberwitziger der Antagonismus, desto starrer die Blöcke. Nur indem die
totale Identifikation mit diesen Machtungeheuern den in ihren Großräumen
Anbetroffenen als zweite Natur aufgeprägt wird und alle Poren des
Bewußtseins verstopft, werden die Massen zu der Art absoluter Apathie
verhalten, die sie zu den Wunderleistungen befähigt. Sofern den
Einzelnen Entscheidung noch überlassen scheint, ist diese doch
wesentlich vorentschieden. Die von den Politikern der Lager ausposaunte
Unversöhnlichkeit der Ideologien ist selber nur noch eine Ideologie der
blinden Machtkonstellation. Das Ticketdenken, Produkt der
Industrialisierung und ihrer Reklame, mißt den internationalen
Beziehungen sich an. Ob ein Bürger das kommunistische der das
faschistische Ticket zieht, richtet sich bereits danach, ob er mehr von
der roten Armee oder den Laboratorien des Westens sich imponieren läßt.
Die Verdinglichung, kraft deren die einzig durch die Passivität der
Massen ermöglichte Machtstruktur diesen selbst als eiserne Wirklichkeit
entgegentritt, ist so dicht geworden, daß jede Spontaneität, ja die
bloße Vorstellung vom wahren Sachverhalt notwendig zur verstiegenen
Utopie, zum abwegigen Sektierertum geworden ist. Der Schein hat sich so
konzentriert, daß ihn durchschauen objektiv den Charakter der
Halluzination gewinnt. Ein Ticket wählen dagegen heißt die Anpassung an
den zur Wirklichkeit versteinerten Schein vollziehen, der durch solche
Anpassung sich unabsehbar reproduziert. Eben deshalb wird schon der
Zögernde als Deserteur verfemt. Seit Hamlet war den Neueren das Zaudern
Zeichen von Denken und Humanität. Die verschwendete Zeit repräsentierte
und vermittelte zugleich den Abstand zwischen Individuellem und
Allgemeinem, wie in der Ökonomie die Zirkulation zwischen Konsum und
Produktion. Heute erhalten die Einzelnen ihre Tickets fertig von den
Mächten, wie die Konsumenten ihr Automobil von den Verkaufsfilialen der
Fabrik. Realitätsgerechtigkeit, Anpassung an die Macht, ist nicht mehr
Resultat eines dialektischen Prozesses zwischen Subjekt und Realität,
sondern wird unmittelbar vom Räderwerk der Industrie hergestellt. Der
Vorgang ist einer der Liquidation anstatt der Aufhebung, der formalen
anstatt der bestimmten Negation. Nicht indem sie ihm die ganze
Befriedigung gewährten, haben die losgelassenen Produktionskolosse das
Individuum überwunden, sondern indem sie es als Subjekt auslöschten.
Eben darin besteht ihre vollendete Rationalität, die mit ihrer
Verrücktheit zusammenfällt. Das auf die Spitze getriebene Mißverhältnis
zwischen dem Kollektiv und den Einzelnen vernichtet die Spannung, aber
der ungetrübte Einklang zwischen Allmacht und Ohnmacht ist selber der
unvermittelte Widerspruch, der absolute Gegensatz von Versöhnung.
Mit dem Individuum sind daher nicht auch seine
psychologischen Deterninanten, seit je schon die innernenschlichen
Agenturen der falschen Gesellschaft, verschwunden. Aber die
Charaktertypen finden jetzt im Aufriß des Machtbetriebs ihre genaue
Stelle. Ihr Wirkungs- wie ihr Reibungskoeffizient sind einkalkuliert.
Das Ticket selbst ist ein Zahnrad. Was am psychologischen Mechanismus
von je zwangshaft, unfrei und irrational war, ist präzis darauf
eingepaßt. Das reaktionäre Ticket, das den Antisemitismus enthält, ist
dem destruktiv-konventionellen Syndrom angemessen. Sie reagieren nicht
sowohl ursprünglich gegen die Juden, als daß sie eine Triebrichtung
ausgebildet haben, die erst durch das Ticket das adäquate Objekt der
Verfolgung empfängt. Die erfahrungsmäßigen "Elemente des Antisemitismus"
außer Kraft gesetzt durch den Erfahrungsverlust, der im Ticketdenken
sich anzeigt, werden vom Ticket nochmals mobilisiert. Als bereits
zersetzte schaffen sie dem Neo-Antisemiten das schlechte Gewissen und
damit die Unersättlichkeit des Bösen. Eben weil die Psychologie der
Einzelnen sich selbst und ihre Inhalte nur noch durch die
gesellschaftlich gelieferten synthetischen Schemata herstellen läßt,
gewinnt der zeitgemäße Antisemitismus das nichtige, undurchdringliche
Wesen. Der jüdische Mittelsmann wird erst ganz zum Bild des Teufels,
nachdem es ihn ökonomisch eigentlich nicht mehr gibt; das macht den
Triumph leicht und noch den antisemitischen Familienvater zum
verantwortungsfreien Zuschauer der unaufhaltsamen geschichtlichen
Tendenz, der nur zugreift, wo es seine Rolle als Angestellter der Partei
oder der Zyklonfabriken erfordert. Die Verwaltung totalitärer Staaten,
die unzeitgemäße Volksteile der Ausrottung zuführt, ist bloß der
Nachrichter längst gefällter ökonomischer Verdikte. Die Angehörigen
anderer Sparten der Arbeitsteilung können mit der Gleichgültigkeit
zusehen, die der Zeitungsleser angesichts der Meldung über
Aufräumungsarbeiten am Schauplatz der Katastrophe von gestern nicht
verliert. Die Eigenart, um derentwillen die Opfer erschlagen werden, ist
denn auch selber längst weggewischt. Die Menschen, die als Juden unters
Dekret fallen, müssen durch umständliche Fragebogen erst eruiert werden,
nachdem unter dem nivellierenden Druck der spätindustriellen
Gesellschaft die feindlichen Religionen, die einst den Unterschied
konstituierten, durch erfolgreiche Assimilation bereits in bloße
Kulturgüter umgearbeitet worden sind. Die jüdischen Massen selber
entziehen sich dem Ticketdenken so wenig wie nur irgend die feindlichen
Jugendverbände. Der faschistische Antisemitismus muß sein Objekt
gewissermaßen erst erfinden. Die Paranoia verfolgt ihr Ziel nicht mehr
auf Grund der individuellen Krankengeschichte des Verfolgers; zum
gesellschaftlichen Existential geworden, muß sie es vielmehr im
Verblendungszusammenhang der Kriege und Konjunkturen selbst setzen, ehe
die psychologisch prädisponierten Volksgenossen als Patienten sich
innerlich und äußerlich darauf stürzen können.
Daß, der Tendenz nach, Antisemitismus nur noch als Posten im
auswechselbaren Ticket vorkommt, begründet unwiderleglich die Hoffnung
auf sein Ende. Die Juden werden zu einer Zeit ermordet, da die Führer
die antisemitische Planke so leicht ersetzen könnten, wie die
Gefolgschaften von einer Stätte der durchrationalisierten Produktion in
eine andere überzuführen sind. Die Basis der Entwicklung, die zum
Ticketdenken führt, ist ohnehin die universale Reduktion aller
spezifischen Energie auf die eine, gleiche, abstrakte Arbeitsform vom
Schlachtfeld bis zum Studio. Der Übergang von solchen Bedingungen zum
menschlicheren Zustand aber kann nicht geschehen, weil dem Guten
dasselbe wie dem Bösen widerfährt. Die Freiheit auf dem progressiven
Ticket ist den machtpolitischen Strukturen, auf welche die progressiven
Entscheidungen notwendig hinauslaufen, so äußerlich wie die
Judenfeindschaft dem chemischen Trust. Zwar werden die psychologisch
Humaneren von jenem angezogen, doch verwandelt der sich ausbreitende
Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets am Ende
in Feinde der Differenz. Nicht erst das antisemitische Ticket ist
antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt. Jene Wut auf die
Differenz, die ihr teleologisch innewohnt, steht als Ressentiment der
beherrschten Subjekte der Naturbeherrschung auf dem Sprung gegen die
natürliche Minderheit, auch wo sie fürs erste die soziale bedrohen. Die
gesellschaftlich verantwortliche Elite ist ohnehin weit schwieriger zu
fixieren als andere Minderheiten. Im Nebel der Verhältnisse von
Eigentum, Besitz, Verfügung und Management entzieht sie sich mit Erfolg
der theoretischen Bestimmung. An der Ideologie der Rasse und der
Wirklichkeit der Klasse erscheint gleichermaßen bloß noch die abstrakte
Differenz gegen die Majorität. Wenn aber das fortschrittliche Ticket dem
zustrebt, was schlechter ist als sein Inhalt, so ist der Inhalt des
faschistischen so nichtig, daß er als Ersatz des Besseren nur noch durch
verzweifelte Anstrengung der Betrogenen aufrecht erhalten werden kann.
Sein Grauen ist das der offenkundigen und doch fortbestehenden Lüge.
Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte,
tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe,
von der die Urteilslosen einzig durch die volle Einbuße des Denkens
getrennt zu halten sind. Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende
Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen.
Vgl. Freud, Das Unheimliche. Gesammelte Werke. Band XII, S. 254, 259 u.
a. Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S.
180 f.
Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Band IX. S. 91.
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