Elemente des
Antisemitismus - Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der
Aufklärung - Philosophische Fragmente. Elektronische Quelle:
http://www.nadir.org
V
"Ich kann dich ja nicht leiden - Vergiß das nicht so
leicht" sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte
Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkrasie. Davon, ob
der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff erhoben, das Sinnlose seiner
selbst innewird, hängt die Emanzipation der Gesellschaft vom
Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber heftet sich an Besonderes. Als
natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge
der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die sich nicht durch die Kanäle
der begrifflichen Ordnung zum Zweckvollen geläutert hat, der schrille
Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und durch geht, der haut goût,
der an Dreck und Verwesung gemahnt, der Schweiß, der auf der Stirn des
Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht ganz mitgekommen ist oder die
Verbote verletzt, in denen der Fortschritt der Jahrhunderte sich
sedimentiert, wirkt penetrant und fordert zwangshaften Abscheu heraus.
Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an
die Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her:
Zeichen der Gefahr, bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz
stillstand. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder
der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch
fundamentalen Reizen. Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der
Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht
ganz mächtig. Für Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die
umgebende unbewegte Natur. Indem aber das Bewegte dem Unbewegten, das
entfaltetere Leben bloßer Natur sich nähert, entfremdet es sich ihr
zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie Daphne, Lebendiges in
höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußerlichsten, der
räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute Entfremdung. Wo
Menschliches werden will wie Natur, verhärtet es sich zugleich gegen
sie. Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene
Erstarrungsreaktionen am Menschen sind archaische Schemata der
Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch
Angleichung ans Tote.
Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung
ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in
der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und
schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit,
gesetzt. Unbeherrschte Mimesis wird verfemt. Der Engel mit dem feurigen
Schwert, der die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen
Fortschritts trieb, ist selbst das Sinnbild solchen Fortschritts. Die
Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem
eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische
Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bildverbot über die
Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die
Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung
bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von
Arbeitenden und bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf
und Nieder der umgebenden Natur. Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe
hat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich
geschmiedet worden. Durch seine Konstitution vollzieht sich der Übergang
von reflektorischer Mimesis zu beherrschter Reflexion. Anstelle der
leiblichen Angleichung an Natur tritt die "Rekognition im Begriff" die
Befassung des Verschiedenen unter Gleiches. Die Konstellation aber,
unter der Gleichheit sich herstellt, die unmittelbare der Mimesis wie
die vermittelte der Synthesis, die Angleichung ans Ding im blinden
Vollzug des Lebens wie die Vergleichung des Verdinglichten in der
wissenschaftlichen Begriffsbildung, bleibt die des Schreckens. Die
Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den dauernden,
organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente
Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt als
gesellschaftliche Herrschaft über die Natur. Wissenschaft ist
Wiederholung, verfeinert zu beobachteter Regelmäßigkeit, aufbewahrt in
Stereotypen. Die mathematische Formel ist bewußt gehandhabte Regression,
wie schon der Zauber-Ritus war; sie ist die sublimierteste Betätigung
von Mimikry. Technik vollzieht die Anpassung ans Tote im Dienste der
Selbsterhaltung nicht mehr wie Magie durch körperliche Nachahmung der
äußeren Natur, sondern durch Automatisierung der geistigen Prozesse,
durch ihre Umwandlung in blinde Abläufe. Mit ihrem Triumph werden die
menschlichen Äußerungen sowohl beherrschbar als zwangsmäßig. Von der
Angleichung an die Natur bleibt allein die Verhärtung gegen diese übrig.
Die Schutz- und Schreckfarbe heute ist die blinde Naturbeherrschung, die
mit der weitblickenden Zweckhaftigkeit identisch ist.
In der bürgerlichen Produktionsweise wird das untilgbar mimetische Erbe
aller Praxis dem Vergessen überantwortet. Das erbarmungslose Verbot des
Rückfalls wird selber zum bloßen Verhängnis, die Versagung ist so total
geworden, daß sie nicht mehr zum bewußten Vollzug gelangt. Die von
Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen
Züge erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen
begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der
rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur
allzu vertraut. Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation
unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen,
Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitgemäße jener Regungen. Sie
scheinen die längst verdinglichten menschlichen Beziehungen wieder in
persönliche Machtverhältnisse zurückzuübersetzen, indem sie den Käufer
durch Schmeicheln, den Schuldner durch Drohen, den Gläubiger durch
Flehen zu erweichen suchen. Peinlich wirkt schließlich jede Regung
überhaupt, Aufregung ist minder. Aller nicht-manipulierte Ausdruck
erscheint als die Grimasse, die der manipulierte - im Kino, bei der
Lynchjustiz, in der Führer-Rede - immer war. Die undisziplinierte Mimik
aber ist das Brandzeichen der alten Herrschaft, in die lebende Substanz
der Beherrschten eingeprägt und kraft eines unbewußten
Nachahmungsprozesses durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen
vererbt, vom Trödeljuden auf den Bankier. Solche Mimik fordert die Wut
heraus, weil sie angesichts der neuen Produktionsverhältnisse die alte
Angst zur Schau trägt, die man, um in ihnen zu überleben, selbst
vergessen mußte. Auf das zwangshafte Moment, auf die Wut des Quälers und
des Gequälten, die ungeschieden in der Grimasse wieder erscheinen,
spricht die eigene Wut im Zivilisierten an. Dem ohnmächtigen Schein
antwortet die tödliche Wirklichkeit, dem Spiel der Ernst.
Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Arbeit zu tun,
lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem Ernst des Daseins zu
entziehen, indem sie ihn fessellos eingesteht: so ist sie unecht. Aber
Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, ehe
laut wird in der Klage. Er ist stets übertrieben, wie aufrichtig er auch
sei, denn, wie in jedem Werk der Kunst, scheint in jedem Klagelaut die
ganze Welt zu liegen. Angemessen ist nur die Leistung. Sie und nicht
Mimesis vermag dem Leiden Abbruch zu tun. Aber ihre Konsequenz ist das
unbewegte und ungerührte Antlitz, schließlich am Ende des Zeitalters das
Babygesicht der Männer der Praxis, der Politiker, Pfaffen,
Generaldirektoren und Racketeers. Die heulende Stimme faschistischer
Hetzredner und Lagervögte zeigt die Kehrseite desselben
gesellschaftlichen Sachverhalts. Das Geheul ist so kalt wie das
Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der Natur und machen ihn zum
Element ihrer Technik. Ihr Gebrüll ist fürs Pogrom, was die
Lärmvorrichtung für die deutsche Fliegerbombe ist: der Schreckensschrei,
der Schrecken bringt, wird angedreht. Vom Wehlaut des Opfers, der zuerst
Gewalt beim Namen rief, ja, vom bloßen Wort, das die Opfer meint:
Franzose, Neger, Jude, lassen sie sich absichtlich in die Verzweiflung
von Verfolgten versetzen, die zuschlagen müssen. Sie sind das falsche
Konterfei der schreckhaften Mimesis. Sie reproduzieren die
Unersättlichkeit der Macht in sich, vor der sie sich fürchten. Alles
soll gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Existenz des
anderen ist das Ärgernis. Jeder andere "macht sich breit" und muß in
seine Schranken verwiesen werden, die des schrankenlosen Graues. Was
Unterschlupf sucht, soll ihn nicht finden; denen, die ausdrücken, wonach
alle süchtig sind, den Frieden, die Heimat, die Freiheit: den Nomaden
und Gauklern hat man seit je das Heimatrecht vermehrt. Was einer
fürchtet, wird ihm angetan. Selbst die letzte Ruhe soll keine sein. Die
Verwüstung der Friedhöfe ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie
ist er selbst. Die Vertriebenen erwecken zwangshaft die Lust zu
vertreiben. Am Zeichen, das Gewalt an ihnen hinterlassen hat, entzündet
endlos sich Gewalt. Getilgt soll werden, was bloß vegetieren will. In
den chaotisch-regelhaften Fluchtreaktionen der niederen Tiere, in den
Figuren des Gewimmels, in den konvulsivischen Gesten von Gemarterten
stellt sich dar, was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz
beherrschen läßt: der mimetische Impuls. Im Todeskampf der Kreatur, am
äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich
als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch. Dagegen richtet sich
die Idiosynkrasie, die der Antisemitismus als Motiv vorgibt.
Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist
solche rationalisierte Idiosynkrasie. Alle die Vorwände, in denen Führer
und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige
Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen
Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht leiden und
imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge,
nachzuahmen, was ihm Jude heißt. Das sind immer selbst mimetische
Chiffren: die argumentierende Handbewegung, der singende Tonfall, wie er
unabhängig vom Urteilssinn ein bewegtes Bild von Sache und Gefühl malt,
die Nase, das physiognomische principium individuationis, ein
Schriftzeichen gleichsam, das dem Einzelnen den besonderen Charakter ins
Gesicht schreibt. In den vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die
alte Sehnsucht nach dem Unteren fort, nach der unmittelbaren Vereinigung
mit umgebender Natur, mit Erde und Schlamm. Von allen Sinnen zeugt der
Akt des Reichens, das angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am
sinnlichsten von dem Drang, ans andere sich zu verlieren und gleich zu
werden. Darum ist Geruch, als Wahrnehmung wie als Wahrgenommenes - beide
werden eins im Vollzug - mehr Ausdruck als andere Sinne. Im Sehen bleibt
man, wer man ist, im Riechen geht man auf. So gilt der Zivilisation
Geruch als Schmach, als Zeichen niederer sozialer Schichten, minderer
Rassen und unedler Tiere. Dem Zivilisierten ist Hingabe an solche Lust
nur gestattet, wenn das Verbot durch Rationalisierung im Dienst wirklich
oder scheinbar praktischer Zwecke suspendiert wird. Man darf dem
verpönten Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner
Ausrottung gilt. Das ist die Erscheinung des Spaßes oder des Ulks. Er
ist die elende Parodie der Erfüllung. Als verachtete, sich selbst
verachtende, wird die mimetische Funktion hämisch genossen. Wer Gerüche
wittert, um sie zu tilgen, "schlechte" Gerüche, darf das Schnuppern nach
Herzenslust nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude hat.
Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte
Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie
durchgelassen. Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein.
Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweise. Um den Augenblick
der autoritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln sich
die Antisemiten, er allein macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die
Gemeinschaft der Artgenossen. Ihr Getöse ist das organisierte Gelächter.
Je grauenvoller Anklagen und Drohungen, je größer die Wut, um so
zwingender zugleich der Hohn. Wut, Hohn und vergiftete Nachahmung sind
eigentlich dasselbe. Der Sinn des faschistischen Formelwesens, der
ritualen Disziplin, der Uniformen und der gesamten vorgeblich
irrationalen Apparatur ist es, mimetisches Verhalten zu ermöglichen. Die
ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären Bewegung eigen
sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag,
das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind ebensoviel
organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der Mimesis.
Der Führer mit dem Schmierengesicht und dem Charisma der andrehbaren
Hysterie führt den Reigen. Seine Vorstellung leistet stellvertretend und
im Bilde, was allen anderen in der Realität vermehrt ist. Hitler kann
gestikulieren wie ein Clown, Mussolini falsche Töne wagen wie ein
Provinztenor, Goebbels geläufig reden wie der jüdische Agent, den er zu
ermorden empfiehlt, Coughlin Liebe predigen wie nur der Heilend, dessen
Kreuzigung er darstellt, auf daß stets wieder Blut vergossen werde. Der
Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der
unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft
nutzbar zu machen strebt. Dieser Mechanismus
bedarf der Juden. Ihre künstlich gesteigerte Sichtbarkeit wirkt auf den
legitimen Sohn der gentilen Zivilisation gleichsam als magnetisches
Feld. Indem der Verwurzelte an seiner Differenz vom Juden die
Gleichheit, das Menschliche, gewahrt, wird in ihm das Gefühl des
Gegensatzes, der Fremdheit, induziert. So werden die tabuierten, der
Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung zuwiderlaufenden Regungen in
konformierende Idiosynkrasien umgesetzt. Die ökonomische Position der
Juden, der letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie,
bietet dagegen keinen zuverlässigen Schutz. Da sie zur Erzeugung jener
seelischen Induktionsströme so geeignet sind, werden sie zu solchen
Funktionen willenlos bereitgestellt. Sie teilen das Schicksal der
rebellierenden Natur, für die sie der Faschismus einsetzt: sie werden
blind und scharfsichtig gebraucht. Es verschlägt wenig, ob die Juden als
Individuen wirklich noch jene mimetischen Züge tragen, die böse
Ansteckung bewirken, oder ob sie jeweils unterschoben werden. Haben die
ökonomischen Machthaber ihre Angst vor der Heranziehung faschistischer
Sachwalter erst einmal überwunden, so stellt sich den Juden gegenüber
die Harmonie der Volksgemeinschaft automatisch her. Sie werden von der
Herrschaft preisgegeben, wenn diese kraft ihrer fortschreitenden
Entfremdung von Natur in bloße Natur zurückschlägt. Den Juden insgesamt
wird der Vorwurf der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht.
Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüste der
Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren
eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der
zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als
rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann
real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch
den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen Phantasien jüdischer
Verbrechen, der Kindermorde und sadistischen Exzesse, der
Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den
antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung
zurück. Ist es einmal so weit, dann erscheint das bloße Wort Jude als
die blutige Grimasse, deren Abbild die Hakenkreuzfahne - Totenschädel
und gerädertes Kreuz in einem - entrollt; daß einer Jude heißt, wirkt
als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht.
Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in
bloße Natur verwandelt. Die Juden selber haben
daran durch die Jahrtausende teilgehabt, mit Aufklärung nicht weniger
als mit Zynismus. Das älteste überlebende Patriarchat, die Inkarnation
des Monotheismus, haben sie die Tabus in zivilisatorische Maximen
verwandelt, da die anderen noch bei der Magie hielten. Den Juden schien
gelungen, worum das Christentum vergebens sich mühte: die Entmächtigung
der Magie vermöge ihrer eigenen Kraft, die als Gottesdienst sich wider
sich selber kehrt. Sie haben die Angleichung an Natur nicht sowohl
ausgerottet als sie aufgehoben in den reinen Pflichten des Rituals.
Damit haben sie ihr das versöhnende Gedächtnis bewahrt, ohne durchs
Symbol in Mythologie zurückzufallen. So gelten sie der fortgeschrittenen
Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran, für ähnlich und
unähnlich, für gescheit und dumm. Sie werden dessen schuldig gesprochen,
was sie, als die ersten Bürger, zuerst in sich gebrochen haben: der
Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und Erde, des
Bilderdienstes. Weil sie den Begriff des Koscheren erfunden haben,
werden sie als Schweine verfolgt. Die Antisemiten machen sich zu
Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da
sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.
VI Vgl. Freud, Das
Unheimliche. Gesammelte Werke. Band XII, S. 254, 259 u. a. Kant,
Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S. 180 f.
Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Band IX. S. 91.
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