Elemente des
Antisemitismus - Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der
Aufklärung - Philosophische Fragmente. Elektronische Quelle:
http://www.nadir.org
VI Der Antisemitismus
beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten
Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische
Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der
Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich
ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich
anschmiegt, das Fremde zum 'Vertrauten, so versetzt diese das
sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als
Feind. Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen
werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem
prospektiven Opfer. Dem gewöhnlichen Paranoiker steht dessen Wahl nicht
frei, sie gehorcht den Gesetzen seiner Krankheit. Im Faschismus wird
dies Verhalten von Politik ergriffen, das Objekt der Krankheit wird
realitätsgerecht bestimmt, das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der
Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht. Der Mechanismus, den die
totalitäre Ordnung in Dienst nimmt, ist so alt wie die Zivilisation.
Dieselben geschlechtlichen Regungen, die das Menschengeschlecht
unterdrückte, wußten bei Einzelnen wie bei Völkern in der
vorstellungsmäßigen Verwandlung der Umwelt in ein diabolisches System
sich zu erhalten und durchzusetzen. Stets hat der blind Mordlustige im
Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr
treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben den schwächsten Nachbarn
als unerträgliche Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen. Die
Rationalisierung war eine Finte und zwangshaft zugleich. Der als Feind
Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen. Die Störung liegt in der
mangelnden Unterscheidung des Subjekts zwischen dem eigenen und fremden
Anteil am projizierten Material.
In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren. Die
Projektion von Eindrücken der Sinne ist ein Vermächtnis der tierischen
Vorzeit, ein Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß,
verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, mit der die höheren Tierarten,
lustvoll und unlustvoll, auf Bewegung reagierten, unabhängig von der
Absicht des Objekts. Projektion ist im Menschen automatisiert wie andere
Angriffs- und Schutzleistungen, die Reflexe wurden. So konstituiert sich
seine gegenständliche Welt, als Produkt jener "verborgenen Kunst in den
Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur
schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden".
Das System der Dinge, das feste Universum, von dem die Wissenschaft bloß
den abstrakten Abdruck bildet, ist, wenn man die kantische
Erkenntniskritik anthropologisch, das bewußtlos zustandekommende
Erzeugnis des tierischen Werkzeugs im Lebenskampf, jener selbsttätigen
Projektion. In der menschlichen Gesellschaft aber, wo mit der
Herausbildung des Individuums das affektive wie das intellektuelle Leben
sich differenziert, bedarf der Einzelne steigender Kontrolle der
Projektion, er muß sie zugleich verfeinern und hemmen lernen. Indem er
unter ökonomischem Zwang zwischen fremden und eigenen Gedanken und
Gefühlen unterscheiden lernt, entsteht der Unterschied von außen und
innen, die Möglichkeit von Distanzierung und Identifikation, das
Selbstbewußtsein und das Gewissen. Um die in Kontrolle genommene
Projektion und ihre Entartung zur falschen zu verstehen, die zum Wesen
des Antisemitismus gehört, bedarf es der genaueren Überlegung.
Die physiologische Lehre von der Wahrnehmung, die von den Philosophen
seit dem Kantianismus als naiv realistisch und als Zirkelschluß
verachtet wurde, erklärt die Wahrnehmungswelt als die vom Intellekt
gelenkte Rückspiegelung der Daten, die das Gehirn von den wirklichen
Gegenständen empfängt. Nach dieser Ansicht erfolgt die Anordnung der
aufgenommenen punktuellen Indizes, der Eindrücke, durch Verstand.
Beharren auch die Gestaltleute darauf, daß die physiologische Substanz
nicht bloß Punkte sondern schon Struktur empfange, so haben Schopenhauer
und Helmholtz trotz und gerade wegen des Zirkels doch mehr von der
Beziehung von Subjekt und Objekt gewußt als die offizielle
Folgerichtigkeit der Schule, der neupsychologischen wie der
neukantischen: das Wahrnehmungsbild enthält in der Tat Begriffe und
Urteile. Zwischen dem wahrhaften Gegenstand und dem unbezweifelbaren
Sinnesdatum, zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das
Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muß. Um das Ding zu spiegeln,
wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält.
Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die
sie in seinen Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dinges in seinen
mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit
rückwirkend das Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den
von diesen allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische
Einheit zu verleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste
konstante Projektionsprodukt. In einem Prozeß, der geschichtlich erst
mit den entfalteten Kräften der menschlichen physiologischen
Konstitution sich vollziehen konnte, hat es als einheitliche und
zugleich exzentrische Funktion sich entfaltet. Auch als selbständig
objektiviertes freilich ist es nur, was ihm die Objektwelt ist. In
nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren
Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die
Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es,
positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben,
so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem
grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer
Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. Nur in der Vermittlung,
in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität
bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos
dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit
überwunden, in der die ganze Natur befangen ist. Nicht in der vom
Gedanken unangekränkelten Gewißheit, nicht in der vorbegrifflichen
Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten
Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an. Die
Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Außenwelt im eigenen
Bewußtsein hat und da als anderes erkennt. Daher vollzieht sich jenes
Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewußte Projektion.
Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive
Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin. Indem
das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt zurückzugeben, was es von ihm
empfangen hat, wird es selbst nicht reicher sondern ärmer. Es verliert
die Reflexion nach beiden Richtungen: da es nicht mehr den Gegenstand
reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die
Fähigkeit zur Differenz. Anstatt der Stimme des Gewissens hört es
Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Protokoll der eigenen
Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Protokolle der Weisen von Zion
den andern zu. Es schwillt über und verkümmert zugleich. Grenzenlos
belohnt es die Außenwelt mit dem, was in ihm ist; aber womit es sie
belehnt, ist das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte bloße Mittel,
Beziehungen, Machenschaften, die finstere Praxis ohne den Ausblick des
Gedankens. Herrschaft selber, die, auch als absolute, dem Sinn nach
immer nur Mittel ist, wird in der hemmungslosen Projektion zugleich zum
eigenen und zum fremden Zweck, ja zum Zweck überhaupt. In der Erkrankung
des Individuums wirkt der geschärfte intellektuelle Apparat des Menschen
gegen Menschen wieder als das blinde Feindwerkzeug der tierischen
Vorzeit, als das bei der Gattung er gegen die ganze übrige Natur zu
funktionieren nie aufgehört hat. Wie seit ihrem Aufstieg die species
Mensch den anderen sich zeigt, als die entwicklungsgeschichtlich höchste
und daher furchtbarste Vernichtung, wie innerhalb der Menschheit die
fortgeschritteneren Rassen den primitiveren, die technisch besser
ausgerüsteten Völker den langsameren, so tritt der kranke Einzelne dem
anderen Einzelnen gegenüber, im Größen- wie im Verfolgungswahn. Beide
Male ist das Subjekt im Zentrum, die Welt bloße Gelegenheit für seinen
Wahn; sie wird zum ohnmächtigen oder allmächtigen Inbegriff des auf sie
Projizierten. Der Widerstand, über den der Paranoiker bei jedem Schritt
wahllos sich beklagt, ist die Folge der Widerstandslosigkeit, der Leere,
die der sich Abblendende rings erzeugt. Er kann nicht aufhören. Die
Idee, die keinen festen Halt an der Realität findet, insistiert und wird
zur fixen. Indem der Paranoiker die Außenwelt
nur perzipiert, wie es seinen blinden Zwecken entspricht, vermag er
immer nur sein zur abstrakten Sucht entäußertes Selbst zu wiederholen.
Das nackte Schema der Macht als solcher, gleich überwältigend gegen
andere wie gegen das eigene mit sich zerfallene Ich, ergreift, was sich
ihm bietet, und fügt es, ganz gleichgültig gegen seine Eigenart, in sein
mythisches Gewebe ein. Die Geschlossenheit des Immergleichen wird zum
Surrogat von Allmacht. Es ist, als hätte die Schlange, die den ersten
Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im Paranoiker ihr Versprechen
eingelöst. Er schafft alle nach seinem Bilde. Keines Lebendigen scheint
er zu bedürfen und fordert doch, daß alle ihm dienen sollen. Sein Wille
durchdringt das All, nichts darf der Beziehung zu ihm entbehren. Seine
Systeme sind lückenlos. Als Astrologe stattet er die Sterne mit Kräften
aus, die das Verderben des Sorglosen herbeiführen, sei es im
vorklinischen Stadium des fremden, sei es im klinischen des eigenen
Ichs. Als Philosoph macht er die Weltgeschichte zur Vollstreckerin
unausweichlicher Katastrophen und Untergänge. Als vollendet Wahnsinniger
oder absolut Rationaler vernichtet er den Gezeichneten durch
individuellen Terrorakt oder durch die wohlüberlegte Strategie der
Ausrottung. So hat er Erfolg. Wie Frauen den umgerührten paranoiden Mann
anbeten, sinken die Völker vor dem totalitären Faschismus in die Knie.
In den Hingegebenen selber spricht das Paranoische auf den Paranoiker
als den Unhold an, die Angst vor dem Gewissen aufs Gewissenlose, dem sie
dankbar sind. Sie folgen dem, der an ihnen vorbeisieht, der sie nicht
als Subjekte nimmt, sondern dem Betrieb der vielen Zwecke überläßt. Mit
aller Welt haben jene Frauen die Besetzung großer und kleiner
Machtpositionen zu ihrer Religion gemacht und sich selbst zu den bösen
Dingen, zu denen die Gesellschaft sie stempelt. So muß der Blick, der
sie Freiheit mahnt, sie als der des allzu naiven Verführers treffen.
Ihre Welt ist verkehrt. Zugleich aber wissen sie wie die alten Götter,
die den Blick ihrer Gläubigen scheuten, daß hinter dem Schleier Totes
wohnt. Im nicht paranoischen, im vertrauenden Blick werden sie jenes
Geistes eingedenk, der in ihnen erstorben ist, weil sie draußen bloß die
kalten Mittel ihrer Selbsterhaltung sehen. Solche Berührung weckt in
ihnen Scham und Wut. Der Irre jedoch erreicht sie nicht, selbst wenn er
wie der Führer ihnen ins Antlitz blickt. Er entflammt sie bloß. Der
sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der freie die
Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur einseitigen Treue
indem er sie fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person weist. Er
weckt nicht das Gewissen, sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der
durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der
nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt
ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die
Reflexionslosen davon elektrisiert. Sie werden verraten: die Frauen
weggeworfen, die Nation ausgebrannt. So bleibt der Verschlossene das
Spottbild der göttlichen Gewalt. Wie ihm in seiner souveränen Gebärde
das schaffende Vermögen in der Realität ganz abgeht, so fehlen ihm
gleich dem Teufel die Attribute des Prinzips, das er usurpiert:
eingedenkende Liebe und in sich ruhende Freiheit. Er ist böse, von Zwang
getrieben und so schwach wie seine Stärke. Wenn es von der göttlichen
Allmacht heißt, sie ziehe das Geschöpf zu sich, so zieht die satanische,
eingebildete alles in ihre Ohnmacht hinein. Das ist das Geheimnis ihrer
Herrschaft. Das zwangshaft projizierende Selbst kann nichts projizieren
als das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnendem Grund es doch
in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist. Daher sind die Produkte
der falschen Projektion, die stereotypen Schemata des Gedankens und der
Realität, solche des Unheils. Dem Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner
selbst versinkt, werden die Gegenstände zu Allegorien des Verderbens, in
denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt.
Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren
Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des
Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs
projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst
gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt
und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere
loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem
angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche
Notwehr. Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller
Art. Aus Angst vor der Kastration wurde der Gehorsam gegen den Vater bis
zu deren Vorwegnahme in der Angleichung des bewußten Gefühlslebens ans
kleine Mädchen getrieben und der Vaterhaß als ewige Ranküne verdrängt.
In der Paranoia treibt dieser Haß zur Kastrationslust als archaische
Ungeschiedenheit von Liebe und Überwältigung. Ihm kommt es auf physische
Nähe, Beschlagnahmen, schließlich auf die Beziehung um jeden Preis an.
Da er die Begierde sich nicht zugestehen darf, rückt er dem anderen als
Eifersüchtiger oder Verfolger auf den Leib, wie dem Tier der
verdrängende Sodomit als Jäger oder Antreiber. Die Anziehung stammt aus
allzu gründlicher Bindung oder stellt sich her auf den ersten Blick, sie
kann von den Großen ausgehen wie beim Querulanten und Präsidententmörder
oder von den Ärmsten wie beim echten Pogrom. Die Objekte der Fixierung
sind substituierbar wie die Vaterfiguren in der Kindheit; wohin es
trifft, trifft es; noch der Beziehungswahn greift beziehungslos um sich.
Die pathische Projektion ist eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs,
dessen Reizschutz Freud zufolge nach innen unendlich viel schwächer als
nach außen ist: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression
vergißt er seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste
Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und erfährt jene Aggression als
den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein.
Dieser Druck aber lastet auch auf dem gesunden Erkenntnisvorgang als
Moment von dessen unreflektierter und zur Gewalt treibender Naivität. Wo
immer die intellektuellen Energien absichtsvoll aufs Draußen
konzentriert sind, also überall, wo es ums Verfolgen, Feststellen,
Ergreifen zu tun ist, um jene Funktionen, die aus der primitiven
Überwältigung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der
Naturbeherrschung sich vergeistigt habe, wird in der Schematisierung
leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System als die Sache
selbst gesetzt. Das vergegenständlichende Denken enthält wie das kranke
die Willkür des der Sache fremden subjektiven Zwecks, es vergißt die
Sache und tut ihr eben damit schon die Gewalt an, die ihr später in der
Praxis geschieht. Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit,
der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns,
der die Natur entvölkert und am Ende die Völker selbst. In jenem Abgrund
der Ungewißheit, den jeder obktivierende Akt überbrücken muß, nistet
sich die Paranoia ein. Weil es kein absolut zwingendes Argument gegen
materialfalsche Urteile gibt, läßt die verzerrte Wahrnehmung, in der sie
begriffliche, wie jedes Urteil unaufgehellt phänomenalistische Elemente.
Weil also zur Wahrheit Einbildungskraft gehört, kann es dem an dieser
Beschädigten stets vorkommen, als ob die Wahrheit phantastisch und seine
Illusion die Wahrheit sei. Der Beschädigte zehrt von dem der Wahrheit
selbst immanenten Element der Einbildung, indem er es unablässig
exponiert. Demokratisch besteht er auf der Gleichberechtigung für seinen
Wahn, weil in der Tat auch die Wahrheit nicht stringent ist. Wenn der
Bürger schon zugibt, daß der Antisemit im Unrecht ist, so will er
wenigstens, daß auch das Opfer schuldig sei. So verlangt Hitler die
Lebensberechtigung für den Massenmord im Namen des völkerrechtlichen
Prinzips der Souveränität, das jede Gewalttat im anderen Lande
toleriert. Wie jeder Paranoiker profitiert er von der gleißnerischen
Identität von Wahrheit und Sophistik; ihre Trennung ist so wenig
zwingend, wie sie doch streng bleibt. Wahrnehmung ist nur möglich,
insofern das Ding schon als bestimmtes, etwa als Fall einer Gattung
wahrgenommen wird. Sie ist vermittelte Unmittelbarkeit, Gedanke in der
verführerischen Kraft der Sinnlichkeit. Subjektives wird von ihr blind
in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt. Einzig die
ihrer selbst bewußte Arbeit des Gedankens kann sich diesem
Halluzinatorischen wieder entziehen, dem Leibniz'schen und Hegelschen
Idealismus zufolge die Philosophie. Indem der Gedanke im Gang der
Erkenntnis die in der Wahrnehmung unmittelbar gesetzten und daher
zwingenden Begriffsmomente als begriffliche identifiziert, nimmt er sie
stufenweise ins Subjekt zurück und entkleidet sie der anschaulichen
Gewalt. In solchem Gange erweist sich jede frühere Stufe, auch die der
Wissenschaft, gegenüber der Philosophie noch gleichsam als Wahrnehmung,
als ein mit unerkannten intellektuellen Elementen durchsetztes,
entfremdetes Phänomen; dabei zu verharren, ohne Negation, gehört der
Pathologie der Erkenntnis zu. Der naiv Verabsolutierende, und sei er
noch so universal tätig, ist ein Leidender, er unterliegt der
verblendenden Macht falscher Unmittelbarkeit.
Solche Verblendung aber ist ein konstitutives Element jeglichen Urteils,
ein notwendiger Schein. Jedes Urteil, auch das negative, ist
versichernd. Wie sehr auch ein Urteil zur Selbstkorrektur seine eigenen
wenn auch noch so vorsichtig formulierten Inhalt, das Behauptete, als
nicht bloß isoliert und relativ behaupten. Darin besteht sein Wesen als
Urteil, in der Klausel verschanzt sich bloß der Anspruch. Die Wahrheit
hat keine Grade wie die Wahrscheinlichkeit. Der negierende Schritt über
das einzelne Urteil hinaus, der seine Wahrheit rettet, ist möglich nur,
sofern es sich selbst für wahr nahm und sozusagen paranoisch war. Das
wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren, in der Unfähigkeit des
Gedankens zu solcher Negativität, in welcher entgegen dem verfestigten
Urteil das Denken recht eigentlich besteht. Die paranoische
Überkonsequenz, die schlechte Unendlichkeit des immergleichen Urteils,
ist ein Mangel an Konsequenz des Denkens; anstatt das Scheitern des
absoluten Anspruchs gedanklich zu vollziehen und dadurch sein Urteil
weiter zu bestimmen, verbeißt der Paranoiker sich in dem Anspruch, der
es scheitern ließ. Anstatt weiter zu gehen, indem es in die Sache
eindringt, tritt das ganze Denken in den hoffnungslosen Dienst des
partikularen Urteils. Dessen Unwiderstehlichkeit ist dasselbe wie seine
ungebrochene Positivität und die Schwäche des Paranoikers die des
Gedankens selbst. Die Besinnung nämlich, die beim Gesunden die Macht der
Unmittelbarkeit bricht, ist nie so zwingend wie der Schein, den sie
aufhebt. Als negative, reflektierte, nicht geradeaus gerichtete Bewegung
entbehrt sie der Brutalität, die dem Positiven innewohnt. Wenn die
psychische Energie der Paranoia aus jener libidinösen Dynamik stammt,
welche die Psychoanalyse bloßlegt, so ist ihre objektive
Unangreifbarkeit in der Vieldeutigkeit begründet, die vom
vergegenständlichenden Akt gar nicht abzulösen ist; ja, dessen
halluzinatorische Gewalt wird ursprünglich entscheidend gewesen sein. In
der Sprache der Selektionstheorie ließe sich verdeutlichend sagen, es
hätten während der Entstehungsperiode des menschlichen Sensoriums jene
Individuen überlebt, bei denen die Kraft der Projektionsmechanismen am
weitesten in die rudimentären logischen Fähigkeiten hineinreichte, oder
am wenigsten durch allzu frühe Ansätze der Reflexion gemindert war. Wie
noch heute praktisch fruchtbare wissenschaftliche Unternehmungen der
unangekränkelten Fähigkeit zur Definition bedürfen, der Fähigkeit, den
Gedanken an einer durchs gesellschaftliche Bedürfnis designierten Stelle
stillzulegen, ein Feld abzugrenzen, das dann bis ins kleinste
durchforscht wird, ohne daß man es transzendierte, so vermag der
Paranoiker einen durch sein psychologisches Schicksal designierten
Interessenkomplex nicht zu überschreiten. Sein Scharfsinn verzehrt sich
in dem von der fixen Idee gezogenen Kreis, wie das Ingenium der
Menschheit im Bann der technischen Zivilisation sich selbst liquidiert.
Die Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis.
So verhängnisvoll wohnt die Bereitschaft zur falschen
Projektion dem Geiste ein, daß sie, das isolierte Schema der
Selbsterhaltung, alles zu beherrschen droht, was über diese hinausgeht:
die Kultur. Falsche Projektion ist der Usurpator des Reiches der
Freiheit wie der Bildung; Paranoia ist das Symptom des Halbgebildeten.
Ihm werden alle Worte zum Wahnsystem, zum Versuch, durch Geist zu
besetzen, woran seine Erfahrung nicht heranreicht, gewalttätig der Welt
Sinn zu geben, die ihn selber sinnlos macht, zugleich aber den Geist und
die Erfahrung zu diffamieren, von denen er ausgeschlossen ist, und ihnen
die Schuld aufzubürden, welche die Gesellschaft trägt, die ihn davon
ausschließt. Halbbildung, die im Gegensatz zur bloßen Unbildung das
beschränkte Wissen als Wahrheit hypostasiert, kann den ins Unerträgliche
gesteigerten Bruch von innen und außen, von individuellem Schicksal und
gesellschaftlichem Gesetz, von Erscheinung und Wesen nicht aushalten. In
diesem Leiden ist zwar ein Element von Wahrheit enthalten gegenüber dem
bloßen Hinnehmen des Gegebenen, auf das die überlegene Vernünftigkeit
sich vereidigt hat. Stereotyp jedoch greift Halbbildung in ihrer Angst
nach der ihr jeweils eigenen Formel, um bald das geschehene Unheil zu
begründen, bald die Katastrophe, zuweilen als Regeneration verkleidet,
vorherzusagen. Die Erklärung, in welcher der eigene Wunsch als objektive
Macht auftritt, ist immer so äußerlich und sinnleer, wie das isolierte
Geschehen selbst, läppisch zugleich und sinister. Die obskuren Systeme
heute leisten, was dem Menschen im Mittelalter der Teufelsmythos der
offiziellen Religion ermöglichte: die willkürliche Besetzung der
Außenwelt mit Sinn, die der einzelgängerische Paranoiker nach privatem,
von niemand geteiltem und eben deshalb erst als eigentlich verrückt
erscheinendem Schema zuwege bringt. Davon entheben die fatalen
Konventikel und Panazeen, die sich wissenschaftlich aufspielen und
zugleich Gedanken abschneiden: Theosophie, Numerologie, Naturheilkunde,
Eurhythmie, Abstinenzlertum, Yoga und zahllose andere Sekten,
konkurrierend und auswechselbar, alle mit Akademien, Hierarchien,
Fachsprachen, dem fetischisierten Formelwesen von Wissenschaft und
Religion. Sie waren, im Angesicht der Bildung, apokryph und
unrespektabel. Heute aber, wo Bildung überhaupt aus ökonomischen Gründen
abstirbt, sind in ungeahntem Maßstab neue Bedingungen für die Paranoia
der Massen gegeben. Die Glaubenssysteme der Vergangenheit, die von den
Völkern als geschlossen paranoide Formen ergriffen wurden, hatten
weitere Maschen. Gerade infolge ihrer rationalen Durchgestaltung und
Bestimmtheit ließen sie, wenigstens nach oben, Raum für Bildung und
Geist, deren Begriff ihr eigenes Medium war. Ja sie haben in gewisser
Weise der Paranoia entgegengewirkt. Freud nennt, hier sogar mit Recht,
die Neurosen "asoziale Bildungen" "sie suchen mit privaten Mitteln zu
leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand" Die
Glaubenssysteme halten etwas von dieser Kollektivität fest, welche die
Individuen vor der Erkrankung bewahrt. Diese wird sozialisiert: im
Rausch vereinter Ekstase, ja als Gemeinde überhaupt, wird Blindheit zur
Beziehung und der paranoische Mechanismus beherrschbar gemacht, ohne die
Möglichkeit des Schreckens zu verlieren. Vielleicht war das einer der
großen Beiträge der Religionen zur Selbsterhaltung der Art.
Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung von Bünden, Fronden
und Rackets. Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu
glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und
Proselytenmacherei. Zu anderen verhielt sich die etablierte Gruppe stets
paranoisch; die großen Reiche, ja die organisierte Menschheit als ganze
haben darin vor den Kopfjägern nichts voraus. Jene, die ohne eigenen
Willen von der Menschheit ausgeschlossen waren, wußten es, wie jene, die
aus Sehnsucht nach der Menschheit von ihr sich selbst ausschlossen: an
ihrer Verfolgung stärkte sich der krankhafte Zusammenhalt. Das normale
Mitglied aber löst seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven
ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten,
kollektiven, bestätigten Formen des Wahns. Der horror vacui, mit dem sie
sich ihren Bänden verschreiben, schweißt sie zusammen und verleiht ihnen
die fast unwiderstehliche Gewalt. Mit dem bürgerlichen Eigentum hatte
auch die Bildung sich ausgebreitet. Sie hatte die Paranoia in die
dunklen Winkel von Gesellschaft und Seele gedrängt. Da aber die reale
Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes
erfolgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete
Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde,
desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur
wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu
durchdringen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt
sich auf die Erfassung des isoliert Faktischen. Gedankliche
Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen.
Das Entwicklungsmoment im Gedanken, alles Genetische und Intensive
darin, wird vergessen und aufs unvermittelt Gegenwärtige, aufs Extensive
nivelliert. Die Lebensordnung heute läßt dem Ich keinen Spielraum für
geistige Konsequenzen. Der aufs Wissen abgezogene Gedanke wird
neutralisiert, zur bloßen Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten
und zur Steigerung des Warenwerts der Persönlichkeit eingespannt. So
geht jene Selbstbesinnung des Geistes zugrunde, die der Paranoia
entgegenarbeitet. Schließlich ist unter den Bedingungen des
Spätkapitalismus die Halbbildung zum objektiven Geist geworden. In der
totalitären Phase der Herrschaft ruft diese die provinziellen
Scharlatane der Politik und mit ihnen das Wahnsystem als ultima ratio
zurück und zwingt es der durch die große und die Kulturindustrie ohnehin
schon mürbe gemachten Mehrheit der Verwalteten auf. Der Widersinn der
Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen,
daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am Leben zu erhalten.
Nur Verfolgungswahnsinnige lassen sich die Verfolgung, in welche
Herrschaft übergehen muß, gefallen, indem sie andere verfolgen dürfen.
Ohnehin ist im Faschismus, wo die von bürgerlicher Zivilisation mühsam
gezüchtete Verantwortung für Weib und Kind hinter dem dauernden
Sichausrichten jedes Einzelnen nach dem Reglement wieder verschwindet,
das Gewissen liquidiert. Es bestand u en, in der Fähigkeit, das wahre
Anliegen der anderen zum eigenen zu machen. Diese Fähigkeit ist die zur
Reflexion als der Durchdringung von Rezeptivität und Einbildungskraft.
Indem die große Industrie durch Abschaffung des unabhängigen
ökonomischen Subjekts, teils durch Einziehung der selbständigen
Unternehmer, teils durch Transformation der Arbeiter in
Gewerkschaftsobjekte unaufhaltsam der moralischen Entscheidung den
wirtschaftlichen Boden entzieht, muß auch die Reflexion verkümmern.
Seele, als Möglichkeit zu dem sich selber offenen Gefühl der Schuld,
zergeht. Gewissen wird gegenstandslos, denn anstelle der Verantwortung
des Individuums für sich und die Seinen tritt, wenn auch unter dem alten
moralischen Titel, schlechtweg seine Leistung für den Apparat. Es kommt
nicht mehr zum Austrag des eigenen Triebkonflikts, in welchem die
Gewissensinstanz sich ausbildet. Statt der Verinnerlichung des
gesellschaftlichen Gebots, die es nicht nur verbindlicher und zugleich
geöffneter macht, sondern auch von der Gesellschaft emanzipiert, ja
gegen diese wendet, erfolgt prompte, unmittelbare Identifikation mit den
stereotypen Wertskalen. Die vorbildliche deutsche Frau, die das
Weibliche, und der echte deutsche Mann, der das Männliche gepachtet hat,
wie ihre anderwärtigen Versionen, sind Typen konformierender Asozialer.
Trotz und wegen der offenbaren Schlechtigkeit der Herrschaft ist diese
so übermächtig geworden, daß jeder Einzelne in seiner Ohnmacht sein
Schicksal nur durch blinde Fügsamkeit beschwören kann.
In solcher Macht bleibt es dem von der Partei gelenkten Zufall
überlassen, wohin die verzweifelte Selbsterhaltung die Schuld an ihrem
Schrecken projiziert. Vorbestimmt für solche Lenkung sind die Juden. Die
Zirkulationssphäre, in der sie ihre ökonomischen Machtpositionen
besaßen, ist im Schwinden begriffen. Die liberalistische Form des
Unternehmens hatte den zersplitterten Vermögen noch politischen Einfluß
gestattet. Jetzt werden die eben erst Emanzipierten den mit dem
Staatsapparat verschmolzenen, der Konkurrenz entwachsenen Kapitalmächten
ausgeliefert. Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein
mögen, ihr Bild, als das des Überwundenen, trägt die Züge, denen die
totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muß: des Glückes ohne
Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion
ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die
Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie
die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhaßten machen. Das gelingt
ihnen mittels der pathischen Projektion, denn auch der Haß führt zur
Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung. Er ist das Negativ der
Versöhnung. Versöhnung ist der höchste Begriff des Judentums und dessen
ganzer Sinn die Erwartung; der Unfähigkeit zu dieser entspringt die
paranoische Reaktionsform. Die Antisemiten sind dabei, ihr negativ
Absolutes aus eigner Macht zu verwirklichen, sie verwandeln die Welt in
die Hölle, als welche sie sie schon immer sahen. Die Umwendung hängt
davon ab, ob die Beherrschten im Angesicht des absoluten Wahnsinns ihrer
selbst mächtig werden und ihm Einhalt gebieten. In der Befreiung des
Gedankens von der Herrschaft, in der Abschaffung der Gewalt, könnte sich
erst die Idee verwirklichen, die bislang unwahr blieb, daß der Jude ein
Mensch sei. Es wäre der Schritt aus der antisemitischen Gesellschaft,
die den Juden wie die andern in die Krankheit treibt, zur menschlichen.
Solcher Schritt erfüllte zugleich die faschistische Lüge, als deren
eigenen Widerspruch: die Judenfrage erwies sich in der Tat als
Wendepunkt der Geschichte. Mit der Überwindung der Krankheit des
Geistes, die auf dem Nährboden der durch Reflexion ungebrochenen
Selbstbehauptung wuchert, würde die Menschheit aus der allgemeinen
Gegenrasse zu der Gattung, die als Natur doch mehr ist als bloße Natur,
indem sie ihres eigenen Bildes innewird. Die individuelle und
gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft ist die Gegenbewegung zur
falschen Projektion, und kein Jude, der diese je in sich zu
beschwichtigen wüßte, wäre noch dem Unheil ähnlich, das über ihn, wie
über alle Verfolgten, Tiere und Menschen, sinnlos hereinbricht.
VII Vgl. Freud,
Das Unheimliche. Gesammelte Werke. Band XII, S. 254, 259 u. a. Kant,
Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S. 180 f.
Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Band IX. S. 91.
hagalil.com 2007 |