Elemente des
Antisemitismus - Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der
Aufklärung - Philosophische Fragmente. Elektronische Quelle:
http://www.nadir.org
III Die heutige
Gesellschaft, in der religiöse Urgefühle und Renaissancen ebenso wie die
Erbmasse von Revolutionen am Markte feilstehen, in der die
faschistischen Führer hinter verschlossenen Türen Land und Leben der
Nationen aushandeln, während das gewiegte Publikum am Radioempfänger den
Preis nachrechnet, die Gesellschaft, in der noch das Wort, das sie
entlarvt, sich eben damit als Empfehlung zur Aufnahme in ein politisches
Racket legitimiert: diese Gesellschaft, in der nicht bloß mehr die
Politik ein Geschäft ist, sondern das Geschäft die ganze Politik - sie
entrüstet sich über das zurückgebliebene Händlergebaren des Juden und
bestimmt ihn als den Materialisten, den Schacherer, der dem Feuergeist
derer weichen soll, die das Geschäft zum Absoluten erhoben haben.
Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen
Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion. Waren in früheren
Epochen die Herrschenden unmittelbar repressiv, so daß sie den Unteren
nicht nur die Arbeit ausschließlich überließen, sondern die Arbeit als
die Schmach deklarierten, die sie unter der Herrschaft immer war, so
verwandelt sich im Merkantilismus der absolute Monarch in den größten
Manufakturherrn. Produktion wird hoffähig. Die Herren als Bürger haben
schließlich den bunten Rock ganz ausgezogen und Zivil angelegt. Arbeit
schändet nicht, sagten sie, um der der andern rationaler sich zu
bemächtigen. Sie selbst reihten sich unter die Schaffenden ein, während
sie doch die Raffenden blieben wie ehedem. Der Fabrikant wagte und
strich ein wie Handelsherr und Bankier. Er kalkulierte, disponierte,
kaufte, verkaufte. Am Markt konkurrierte er mit jenen um den Profit, der
seinem Kapital entsprach. Nur raffte er nicht bloß am Markt sondern an
der Quelle ein: als Funktionär der Klasse sorgte er dafür, daß er bei
der Arbeit seiner Leute nicht zu kurz kam. Die Arbeiter hatten so viel
wie möglich abzuliefern. Als der wahre Shylock bestand er auf seinem
Schein. Auf Grund des Besitzes der Maschinen und des Materials erzwang
er, daß die andern produzierten. Er nannte sich den Produzenten, aber er
wie jeder wußte insgeheim die Wahrheit. Die produktive Arbeit des
Kapitalisten, ob er seinen Profit mit dem Unternehmerlohn wie im
Liberalismus oder dem Direktorengehalt wie heute rechtfertigte, war die
Ideologie, die das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende Natur des
Wirtschaftssystems überhaupt zudeckte.
Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den
Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver
und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das
ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird. Der Fabrikant
hat seine Schuldner, die Arbeiter, in der Fabrik unter den Augen und
kontrolliert ihre Gegenleistung, ehe er noch das Geld vorstreckt. Was in
Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn sie sehen, was
sie dafür kaufen können: der kleinste Magnat kann über ein Quantum von
Diensten und Gütern verfügen wie kein Herrscher zuvor; die Arbeiter
jedoch erhalten das sogenannte kulturelle Minimum. Nicht genug daran,
daß sie am Markt erfahren, wie wenig Güter auf sie entfallen, preist der
Verkäufer noch an, was sie sich nicht leisten können. Im Verhältnis des
Lohns zu den Preisen erst drückt sich aus, was den Arbeitern
vorenthalten wird. Mit ihrem Lohn nahmen sie zugleich das Prinzip der
Entlöhnung an. Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem
Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs
ganze System und nimmt das Odium für die andern auf sich. Die
Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist
gesellschaftlich notwendiger Schein. Die Juden
hatten die Zirkulationssphäre nicht allein besetzt. Aber sie waren allzu
lange in sie eingesperrt, als daß sie nicht den Haß, den sie seit je
ertrugen, durch ihr Wesen zurückspiegelten. Ihnen war im Gegensatz zum
arischen Kollegen der Zugang zum Ursprung des Mehrwerts weithin
verschlossen. Zum Eigentum an Produktionsmitteln hat man sie nur schwer
und spät gelangen lassen. Freilich haben es die getauften Juden in der
Geschichte Europas und noch im deutschen Kaiserreich zu hohen Stellungen
in Verwaltung und Industrie gebracht. Immer jedoch hatten sie es mit
doppelter Ergebenheit, beflissenem Aufwand, hartnäckiger
Selbstverleugnung zu rechtfertigen. Man ließ sie heran nur, wenn sie
durch ihr Verhalten das Verdikt über die andern Juden stillschweigend
sich zueigneten und nochmals bestätigten: das ist der Sinn der Taufe.
Alle Großtaten der Prominenten haben die Aufnahme der Juden in die
Völker Europas nicht bewirkt, man ließ ihn keine Wurzeln schlagen und
schalt ihn darum wurzellos. Stets blieb er Schutzjude, abhängig von
Kaisern, Fürsten oder dem absolutistischen Staat. Sie alle waren einmal
ökonomisch avanciert gegenüber der zurückgebliebenen Bevölkerung. Soweit
sie den Juden als Vermittler brauchen konnten, schützten sie ihn gegen
die Massen, welche die Zeche des Fortschritts zu zahlen hatten. Die
Juden waren Kolonisatoren des Fortschritts. Seit sie als Kaufleute
römische Zivilisation im gentilen Europa verbreiten halfen, waren sie im
Einklang mit ihrer patriarchalen Religion die Vertreter städtischer,
bürgerlicher, schließlich industrieller Verhältnisse. Sie trugen
kapitalistische Existenzformen in die Lande und zogen den Haß derer auf
sich, die unter jenen zu leiden hatten. Um des wirtschaftlichen
Fortschritts willen, an dem sie heute zu Grunde gehen, waren die Juden
von Anbeginn den Handwerkern und Bauern, die der Kapitalismus
deklassierte, ein Dorn im Auge. Seinen ausschließenden, partikularen
Charakter erfahren sie nun an sich selber. Die immer die ersten sein
wollten, werden weit zurückgelassen. Selbst der jüdische Regent eines
amerikanischen Vergnügungstrusts lebt in seinem Glanz in hoffnungsloser
Defensive. Der Kaftan war das geisterhafte Überbleibsel uralter
Bürgertracht. Heute zeigt er an, daß seine Träger an den Rand der
Gesellschaft geschleudert wurden, die, selber vollends aufgeklärt, die
Gespenster ihrer Vorgeschichte austreibt. Die den Individualismus, das
abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur
Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, das ihnen die Qualität der
Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften,
heißen wieder Der Jude, ohne Unterschied. Auf das Bündnis mit der
Zentralgewalt blieb der Jude auch im neunzehnten Jahrhundert angewiesen.
Das allgemeine, vom Staat geschützte Recht war das Unterpfand seiner
Sicherheit, das Ausnahmegesetz sein Schreckbild. Er blieb Objekt, der
Gnade ausgeliefert, auch wo er auf dem Recht bestand. Der Handel war
nicht sein Beruf, er war sein Schicksal. Er war das Trauma des
Industrieritters, der sich als Schöpfer aufspielen muß. Aus dem
jüdischen Jargon hört er heraus, wofür er sich insgeheim verachtet: sein
Antisemitismus ist Selbstbaß, das schlechte Gewissen des Parasiten.
IV Vgl. Freud, Das
Unheimliche. Gesammelte Werke. Band XII, S. 254, 259 u. a. Kant,
Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S. 180 f.
Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Band IX. S. 91.
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