Elemente des
Antisemitismus - Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der
Aufklärung - Philosophische Fragmente. Elektronische Quelle:
http://www.nadir.org
IV Der völkische
Antisemitismus will von der Religion absehen. Er behauptet, es gehe um
Reinheit von Rasse und Nation. Sie merken, daß die Menschen der Sorge
ums ewige Heil längst entsagt haben. Der durchschnittliche Gläubige ist
heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden
vorzuwerfen, sie seien versteckte Ungläubige, bringt keine Masse mehr in
Bewegung. Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für
zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erlöschen. Eher
bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition
verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem
Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie. Religion ward als
Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben. Das Bündnis von Aufklärung
und Herrschaft hat dem Moment ihrer Wahrheit den Zugang zum Bewußtsein
abgeschnitten und ihre verdinglichten Formen konserviert. Beides kommt
zuletzt dem Faschismus zugute: die unbeherrschte Sehnsucht wird als
völkische Rebellion kanalisiert, die Nachfahren der evangelistischen
Schwarmgeister werden nach dem Modell der Wagnerschen Gralshüter in
Verschworene der Blutsgemeinschaft und Elitegarden verkehrt, die
Religion als Institution teils unmittelbar mit dem System verfilzt,
teils ins Gepränge von Massenkultur und Aufmärschen transponiert. Der
fanatische Glaube, dessen Führer und Gefolgschaft sich nähmen, ist kein
anderer als der verbissene, der früher die Verzweifelten bei der Stange
hielt, nur sein Inhalt ist abhanden gekommen. Von diesem lebt einzig
noch der Haß gegen die, welche den Glauben nicht teilen. Bei den
deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der
Antisemitismus. Das Christentum ist nicht bloß
ein Rückfall hinter das Judentum. Dessen Gott hat beim Übergang von der
henotheistischen in die universale Gestalt die Züge des Naturdämons noch
nicht völlig abgeworfen. Der Schrecken, der aus präanimistischer Vorzeit
stammt, geht aus der Natur in den Begriff des absoluten Selbst über, das
als ihr Schöpfer und Beherrscher die Natur vollends unterwirft. In all
seiner unbeschreiblichen Macht und Herrlichkeit, die ihm solche
Entfremdung verleiht, ist er doch dem Gedanken erreichbar, der eben
durch die Beziehung auf ein Höchstes, Transzendentes universal wird.
Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen, das
nicht bloß für ihren blinden Kreislauf einsteht wie alle mythischen
Götter, sondern aus ihm befreien kann. Aber in seiner Abstraktheit und
Ferne hat sich zugleich der Schrecken des Inkommensurablen verstärkt,
und das eherne Wort Ich bin, das nichts neben sich duldet, Überbietet an
unausweichlicher Gewalt den blinderen, aber darum auch vieldeutigeren
Spruch des anonymen Schicksals. Der Gott des Judentums fordert, was ihm
gebührt, und rechnet mit dem Säumigen ab. Er verstrickt sein Geschöpf
ins Gewebe von Schuld und Verdienst. Demgegenüber hat das Christentum
das Moment der Gnade hervorgehoben, das freilich im Judentum selber im
Bund Gottes mit den Menschen und in der messianischen Verheißung
enthalten ist. Es hat den Schrecken des Absoluten gemildert, indem die
Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet: der göttliche Mittler
wird mit einem menschlichen Namen gerufen und stirbt einen menschlichen
Tod. Seine Botschaft ist: Fürchtet euch nicht; das Gesetz zergeht vor
dem Glauben; größer als alle Majestät wird die Liebe, das einzige Gebot.
Aber kraft der gleichen Momente, durch welche das Christentum den Bann
der Naturreligion fortnimmt, bringt es die Idolatrie, als vergeistigte,
nochmals hervor. Um soviel wie das Absolute dem Endlichen genähert wird,
wird das Endliche verabsolutiert. Christus, der fleischgewordene Geist,
ist der vergottete Magier. Die menschliche Selbstreflexion im Absoluten,
die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist das proton pseudos. Der
Fortschritt über das Judentum ist mit der Behauptung erkauft, der Mensch
Jesus sei Gott gewesen. Gerade das reflektive Moment des Christentums,
die Vergeistigung der Magie ist schuld am Unheil. Es wird eben das als
geistigen Wesens ausgegeben, was vor dem Geist als natürlichen Wesens
sich erweist. Genau in der Entfaltung des Widerspruchs gegen solche
Prätention von Endlichem besteht der Geist. So muß das schlechte
Gewissen den Propheten als Symbol empfehlen, die magische Praxis als
Wandlung. Das macht das Christentum zur Religion, in gewissem Sinn zur
einzigen: zur gedanklichen Bindung ans gedanklich Suspekte, zum
kulturellen Sonderbereich. Wie die großen asiatischen Systeme war das
vorchristliche Judentum der vom nationalen Leben, von der allgemeinen
Selbsterhaltung kaum geschiedene Glaube. Die Umformung des heidnischen
Opferrituals vollzog sich weder bloß im Kultus noch bloß im Gemüt, sie
bestimmte die Form des Arbeitsvorganges. Als dessen Schema wird das
Opfer rational. Das Tabu wandelt sich in die rationale Regelung des
Arbeitsprozesses. Es ordnet die Verwaltung in Krieg und Frieden, das
Säen und Ernten, Speisebereitung und Schlächterei. Entspringen die
Regeln auch nicht aus rationaler Überlegung, so entspringt doch aus
ihnen Rationalität. Die Anstrengung, aus der unmittelbaren Furcht sich
zu befreien, schuf beim Primitiven die Veranstaltung des Rituals, sie
läutert sich im Judentum zum geheiligten Rhythmus des familiären und
staatlichen Lebens. Die Priester waren zu Wächtern darüber bestimmt, daß
der Brauch befolgt werde. Ihre Funktion in der Herrschaft war in der
theokratischen Praxis offenbar; das Christentum aber wollte geistlich
bleiben, auch wo es nach der Herrschaft trachtete. Es hat die
Selbsterhaltung durchs letzte Opfer, das des Gottmenschen, in der
Ideologie gebrochen, eben damit aber das entwertete Dasein der
Profanität überantwortet: das mosaische Gesetz wird abgeschafft, aber
dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben. Die weltliche Obrigkeit
wird bestätigt oder usurpiert, das Christliche als das konzessionierte
Heilsressort betrieben. Die Überwindung der Selbsterhaltung durch die
Nachahmung Christi wird verordnet. So wird die aufopfernde Liebe der
Naivität entkleidet, von der natürlichen getrennt und als Verdienst
gebucht. Die durchs Heilswissen vermittelte soll dabei doch die
unmittelbare sein; Natur und Übernatur seien in ihr versöhnt. Darin
liegt ihre Unwahrheit: in der trügerisch affirmativen Sinngebung des
Selbstvergessens.
Die Sinngebung ist trügerisch, weil zwar die Kirche davon
lebt, daß die Menschen in der Befolgung ihrer Lehre, fordere sie Werke,
wie die katholische oder den Glauben, wie die protestantische Version,
den Weg zur Erlösung sehen, aber doch das Ziel nicht garantieren kann.
Die Unverbindlichkeit des geistlichen Heilsversprechens, dieses jüdische
und negative Moment in der christlichen Doktrin, durch das Magie und
schließlich noch die Kirche relativiert ist, wird vom naiven Gläubigen
im stillen fortgewiesen, ihm wird das Christentum, der
Supranaturalismus, zum magischen Ritual, zur Naturreligion. Er glaubt
nur, indem er seinen Glauben vergißt. Er redet sich Wissen und Gewißheit
ein wie Astrologen und Spiritisten. Das ist nicht notwendig das
Schlechtere gegenüber der vergeistigten Theologie. Das italienische
Mütterchen, das dem heiligen Gennaro für den Enkel im Krieg in gläubiger
Einfalt eine Kerze weiht, mag der Wahrheit näher sein als die Popen und
Oberpfarrer, die frei vom Götzendienst die Waffen segnen, gegen die der
heilige Gennaro machtlos ist. Der Einfalt aber wird die Religion selbst
zum Religionsersatz. Die Ahnung davon war dem Christentum seit seinen
ersten Tagen beigesellt, aber nur die paradoxen Christen, die
antioffiziellen, von Pascal über Lessing und Kierkegaard bis Barth
machten sie zum Angelpunkt ihrer Theologie. In solchem Bewußtsein waren
sie nicht bloß die Radikalen sondern auch die Duldsamen. Die anderen
aber, die es verdrängten und mit schlechtem Gewissen das Christentum als
sicheren Besitz sich einredeten, mußten sich ihr ewiges Heil am
weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft
nicht brachten. Das ist der religiöse Ursprung des Antisemitismus. Die
Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehaßt als die,
welche es besser wissen. Es ist die Feindschaft des sich als Heil
verhärtenden Geistes gegen den Geist. Das Ärgernis für die christlichen
Judenfeinde ist die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu
rationalisieren und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf
und Heilsordnung festhält, die sie angeblich bewirken sollen. Der
Antisemitismus soll bestätigen, daß das Ritual von Glaube und Geschichte
recht hat, indem er es an jenen vollstreckt, die solches Recht
verneinen. V
Vgl. Freud, Das Unheimliche. Gesammelte Werke. Band XII, S. 254, 259 u.
a. Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S.
180 f.
Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Band IX. S. 91.
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