Besonderheiten sekundär antisemitischer Muster
5.3.1. Sekundär antisemitisch motivierter Antizionismus in der BRD
Ein letztes sekundär-antisemitisch konnotiertes Motiv, welches ich auch
aus Gründen seiner Relevanz in der politischen Bildungsarbeit gesondert
untersuchen werde, stellt der deutsche nicht-jüdische Antizionismus dar.
Dieser ist deutlich zu scheiden von einer inner-jüdischen Kritik am
Zionismus.
An der Oberfläche richtet sich antisemitischer Antizionismus gegen
tatsächliche oder vorgebliche Ungerechtigkeiten und Unterdrückung der
palästinensischen Bevölkerung in den von Israel besetzten Gebieten. Seinen
Entstehungszusammenhang hat der bundesdeutsche Antizionismus in der
politischen Linken, geht aber über diese hinaus, wie die Äußerungen des
inzwischen verstorbenen FDP-Politikers Jürgen W. Möllemann gezeigt haben. In
der politischen Bildungsarbeit begegnet man in Jugendgruppen, die sich
selbst als ‚links’ oder alternativ’ verstehen, rein affektiven
Solidarisierungen mit der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in Israel
und den besetzten Gebieten. Der antisemitisch motivierte Antizionismus ist
hierbei zu trennen von der realen Situation in Israel und den umliegenden
arabischen Staaten. Israel dient solcherart Antisemitismus allenfalls als
Projektionsfläche. Gültigkeit möchte ich den nachfolgenden Betrachtungen nur
zusprechen für autochthone Deutsche, deren Vorfahren im Wirkungszusammenhang
mit dem Holocaust gestanden haben.
Resultiert der sekundäre Antisemitismus aus Schuldabwehr und einer
infantilen Fixierung auf die Opfer von Auschwitz, so werden diese nicht nur
zur gefürchteten moralischen Instanz, sondern auch zu einer moralisch
positiv überhöhten. Deren Ausdrucksform als Philosemitismus hat
jahrzehntelang die offizielle Darstellung der Haltung der westdeutschen
Demokratie gegenüber allem Jüdischen bestimmt.
"Der Philosemitismus wurde zur moralischen Legitimierung des demokratischen
Charakters"
der Post-Holocaust Gesellschaft. Er ist aber eine dünne Deckideologie
geblieben, da er sich aus der gleichen Quelle speist wie offene sekundäre
Antisemitismus. Ein philosemitisches Bekenntnis zu Israel ist für die
deutsche Nachkriegslinke konstitutiv gewesen.
Vor allem gilt das für die sogenannte Neue Linke, die sich in Kritik am
Krieg in Vietnam und der autoritären Post-Holocaust Gesellschaft in den 60er
Jahren des vergangenen Jahrhunderts formiert hat.
"(D)ie stereotype Bewunderung von Israel und der israelischen Gesellschaft,
die Begeisterung für die Kibbuzim und die Heroisierung der jüdischen
Pioniere, sind Belege dafür, daß der Pro-Israelismus der Linken nicht nur
aus dem Bewußtsein politischer Verantwortung, sondern auch von Befangenheit,
latenten Schuldgefühlen (...) geprägt war.
Mit dem sogenannten 6-Tage Krieg ändert sich solche Bewunderung abrupt. Das
offizielle Westdeutschland schwärmt, wie die Bild-Zeitung, vom israelischen
Blitzkrieg. Eine Formulierung in welcher nicht zufällig die Sprache der
Nationalsozialisten zum Ausbruch kommt. Weite Teile der Neuen Linken rücken
von ihrem philosemitischen Israelbild ab und titulieren den Staat, dessen
Gründung weitgehend der Vernichtung des europäischen Judentums geschuldet
ist, als ‚imperialistisch-faschistisches Staatsgebilde’.
Eine Beschreibung, die nicht nur unerträglich ist durch den Vergleich
Israels mit dem Faschismus und die noch ergänzt wird durch die historische
Anamnese, wenn vom "Holocaust an den Palästinensern" geschrieben wird
oder der derzeit amtierende israelische Ministerpräsident Ariel Sharon mit
Hitler gleichgesetzt wird. Die Rede vom ‚Staatsgebilde’ setzt implizit
scheinbar organisch-naturhaft gewachsene Nationen versus den jüdischen
‚künstlichen’ Staat. Hier geschieht ein klarer Rückgriff auf völkische
Ideologie. In erster Linie linke Juden haben in den späten 60er Jahren
erkannt, welchen Charakter die neue Hypostasierung eines palästinensischen
Befreiungskampfes und die Verdammung Israel hat. So schreibt Jean Améry,
durchaus solidarisch intendiert, an die Linke:
"Das sowohl politische wie jüdische Nazi-Opfer, das ich war und bin, kann
nicht schweigen, wenn unter dem Banner des Anti-Zionismus der alte miserable
Antisemitismus sich wieder hervorwagt. Die Unmöglichkeit, Jude zu sein, wird
zum Zwang, es zu sein: und zwar zu einem vehement kritisierenden."
Die Identifikation mit der arabisch-palästinensischen Bevölkerung erfüllt
für linke Deutsche aber m.E. noch einen anderen psychologischen Zweck.
Verbietet sich ihnen aufgrund der eigenen Vergangenheit ein positiver und
bruchloser Bezug auf die Nation, was gerade in der Linken häufig begründet
wird, so findet in der Identifikation mit dem ‚nationalen Befreiungskampf’
eine Verschiebung des Wunsches statt. Kann das Individuum sich nicht mit dem
eigenen nationalen Kollektiv identifizieren und daraus seine psychischen
Gratifikationen beziehen, so dienen andere ‚Völker’ als Projektionsfläche
des eigenen Verdrängten. Das gilt selbstverständlich nicht nur für
Solidarisierungen mit der arabisch-palästinensischen Ethnie, ist dort aber
von besonderer Brisanz. Vereint mit einem manichäischen Weltbild von ‚guten’
und ‚schlechten Völkern’ gerät Israel zum Feindbild und bekommt die Funktion
des Juden unter den Staaten.
Der aus Erinnerungsabwehr geborene sekundäre Antisemitismus der Linken,
getarnt als antizionistische Attitüde, unterscheidet sich in seiner
Grundstruktur nicht wesentlich von anderen Antisemitismen. Bei dem
deutschen, nicht-jüdischen Antizionismus kommt hinzu, dass er den Anschein
des Rebellischen hervorruft. Gepaart mit einer simplen, manichäischen
Weltsicht, welche die Welt in ‚gute’ und ‚böse’ Völker teilt und einem
häufig verkürzten Verständnis von Kapitalismus erscheint das
rebellische Image eher als konformistische Revolte autoritärer Subjekte. Der
von Adorno beschriebene Typus des autoritätsgebundenen low scorers bzw. der
starren Vorurteilsfreien, den er als ideologisch starr festgelegt
bezeichnet, dürfte diesen Charakter treffen.
Adorno beschreibt die Wahl seiner politischen Ideologie als zufällig und in
ihrer Rigidität anfällig für totalitäres Denken, was sie in kritischen
Situationen für Wechsel ihrer Weltanschauung anfällig macht.
Gewissermaßen als ein Prototyp hierfür erscheint die Figur eines Horst
Mahler, dessen Vita vom ehemaligen linksradikalen Mitglied der RAF bis zur
Mitgliedschaft in der NPD reicht. Eine konstante in dieser Entwicklung
stellt der antizionistisch verbrämte bzw. offene Antisemitismus dar.
Der Antizionismus erscheint in der Regel gemeinsam mit einem ausgeprägten
Anti-Amerikanismus. Die Vereinigten Staaten von Amerika in solchem
Mechanismus die Rolle einer Projektionsfläche für das Ressentiment.
Auf die USA, oder wie zur Zeit auf deren Staatspräsidenten, werden die
fundamentalen Malaisen des Bestehenden projiziert. Vor dem Hintergrund einer
weitverbreiteten aggressiven Erinnerungsabwehr und einer untergründigen
Sehnsucht nach ‚nationaler Normalität’ findet hier noch die späte, wenn auch
nur symbolische, Rache an der ehemaligen Besatzungsmacht ihren Ausdruck,
unabhängig von realen Fehlern der jeweiligen Regierungen. Die scheinbar
Schuldigen des allgemeinen kulturellen Niedergangs werden kurzschlüssig in
den USA gefunden "und in Amerika selbst wieder die Juden, die angeblich
Amerika beherrschen"
gleichgesetzt mit dem ‚Wall Street Banker’, also dem Finanzkapital. Was
hier, idealtypisch als überspitzt erscheint, ist als ideologische Figur
durchaus verbreitet. Ähnlich wie in Bezug auf Israel finden sich im
Anti-Amerikanismus die Gleichsetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus,
welche nicht nur daraus erklärbar sind, dass dieser ein Synonym für das
absolut Böse darstellt.
Weder der antizionistische Antisemitismus, noch der affektive
Anti-Amerikanismus stellen eine Domäne der politischen Linken dar.
Vielmehr zeigt sich auch in ihr die Wiederkehr des Verdrängten, die
unaufgearbeitete Vergangenheit, und das Fortwesen der Zustände, die
Auschwitz erst ermöglicht haben. Die Verharmlosung des Nationalsozialismus
und damit auch des Antisemitismus mit der Funktion, eine, wie auch immer
geartete Identität zu erlangen, ist abgekoppelt von der
politisch-ideologischen Ausrichtung der Einzelnen zu betrachten. Dies zeigt
sich in der "vermeintliche(n) »Entgleisung« der (nunmehr ehemaligen)
Bundesjustizministerin Hertha Däubler Gmelin, die sich durch Bush an die
Politik von »Adolf-Nazi« erinnert fühlte, ihren Vater Hans Gmelin, während
des Nationalsozialismus deutscher Gesandter in Pressburg und im Nachkrieg
Oberbürgermeister von Tübingen jedoch unerwähnt ließ."
Die Verstrickungen und Komplizenschaften mit der NS-Tätergeneration
affizieren noch immer die deutsche Kultur. Jede weitere Tradierung
manifestiert mit zunehmender zeitlicher Entfernung einen sekundären
Schuldzusammenhang, anstatt ihn aufzuarbeiten. Ob die politische
Bildungsarbeit oder jegliche Pädagogik allein hierauf Antworten bieten kann,
erscheint mir angesichts der Tiefe der Problematik fraglich.
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