Der religiöse Fanatismus trat zurück. Der Glaube an die
Menschenrechte, an die Gleichberechtigung aller Menschen ohne Rücksicht
auf Religion, Rasse und Sprache wurde zum Gemeingut der gebildeten
Europäer. Indessen erhielt sich die antisemitische Abneigung der meisten
Nicht-Juden gegen die Juden. Der Antisemitismus äußerte sich mehr
gesellschaftlich als politisch und wirtschaftlich.
In diesem Jahrhundert blieb Russland, unberührt von den Ideen der
Französischen Revolution, das Bollwerk des Antisemitismus. Mit dem
Abschluss des Weltkrieges beginnt eine neue antisemitische Flut. Ihr
geistiger Mittelpunkt ist nicht mehr Russland, sondern Deutschland.
Geistig war dieser neue Antisemitismus vorbereitet durch die
Erneuerung des Rassenglaubens, der mit seinen antisemitischen
Konsequenzen seine entscheidende Formulierung findet in H. St.
Chamberlains: "Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts."
Eine Reihe politischer Ereignisse beschleunigte und verstärkte die
antisemitische Entwicklung. Vor allem der Umstand, dass sich unter den
Führern, Anhängern und Freunden des Bolschewismus zahlreiche Juden
befanden; dass ein großer Teil der Juden sich nach dem ersten Triumph
des Z i o n i s m u s als eigene Nation bekannte; dass der
Nationalismus und Nationalhass durch den Weltkrieg und dessen Folgen
überall aufflammten. Dazu kam das große Elend, das nicht nur den Hass
gegen die Reichen im allgemeinen, sondern auch den Hass gegen die
reichen Juden im besonderen schürte; die Wanderung der nicht oder kaum
assimilierten Ostjuden nach Westeuropa und Amerika, die von neuem die
Kluft zwischen Juden und Nicht-Juden aufriss; zuletzt der Niedergang des
Liberalismus, das Verblassen der Ideen der Französischen Revolution, des
Glaubens an die Menschenrechte und an die menschliche Gleichheit.
Das Zusammenwirken dieser Umstände schuf eine neue antisemitische
Welle von elementarer Kraft: ihre politischen Auswirkungen begannen in
Ungarn nach dem Sturz des jüdischen Kommunistenführers Bela Kun, führten
zur Ermordung von Hunderttausenden von ukrainischen Juden während des
russisch-polnischen Krieges und gipfelten in der antisemitischen
Regierungspolitik des deutschen Nationalsozialismus.
Diese Entwicklung hat von neuem die Judenfrage in den Mittelpunkt der
europäischen Politik gerückt. Jeder Mensch ist gezwungen, zu ihr
Stellung zu nehmen. Dieser Stellungnahme dient die folgende Untersuchung
über die Ursachen des Judenhasses im zwanzigsten Jahrhundert.
p.13 ff
Teil 2.:
Westwanderung der Ostjuden
Die Massenwanderung russischer und polnischer Juden nach
Amerika und Mitteleuropa hat im zwanzigsten Jahrhundert den
Antisemitismus in den Vereinigten Staaten entzündet und in Mitteleuropa
verstärkt...