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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel
Der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz

5.2. Projektionen und Täter-Opferumkehrungen:
Schuld- und Erinnerungsabwehr

Die Abwehr von Schuld und Erinnerung zeitigen ein aggressives Verhalten demjenigen gegenüber, "der auch nur davon spricht, (...) als wäre er, wofern er es ungemildert tut, der Schuldige, nicht die Täter."[205]

Diejenigen, die von der Vergangenheit sprechen oder sie repräsentieren sind im Post-Holocaust Deutschland in erster Linie zwei Gruppen: Die Alliierten, also die Sieger über Nazi-Deutschland und die verschiedenen Gruppen der Überlebenden von deutschem Terror und Vernichtung, also der Displaced Persons, vor allem aber die Juden. Ohne eine affirmative Haltung zum Nationalsozialismus einzunehmen, werden zur eigenen Entlastung, Schuld und Verantwortung auf andere Kollektive, zum Beispiel die ehemaligen Alliierten, projiziert. Diese Projektionen sind der kritischen Theorie zufolge derartig eng mit Rationalisierungen verknüpft dass es schwierig ist, "eine Grenze zu ziehen zwischen dem zweckmäßigen Versuch, durch Aufmachung eines Schuldkontos für den Partner sich selbst zu entlasten, und der unbewussten und zwanghaften Übertragung eigener Neigungen und Triebtendenzen auf andere."[206]

So geraten, wie es auch meiner eigenen Wahrnehmung entspricht, Diskussionen über Auschwitz und deutsche Verbrechen häufig zu einem wahren Zehnkampf der berührten Topoi. Es ist als gelte es möglichst jeden Punkt, in dem ein Teil des familiären oder nationalen Kollektivs Leid erfahren hat, anzuführen, um die Leiden, welche durch die Vorfahren verursacht wurden, zu relativieren oder die Ursachen bei den Opfern zu suchen. Der Thematisierung von derlei Struktur wird dann in der Regel ausgewichen.

Max Horkheimer erfasst den Mechanismus der Täter-Opfer Umkehrung, in den das individuelle wie das kollektive Moment gehört, folgendermaßen:

"Verletzter Stolz bedeutet eine Wunde im Kollektiv nicht weniger als im Individuum. Die Juden, die die Opfer waren, sie sind mit dem Gedanken an die Katastrophe verknüpft, mit der von Deutschen wie mit der an Deutschen geübten Gewalt. Im Unbewussten werden die Rollen vertauscht. »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.« Narzißtische Kränkung zu überwinden, ist überaus schwer, und noch die Generation, die gar nicht beteiligt war, leidet an der Wunde, die sie selbst nicht kennt."[207]

Beliebt ist die irrationale Aufrechnung von deutscher Schuld am Beispiel Dresden, dessen Bombardierung gar diskursiv in den Status von Kriegsverbrechen erhoben wird. Doch schon in der "Aufstellung solcher Kalküle, der Eile durch Gegenvorwürfe sich zu dispensieren" wird das Bemühen sichtbar die eigene kollektiv-narzisstische Kränkung auf Kosten anderer zu heilen. Ein starkes Moment von Unmenschlichkeit liegt in solchem Bemühen um Schuldaufrechnung, die völlig "Kampfhandlungen im Krieg, deren Modell überdies Coventry und Rotterdam hieß" aufwiegen will gegen die "administrative Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen."[208] Das regressive Moment der sadistischen Ich-Schwachen hinter solchen Projektionen ist unübersehbar. In den gleichen Komplex von Relativierung deutscher Vergangenheit fällt die Rede über die Appeasement-Politik der späteren Alliierten gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, mit welcher der wesentliche Unterschied einer unterlassenen Hilfeleistung und dem verübten Mord verwischt werden soll. Jegliche Kritik, die den irrationalen Charakter solcher Projektionen offen legt, wird von den Betreffenden in Reaktion darauf aggressiv abgewehrt werden, um den Preis erneuter Umkehrung der Realität. Ein Beispiel davon hat Alfred Dregger am 17. Juni 1983, zu dieser Zeit Vorsitzender der regierenden CDU/CSU-Fraktion, in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit geliefert.

"Dregger führte aus, die preußisch-deutschen Tugenden Opferbereitschaft, Pflichtbewußtsein und Vaterlandsliebe seien durch das »Dritte Reich« hindurch relativ unversehrt erhalten geblieben; »ein Trauma unserer Selbsteinschätzung« sei erst entstanden, nachdem Kritische Theorie und Studentenbewegung die »deutsche Identität ins Zwielicht gerückt« und die »deutsche Geschichte abgewertet hätten."[209]

So nahe Dregger der Wirklichkeit eines Fortexistierens von "preußisch-deutschen Tugenden" im Post-Holocaust Deutschland kommt, so wenig kann er die kollektiv-narzisstische Kränkung der militärischen Niederlage des NS erkennen und projiziert die daraus
entstandenen Aggressionen auf die Kritiker der "deutschen Zustände"[210] oder wie Adorno es ausgedrückt hat:

"Immer noch gilt das Wort des alten Helvetius, daß die Wahrheit noch niemandem geschadet hat, außer dem, der sie ausspricht."[211]

Das stereotype Denken und das Reden in Klischees, diese Ausdrücke der antisemitischen Struktur, finden noch ihren Wiederhall in der Verwendung des kollektiven Singulars für andere Kollektive. Während mit größter Unbefangenheit über andere die Rede von dem Amerikaner, dem Engländer etc. geführt wird, verbiete man über sich selbst dergleichen als falsche Verallgemeinerungen[212].

Insgesamt bekommen die Erinnerungen an eigenes Leiden, als welches auch das derjenigen betrachtet wird, die aus dem gleichen Täterkollektiv stammen, die Funktion einer kollektiven ‚Deckerinnerung’, wie es Birgit Rommelspacher benennt. Kommt die Rede auf den Nationalsozialismus wird viel erzählt: über Krieg, Gefangenschaft und Vertreibung. Derart gerät der Krieg zur Chiffre des Nationalsozialismus und erhält Verdrängungsfunktion[213]. In dieser Beliebigkeit wird Schuld eine "gänzlich innerlich-subjektive Kategorie."[214] Diese "subjektivistische Relativierung"[215] verschleiert, was in den Bereich der objektiven Verantwortlichkeit fällt und verhindert geradezu eine Artikulation des Gewissens.

So lässt sich mit dem Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke zusammenfassend festhalten:

"Der Nachkriegsantisemitismus speist sich aus der unaufgearbeiteten Identifizierung mit der NS-Ideologie wie aus der Abwehr, sich mit dem Kern des Nationalsozialismus zureichend auseinanderzusetzen."[216]

Auch wenn der Volksstaat, der zur Identität von individuellem und herrschaftlichem Interesse mit Integration und Terror beigetragen hat, zerschlagen ist, herrscht das Prinzip des abstrakten Tausches nach 1945 weiter und auch die NS-Ideologie, deren zentrales Ideologem der Antisemitismus darstellt ist nicht aus den Köpfen verbannt.

[205] Adorno: Erziehung nach Auschwitz, a.a.O., S. 679.

[206] Adorno: Schuld und Abwehr, a.a.O., S. 233.

[207] Max Horkheimer: Über die deutschen Juden, in: Ders.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main (Fischer) 1997 (1961), S. 314.

[208] Adorno: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, a.a.O., S. 556f.

[209] Haury, a.a.O.,S. 153.

[210] Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 380.

[211] Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, a.a.O., S. 132.

[212] Vgl. Adorno: Schuld und Abwehr, a.a.O., S. 219.

[213] Vgl. Rommelspacher, a.a.O., S. 77.

[214] Rensmann, a.a.O., S. 251.

[215] Ebda. S. 251.

[216] Hajo Funke: Paranoia und Politik. Rechtsextremismus in der Berliner Republik, Berlin (Verlag Hans Schiler) 2002, S.144.

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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht

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2007