Antisemitismus nach und wegen Auschwitz
5.1. Die Abwehr von
Schuld:
Psychodynamiken der Post-Holocaust Gesellschaft
Haben die Deutschen im Nationalsozialismus dem Versprechen nach
Kollektivmacht in Form nationaler Größe und einem völkischen
Antikapitalismus angehangen, der versprochen hat das Abstrakte in Person der
Juden zu vernichten, so wurde der kollektive Narzissmus durch die
militärische Niederlage gekränkt.
Verbaut ist somit auch die Möglichkeit einer "ungebrochen positive(n)
Identifikation" mit der deutschen Nation und die Überwindung der
kollektiv-narzißtischen Beschädigungen".
Mit Deutschlands militärischer Niederlage und der Zerschlagung des
staatlichen Apparats ist auch der organisatorische, staatliche Rahmen des
entfesselten Antisemitismus erst einmal verschwunden und damit die
Autoritäten, wie auch die Volksgemeinschaft, an die sich die Einzelnen
gebunden haben. Eine Ahnung der Schuld, welche man sich aufgeladen hat, ist
auch durch die direkte Konfrontation mit den Toten und den Überlebenden des
Holocaust aufgekommen. Das Ausmaß der grauenhaften Taten hat allerdings bei
der Tätergeneration nicht zu einer Aufarbeitung
geführt. Aufarbeitung des Vergangenen bezeichnet im Post-Holocaust
Deutschland nicht, "dass man seinen Bann breche durch helles Bewusstsein.
Sondern man will einen Schlussstrich ziehen und womöglich es aus der
Erinnerung wegwischen."
Die aus der Erinnerungsabwehr resultierenden, und heute immer wieder
vehement erhobenen, Forderungen nach einem Schlussstrich unter die
Auseinandersetzung mit Auschwitz, sind bald schon nach dem Kriegsende
eingenommen worden.
Ebenso wenig wie der Antisemitismus ist auch die Autoritätsbindung nach 1945
einfach verschwunden. Das evoziert auch den gleichen Sadismus und dieselbe
Kälte gegenüber den Opfern, die schon Auschwitz ermöglicht hatte. Die
Schuldgefühle gegenüber den Verfolgten werden häufig von der eigenen Person
abgespalten und nicht verarbeitet. Hannah Arendt stellte im Jahr 1950
verwundert fest, dass die Deutschen im Anschluss an eine Phase der Apathie
sich in bewusstloses Handeln gestürzt haben:
"Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Deutschen seit Generationen ins
Arbeiten vernarrt sind. (...) Die alte Tugend (...) hat einem Zwang Platz
gemacht, dauernd beschäftigt zu sein einem gierigen Verlangen pausenlos an
etwas zu hantieren. Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch
die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten
ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an
die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen,
dann begreift man, dass die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der
Abwehr der Wirklichkeit geworden ist."
Dieses ‚Hantieren’ knüpft m.E. an das Verständnis deutscher Arbeit an, der
Arbeit um ihrer selbst willen. Was Arendt als Tugend beschreibt ist nicht
nur eine Ausgangsbasis zur Vernichtung der vermeintlichen jüdischen
Nicht-Arbeit gewesen, sondern fungiert im Deutschland nach 1945 zur Abwehr
mit der Auseinandersetzung der eigenen Schuld.
Die Kenntnisnahme und Verarbeitung des gesamten Ausmaßes von Verfolgung und
Vernichtung muss sicherlich an objektive Grenzen stoßen, auch bei wenig
vorurteilsvollen und gutwilligen Personen. Ein Loskommen von der eigenen
Vergangenheit über Verdrängung, Relativierung oder Verleugnung ist jedoch
besonders angesichts des Fortbestehens der gesellschaftlichen Verhältnisse,
die Auschwitz ermöglicht haben geradezu prädestiniert den Antisemitismus zu
tradieren. So steht nicht nur die "aus Abwehr und Ignoranz resultierende
Mitleidlosigkeit (...) in einer Tradition von Einfühlungsverweigerung", sondern mit der
eigenen Abspaltung von Schuldgefühlen werden zugleich die Gefühle der
anderen abgewehrt,
nämlich der Leidensgefühle der Überlebenden des Holocaust. In diesem
Mechanismus sich dem Grauen zu entziehen und sich der Annahme von Schuld zu
verweigern sieht Adorno "die Gefahr, dass es sich wiederhole".
Die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, oder auch Verantwortung für
die Schuld der vorigen Generationen, hat auf der subjektiven Seite zur
Voraussetzung, dass ein Schamgefühl gegenüber dem Verbrechen des Holocausts
existiert.
"Die Herausbildung bzw. Existenz eines Schamgefühls (...) ist
psychogenetische Vorstufe und Voraussetzung"
für die Auseinandersetzung der nachgeborenen Generationen mit der
Schuld der Vorfahren. Nachfolgende Generationen können sicherlich nicht
schuldig sein an dem, was ihre Eltern oder (Ur-)Großeltern getan haben. Da
die Nachkommen jedoch die für sie positiv erscheinenden materiellen und
ideellen Produkte der Eltern in der Regel annehmen, so gilt das auch für die
negativen Aspekte.
Wird diese Verantwortung abgewehrt, so verstricken sich hingegen die
Nachkommen der Tätergeneration m.E. in eine Komplizenschaft mit der
Tätergeneration. Die Kritische Theorie beschreibt die Folgen eines
verdrängten Schamgefühls beim Subjekt mit weitreichenden Konsequenzen:
"Wird das Schamgefühl, das eine innere Aggression darstellt, nicht
zugelassen, sondern verdrängt, bleibt also die Fähigkeit Scham zu empfinden
dem Ich fremd und äußerlich, können auch das Wissen um und Gefühle von
Schuld nicht kritisch verarbeitet werden: auch Schuldgefühle werden dann
notwendig vom Ich als äußerlich, als von außen aufoktroyiert empfunden;
übrig bleibt ein diffuses Schuldgefühl, das sich zum ‚Schuldkomplex’
verdichten kann."
Ein solchermaßen äußerlich gebliebenes Schuldgefühl kann von der Ich-Instanz
nicht bearbeitet werden. Dadurch geht auch die Fähigkeit verloren überhaupt
unterscheiden zu können zwischen Verantwortung, wirklicher Schuld und
scheinbar äußeren Vorwürfen. Der gesamte Komplex der NS-Verbrechen wird als
bedrohlich für das Selbst empfunden. Ihre Thematisierung scheint derart nur
im Interesse anderer, scheinbar drohender Mächte zu stehen.
Statt einer inneren, kritischen Verarbeitung wird die Aggression nach außen
projiziert auf diejenigen, die der entstehenden Paranoia als personalisierte
Symbole der nichtbearbeiteten Schuld fungieren: auf die Juden. So werden die
Opfer und ihre Nachkommen zu einer äußeren moralischen Instanz aufgebaut,
als immerwährende moralische Mahner.
"Damit begibt man sich aber in die Position des Kindes, das an die
Repräsentanten dieser Instanz ambivalent fixiert bleibt: Respekt, Scheu und
Angst vor ihnen auf der einen Seite, unterdrückte Wut auf der anderen, da
eine solche kindliche Abhängigkeit beschämt. Diese Kränkung soll wiederum
abgewehrt werden, indem mit allen Mitteln versucht wird diese Instanzen zu
demontieren."
Was Birgit Rommelspacher in Anlehnung an die Kritische Theorie hier
formuliert, bildet die Quelle sowohl des offenen Antisemitismus im
Post-Holocaust Deutschland, als es auch deutlich macht, wie die zu
beobachtenden philosemitischen Äußerungen den selben Ursprung haben können,
wie eine offen judenfeindliche Haltung.
Die Abspaltung der Schuld vom Selbst zieht es weiterhin nach sich, dass für
den gesamten Nationalsozialismus und den Völkermord die Person Hitler oder
eine kleine Gruppe Verschworener aus seinem Umfeld verantwortlich gemacht
werden. Die Nationalsozialisten sind solcherart immer die anderen gewesen.
Die gesamte Gruppe der nicht-jüdischen Deutschen, der man angehört, kann auf
diese Weise entschuldet werden, ohne dass die "blinde Identifikation mit der
Nation als Kollektiv"
aufgegeben werden muss. Die weitest gehende Lösung vom Gedanken des
Nationalen wäre jedoch m.E. eine Bedingung für eine gelungene Abwehr des
Antisemitismus in Deutschland. Das gilt auch für jegliche Formen der
Ersatz-Kollektive, die dem Subjekt ähnliche Angebote der eigenen Aufgabe an
ein kollektives Über-Ich bieten. Irrig erscheint der Versuch dem
Nationalismus durch das Angebot eines sogenannten Verfassungspatriotismus zu
entkommen. Letztlich "ideologisch" ist zumal in Deutschland der Versuch
solcherart Patriotismus "vom pathischen Nationalismus zu scheiden (...);
unaufhaltsam ist die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum
überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem
irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die
Person zufällig sich findet."
Es fällt auf, ähnlich dem bereits angesprochenen Komplex einer
‚Schlussstrich-Forderung’, dass auch die Beschwörung einer deutschen
Normalität symptomhaft bereits in Diskursen der direkten Nachkriegszeit
aufgetreten ist. Das spricht dafür, dass sowohl die Abspaltungen von
Gefühlen, welche den Nationalsozialismus betreffen, immer noch vorhanden
sind, als auch dafür, dass sie als Rationalisierungen auf der sprachlichen
Ebene in eben jenen Normalisierungsdiskursen erneut auftauchen. Dass dieser
Prozess nicht nur das Individuum, sondern die gesamte deutsche Gesellschaft
betrifft erscheint mir evident.
Die Versuche, sei es in der Vergangenheit oder auch heute, einen Zustand der
Normalität herzustellen, deuten darauf hin, dass die traumatische Erfahrung
des Verlusts der nationalen Eitelkeit als kollektiv-narzißtisches Trauma
oder "deutsche Neurose"
weiter besteht.
Die Abwehr von Schuldgefühlen ist auf der individuellen Ebene in
unterschiedlichem Grade ausgeprägt. Sie differiert bei Nicht-Nationalisten,
die bereit sind, so etwas wie Schuld bewusst anzuerkennen, gegenüber
nationalistischen Individuen. Folgt man den kritischen Theoretikern, so geht
es bei dem Umgang mit Schuld nicht um ein oberflächliches "Zugestehen oder
Leugnen objektiver Tatbestände, sondern um die Tendenz des Individuums, sich
selbst einzubeziehen."
Je stärker die Einzelnen persönlich das Geschehene auch als Folge
persönlicher Handlungen begriffen haben, desto größer ist auch die
Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen. Adorno folgert weiter, "dass
eigentlich nur der vom neurotischen Schuldgefühl frei ist und fähig den
ganzen Komplex zu überwinden, der sich selbst als schuldig erfährt, auch an
dem, woran er im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist."
In aktuellen pädagogischen Diskursen wird solch nicht-neurotischer Umgang
als Fähigkeit zur Empathie bezeichnet. Gesamtgesellschaftlich sind Versuche
der Aufarbeitung in der Tätergeneration allerdings marginal geblieben, wovon
nicht nur das berühmt-berüchtigte gesellschaftliche Schweigen in den 1950er
Jahren zeugt, sondern auch die bereits im offen geäußerten Antisemitismus
noch des Jahres 1945.
Dementsprechend wird die aggressive Abwehr von Erinnerung stets auf das Neue
mobilisiert und reproduziert. Die affektive Abwehr äußert sich, sobald die
Erinnerung an die Schuld und an die Zerschlagung des nationalsozialistischen
deutschen Kollektivs zurückkehrt, in allen Situationen also in denen das
Verdrängte wiederkehrt. Intergenerationell ist die aggressive Abwehrhaltung
inner- und außerfamiliär tradiert worden. Für die Sphäre der Familie
beschreibt Rommelspacher diesen Prozess sehr schlüssig:
"In der Familie werden Verdrängungen weitergegeben, Tabus tradiert, und
damit entsteht Komplizenschaft. Eine Komplizenschaft, die ein diffuses
Schuldgefühl hinterläßt, das aber von eigener Schuld nichts weiß. Hier wird
das Band zwischen den Generationen geknüpft, das die Nachkommen in die
Geschichte einbindet (...)."
Diese Tradierung schafft für die Nachgeborenen nicht nur Verantwortung. Die
erneute Abspaltung von der eigenen Person und die Verweigerung die
Geschichte an sich heranzulassen, schafft erst einen neuen, sekundären,
Schuldzusammenhang. Über die bis heute anhaltende Erinnerungsabwehr werden
die Ermordeten "noch um das einzige betrogen, was unsere Ohnmacht ihnen
schenken kann, das Gedächtnis."
Darin und in der objektiven Gegebenheit, dass jeglicher, v.a. deutscher,
Nationalismus untrennbar verbunden ist mit dem Aufkommen von Antisemitismus
liegt die Zentralität, welche Erinnerungspolitik auf dem Feld öffentlicher
Diskurse, aber auch im Bereich des Kulturellen, und damit ebenso der
politischen Bildungsarbeit, zukommt.
Noch die Erinnerung an Auschwitz fungiert vor dem Hintergrund der deutschen
Wiedervereinigung als Teil von aggressiver Schuldabwehr und zur
Normalisierung des Nationalismus. Exemplarisch möchte ich hier die
Einrichtung der Berliner »Neuen Wache« am Volkstrauertag des Novembers 1993
benennen. Mit der dort eingravierten Losung ‚Den Opfern von Krieg und
Gewaltherrschaft’ und der Einrichtung als zentrale Gedenkstätte der
Bundesrepublik Deutschland wird jegliche Spezifik des antisemitischen Wahns
aufgelöst. Die Benutzung des Begriffs des ‚Opfers’ für alle "umgekommenen
Soldaten und Zivilisten und alle ermordeten NS-Verfolgten sowie zugleich die
vom kommunistischen Regime nach 1945 Ermordeten"
abstrahiert im Zeichen einer nationalen Versöhnung von den realen
Bedingungen der zu Tode gekommenen oder ermordeten Menschen. Im Zeichen
einer erzwungenen Versöhnung von Juden und nicht-jüdischen Deutschen
im Tode gerät die Pieta von Käthe Kollwitz zur "nationalen
Kranzabwurfstelle".
Die verschiedenen Ereignisse von der Einrichtung der »Neuen Wache« als
diffuser Gedenkort, über die Diskussionen um das Mahnmal zur Erinnerung an
die Ermordung der europäischen Juden, der krypto-antisemitischen
Friedenspreisrede des Martin Walser bis zu den populistischen Serien á la
"Stalingrad" des Fernsehhistorikers Guido Knopp zeigen "eine neue Dimension
von Versuchen, Auschwitz erinnerungspolitisch aus dem Gegenwartsbewusstsein
und dem öffentlichen Raum auszusperren, in die Sphäre eines
individualisierten schweigenden ‚Gewissens’ einzusperren und damit einen
Schlußstrich unter die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu
ziehen."
Dieser Trend zur Individualisierung von Erinnerung und Verantwortung folgt
der allgemeinen ideologischen Tendenz den Zusammenhang von Subjektgenese und
einer auf Mehrwertgewinnung beruhenden Gesellschaftsformation, oder die
Existenz von Klasseninteressen, zu negieren.
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