4.4.Volksgemeinschaft und
Vernichtung
Was die autoritätsgebundenen Subjekte erstreben,
die kapitalistische Ökonomie ihnen jedoch nicht geben kann, das Aufgehen des
schwachen Ichs in der Gemeinschaft des Volkes als Gemeinschaft der
'Schaffenden', das verspricht ihnen die antisemitische Vorstellung. Bis zum
Anfang des 20. Jahrhunderts findet der organisierte Antisemitismus seinen
Ausdruck in Parteien und Verbänden und perpetuiert sich in der Weimarer
Republik in den Freikorps und der 'Schwarzen Reichswehr'.
"Das politische Prinzip der Weimarer Republik, der Volksstaat, steigerte
sich zur ersatzrevolutionären Volksgemeinschaft auf Grundlage des
Antisemitismus. In pathischer Projektion begriff die nationalsozialistische
Volksgemeinschaft sich als die "organisch-konkrete schaffende Arbeitsfront"
antagonistisch gegen "raffendes Kapital" (...), als Todfeind ebenso des
"liberalistisch losgelassenen Kapitals, in Form des "internationalen
Finanzjudentums" wie auch zur "kommunistisch entfesselten Arbeit" – die als
vom Kapitalverhältnis befreite Arbeit erscheinen konnte – in Form des
bolschewisischen Juden."
Im Nationalsozialismus sind die Interessen der
deutschen, autoritären Subjekte mit den kapitalistischen Interessen nach
Krisenbewältigung zusammengefallen. Das autoritäre Subjekt, das den
'Anderen' in Gestalt der Juden das vermeintliche Glück der Nicht-Arbeit
missgönnt und in deren Vernichtung des Prinzips des Nicht-Identischen seine
Erfüllung findet, ist durchaus kompatibel mit den Interessen an einer
Modernisierung der ökonomischen Strukturen in Deutschland. Die Juden gelten
in der antisemitischen Volksgemeinschaft nicht bloß als Repräsentanten des
Kapitals, sie sind dessen Personifikation. In der antikapitalistischen,
konformen Revolte treiben die Autoritären "das herrschende Gesetz zur
Konsequenz". Der innige Zusammenhang "zwischen Antisemitismus und Totalität,
die sich in der wertförmig und herrschaftlich integrierten Gesellschaft
realisiert" führt in verschiedenen Schritten volksgemeinschaftlicher
Mobilisierung zu "Gleichmacherei, Auslöschung des Besonderen, Totalisierung
der Unfreiheit."
Damit zeigt sich auch die Falschheit der Rede vom ‚Rückfall in die
Barbarei', die der Holocaust darstelle. Vielmehr ist er Ausdruck des
barbarischen Prinzips in der Moderne in seiner deutschen Ausprägung.
Das "Arbeit macht frei" über den Eingangstoren der
Konzentrationslager paraphrasiert noch den Wahn, den die Mörder "zur
vernünftigen Norm"
erhoben haben. Vor dem Hintergrund seiner sozialen Paranoia, die der
Antisemit rationalisiert im Bild der ‚deutschen Arbeit', beginnt der er die
Ausrottung der ‚jüdischen Nicht-Arbeit'. Dieses Irresein als Norm gestattet
es dem Einzelnen "schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten".
Zur Errichtung der "Todesfabriken"
von Auschwitz, Treblinka oder Majdanek ist die totale Integration der
Einzelnen in das kollektive Über-Ich der Volksgemeinschaft eine
Voraussetzung.
"Der Mechanismus der Anpassung an die verhärteten
Verhältnisse ist zugleich einer der Verhärtung des Subjekts in sich", indem
sich die Einzelnen als Individuum auslöschen, somit "sich selbst zum Ding"
werden".
Erst das solcherart entstandene faschistische Subjekt ist in der Lage,
seinem antisemitischen Antikapitalismus bis zur Vernichtung der Juden zu
fröhnen. In der Volksgemeinschaft findet es auf pathische Weise zu sich
selbst, seine Subjektivität ist eine Verdinglichte. Die real Machtlosen
fühlen sich durch den völkischen Antikapitalismus mächtig und leben ihre
sadistische Lust an ihren Opfern aus, während die manipulativ Autoritären
vom Schlage eines Eichmann kalt und berechnend, affektlos, den staatlichen
eingebundenen Exzess organisieren.
In der schrittweisen Entmenschlichung der jüdischen
Bevölkerung
macht das faschistische Subjekt sie sich in der Verdinglichung gleich und zu
dem als was die Antisemiten die Juden eigentlich sieht: "Schatten, Ziffern,
Abstraktionen."
In den Todesfabriken wird noch der letzte Rest von Konkretion abgeschöpft;
die zuvor durch die Täter entmenschlichten Juden werden beraubt, Kleider,
Haare und Gold verwertet.
"Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert wird, der
"unglücklicherweise" die Form der Produktion von Gütern annehmen muß. (...)
Die Ausrottungslager waren demgegenüber keine entsetzliche Version
einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische
"antikapitalistische"
Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur "Vernichtung des
Wertes", das heißt zur Vernichtung des Abstrakten."
Es ist die Sinnlosigkeit dieses Geschehens, in dem der Wahn zum
Realitätsprinzip geworden ist, vor welcher der Verstand kapitulieren will.
Noch im Tod werden die Opfer durch die Massenverbrennungen verhöhnt: Dem
jüdischen Ritus gilt der unversehrte Körper als sakral. Seine Vernichtung
durch Verbrennen erst macht den Mördern die Vernichtung total. Das Phantasma
vom 'faulen' und 'schmarotzenden' Juden hat im Nationalsozialismus seine
diabolische Überhöhung gefunden. Mit zweckrationalen Motivationen kann die
deutsche Vernichtungsmaschinerie, die kriegswichtige Ressourcen gebunden
hat, nicht erklärt werden. Allein schon die Juden zur Arbeit zu zwingen
bringt den Tätern emotionale Befriedigung. Die Berichte, dass Jüdinnen und
Juden in Österreich genötigt werden Gehsteige mit kleinen Bürsten zu putzen,
legen ein Zeugnis davon ab. In Mein Kampf spricht Hitler die
Bedeutung eines deutschen Arbeitsbegriffs, "der schaffenden Arbeit, die
selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird",
deutlich aus.
An denjenigen Juden, die nicht sofort ermordet werden, führen die Täter vor,
was deutsche Arbeit bedeutet: Arbeit um ihrer selbst willen, unabhängig vom
Inhalt. Diejenigen, die als arbeitsfähig eingestuft worden sind, werden
sowohl zu sinnlosen als auch produktiven Arbeiten gezwungen. In
seiner frühen Studie Der SS-Staat aus dem Jahr 1946 hat Eugen Kogon
beschrieben, wie die Häftlinge in den Konzentrationslagern zur Arbeit um
ihrer selbst willen gezwungen werden:
"Es gab in den Lagern
sinnvolle Arbeiten und es gab völlig sinnlose, die keinen anderen
Zweck hatten als den zu quälen. (...) Im ganzen gesehen war ein erheblicher
Teil der in den KL verlangten Arbeiten zwecklos, vielfach überflüssig oder
miserabel geplant, so dass sie zwei- und dreimal wiederholt werden mußten."
Die 'produktive' Arbeit zu der die Juden in der deutschen Industrie
gezwungen sind, ist eine reine Arbeit zur Vernichtung, die versucht aus den
Opfern noch einen maximalen Beitrag an Konkretem herauszupressen. Sie werden
aus ideologischer Motivation zur Zwangsarbeit gebracht, die sich allerdings
zum Ausgleich des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels "dennoch mit
rationalen Kapitalinteressen" verbunden hat und "gerade unter Einkalkulation
der massenhaften Vernichtung vollends auf die Reproduktion des variablen
Kapitals, der Ware Arbeitskraft verzichten" kann.
Aus diesem ideologischen "Krieg der Arbeit",
wie ihn Fritz Sauckel der "Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz"
1942 genannt hat, zieht die deutsche Wirtschaft einen Profit, der ihr später
trotz Kriegsschäden mit zu einem 'gelungenen' ökonomischen Anschluss in der
Demokratie verhelfen wird. So fundiert der bundesdeutsche Staat und dessen
‚Wirtschaftswunder' nicht nur auf den Wiederaufbauhilfen, sondern auf
Zwangsarbeit,
'arisiertem' Vermögen und deutscher Arbeitsleistung als Teil von Verdrängung
der eigenen Schuld. Das ist ein Teil von Geschichte, ebenso wie die
Zahlungsverweigerung an die Opfer seitens der DDR-Regierung, den auch
politische Bildungsarbeit zu vermitteln hätte, gegen einen schulischen
Geschichtsunterricht und ein offizielles Geschichtsbild, welche solches
verschweigen.
Die Massenvernichtung ist aber auch eine durch die Massen gewesen. Mögen
auch die einzelnen Deutschen keine Details der Vernichtung gekannt haben,
dass den Juden etwas grauenvolles geschieht, davon hat es ein Bewusstsein
gegeben und Millionen sind in die Verbrechen mehr oder weniger direkt
involviert gewesen.
Wo sich die sogenannten Mitläufer in der künstlichen Wärme der
Volksgemeinschaft gesonnt haben, bleibt für diejenigen, die den Antisemiten
das Abstrakte personifizieren nur die Kälte des bürgerlichen
Geschäftsbetriebes. Der Nationalsozialismus kann auf eine Kultur
zurückgreifen, deren Mitglieder, von den Eliten über weite Teile der
Bevölkerung bis in die kommunistische Opposition, vom Antisemitismus
affiziert ist. Wer nicht direkt an den Verbrechen beteiligt gewesen ist, hat
noch den Mördern in seiner Gleichgültigkeit beigestanden. Einen
organisierten Widerstand, wie beispielsweise in Dänemark oder den
Niederlanden, der sich explizit gegen die Judenverfolgung gerichtet hat, hat
es in Deutschland nie gegeben. So konnten schlussendlich die Antisemiten die
Welt in jene Hölle verwandeln, als welche sie sie schon immer gesehen haben.
Die Frage nach Schuld und Verantwortung der Einzelnen im nationalen
Kollektiv wiegt schwer und ist nicht in jeder Facette eindeutig zu
beantworten. Trotz der Hingabe der autoritären Deutschen an die
Volksgemeinschaft sind die Täter keine nur verblendeten Opfer der Ideologie,
welche für ihr Handeln keine individuelle Verantwortung tragen. Dem
bürgerlichen Historiker Goldhagen ist in der wichtigen Erkenntnis zu folgen,
dass "die Täter nicht 'unbewußt' im System aufgegangen (sind), sondern (...)
sich selbst politisch subjektiviert"haben. Auch dort, wo Einzelne nicht in Gänze mit der
nationalsozialistischen Ideologie und der Führerfigur Hitler in
Übereinstimmung sind, erfahren sie noch narzisstische Befriedigung durch die
Partizipation an der Größe der Macht und der Gewalt des Systems.
Bestehen bleibt, auch wenn die Einzelnen ein unterschiedliches Maß an Schuld
getragen haben, der kulturelle Schuldzusammenhang: Auschwitz hat in seiner
Totalität wahrhaft alles affiziert.
|