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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

4.2. Die Abstraktionen des Marktes

In der Epoche des Feudalismus hat der Markt nur einen Bruchteil der Produktion umfasst. Von daher sind auch die Verhältnisse in der Gesellschaft von persönlichen Abhängigkeiten geprägt gewesen und haben vor allem in Naturaldiensten bestanden. Die Beziehung zwischen Produzenten, die oftmals zugleich Verkäufer ihres Produkts waren und Abnehmern ist also oftmals auch eine persönliche gewesen. Auch wird ein Großteil für den direkten Verbrauch, bzw. die Aneignung durch die Herrschaft, v.a. Feudalherren und Kirche, hergestellt.

Dies ändert mit zunehmendem technischen Fortschritt in der Produktion und sich ausdehnenden Absatzmärkten. So ist im 13. und 14. Jahrhundert im "Schatten der Burgen und mehr noch in reichsunmittelbaren Markt- und Handelsstädten "eine Kaufmannschaft entstanden, die, indem sie wichtige Zweige der Ökonomie (Geldwesen, Tuchhandel, Fischhandel, Salzhandel, Bergbau) vollständig unter ihre Kontrolle bringt, auch zunehmend Einfluss auf die Politik gewinnt."[123]

Der Charakter des Marktgeschehens ändert sich dementsprechend. Die Produzenten, also die kleinen Bauern und Handwerker, werden zunehmend auf ihre Arbeitskraft reduziert und somit auch weniger als ‚gütererzeugendes Subjekt’ wahrgenommen. Das erweiterte Marktgeschehen erfordert von den Produzenten eine zunehmende Spezialisierung und Konzentration auf bestimmte Produkte. Um dem nachkommen zu können wird notwendig die Produktion von Gütern, die das tägliche Überleben sichern aufgegeben. Diese müssen fortan getauscht oder mit Geld erworben werden, während die eigenen Produkte zum Erwerb des Geldes an die Märkte getragen werden. Dort finden sich die nur warenbesitzenden Produzenten im Nachteil gegenüber den geldbesitzenden Marktrepräsentanten: Sie müssen erfahren, dass sie ihre Produkte zu einem geringeren Wert eintauschen können, als diejenigen Produkte, welche sie am Markt erwerben.

"Der Grund dafür ist denkbar einfach: Der Preis des Produkts, das sie zum Kauf anbieten versteht sich abzüglich des Gewinns, den der Händler oder Kaufmann, der Repräsentant des Markts, beim Wiederverkauf zumachen beansprucht, wohingegen sie für das Gut, das sie durch Kauf erwerben, dessen vollen Preis entrichten müssen."[124]

Dieses Wertverhältnis, dass sich in den Waren am Markt ausdrückt, wird in der Folge auf die Arbeitkraft ausgedehnt, indem diese von den Repräsentanten des Marktes als "warenanaloge Sache"[125] behandelt wird. Damit signalisieren die Marktrepräsentanten, dass sie nicht länger mit den geschaffenen Gütern als Tauschwerten im Rahmen des Marktes rechnen. Vielmehr wird bereits, unabhängig von der sinnlichen Erfahrung, die Arbeitskraft selbst zur Ware gerechnet und somit Teil des Marktes. Nun sind auch die Produzenten gezwungen ihre Ware Arbeitskraft, wie vorher ihre Produkte mit Wertabschlag zu verkaufen. So "firmiert erstmals in der Zirkulationssphäre eben das selber als Ware, als Wertbestimmtes, was doch zugleich in der Produktionssphäre als Schöpfer der Waren, als Quell allen Werts funktioniert."[126]

Dieser abstrakte Prozess wird von den Produzenten kaum durchschaut und abgelehnt. Nicht durchschaut ist auch der doppelte Charakter der Ware, nämlich Gebrauchswert und Tauschwert zu besitzen. Die Ware, eben auch die Ware Arbeitskraft, repräsentiert gesellschaftliche Verhältnisse. In der Ware vergegenständlicht sich als Folge einer arbeitsteiligen Produktion eine "gewisse Menge gesellschaftlicher Arbeitszeit"[127]. Ihr Tauschwert, also der "Gebrauchswert für andere"[128] tritt allerdings erst in der Zirkulationssphäre, ergo weitab vom Produzenten in Erscheinung. Der Austauschprozess jedoch, in dem die Waren am Markt in Geld verwandelt werden, verleiht ihnen ausschließlich ihre Wertform: eben jenes Geld. Mit der Ausdehnung des Marktes und der Geldwirtschaft erscheinen die neuen kapitalistischen Verhältnisse als etwas sachlich und unpersönlich. Zugleich scheinen sie dem Einfluss und Handeln der Produzenten entrückt zu sein. Dies schlägt sich nieder in der Entgegensetzung von Ware und Geld. Die Ware wird reduziert als etwas konkretes, stoffliches betrachtet, ihr gesellschaftliches Verhältnis wird dabei ignoriert: Die in der Ware materialisierte gesellschaftliche Arbeit. Während das Geld als einziger Ort des Wertes erscheint und mit dem Abstrakten, Besonderen, fetischhaft identifiziert wird. Die Ware ist also, wie Marx schrieb, zu einem "vertrackten Ding", das voller metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken"[129] ist, geworden: Sie drückt die sozialen Verhältnisse aus und verschleiert sie zugleich.

Auf der Ebene des Kapitals setzt sich die Aufspaltung in Konkretes und Abstraktes fort. Das Kapital erscheint sowohl in der Geld-, als auch in der Warenform, besitzt also keine feste Gestalt. "Kapital erscheint als rein abstrakter Prozess."[130] So erscheint das zinsbringende Finanzkapital als Abstraktes, Unnatürliches, und steht zugleich für die Dynamik des Kapitalismus. Es wird in der Wahrnehmung des verdinglichten Bewusstseins abgespalten von der Kategorie des Kapitals, welches nur in seinen beiden Erscheinungsformen auftritt: als prozessuale und abstrakte Kategorie, als sich selbst verwertender Wert. Oder wie es Horkheimer und Adorno plastisch beschrieben haben:

"Die Herren als Bürger haben schließlich den bunten Rock ganz ausgezogen und Zivil angelegt. Arbeit schändet nicht, sagten sie, um der der anderen rationaler sich zu bemächtigen. Sie selbst reihten sich unter die Reihen der Schaffenden ein, während sie doch die Raffenden blieben wie ehedem. Der Fabrikant wagte und strich ein wie Handelsherr und Bankier. (...) Am Markt konkurrierte er mit jenen um den Profit, der seinem Kapital entsprach. Nur raffte er nicht bloß am Markt sondern an der Quelle ein."[131]

Wie das Abstrakte als bedrohlich und unbegreiflich erfahren wird, so wird es verteufelt, ebenso wie das Konkrete vergötzt und als naturhaft betrachtet wird. Dies findet auch seinen Niederschlag in der Aufwertung körperlicher Arbeit, als ‚schaffender Arbeit’, mit gleichzeitiger Abwertung der kapitalistischen Vermittlungsebene und all dessen, was mit dieser assoziiert wird.

 "Der Versuch, dieses neue Prinzip der Gesellschaft zu bekämpfen, wurde auf den Nebenschauplatz des Zinsgeschäftes verlagert. Das Verleihen von Geld gegen Zins, welches lediglich die unverschleiert sichtbare Ausbeutungsrate darstellt, wird als ‚halsabschneiderischer Wucher’ erfahren. Erscheint in der am Markt angebotenen Ware die besondere Form der Verausgabung von Arbeitskraft und der Gebrauchswert noch vermittelt, so erscheint der Wert des Geldes nur noch imaginär und zufällig. Im Juden wird mittels Projektion das Abstrakte personifiziert: Wucherer und Jude werden in eins gesetzt. Es war der Versuch, das abstrakte Prinzip des Tauschs zu konkretisieren, um es dadurch bannen zu können."[132]

Diese Denkweise, eine verkürzte Sichtweise kapitalistischer Vergesellschaftung, die seit dem 19. Jahrhundert ihren politischen Ausdruck in einem völkischen Romantizismus findet, geht einher mit der Fetischisierung des Konkreten: Einer Hervorhebung der Natur, des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, des ‚Volkes’. Sie geht auch einher mit einer Verherrlichung von Technik und des industriellen, ‚schaffenden’ Kapitals, welches scheinbar als direkter Nachfolger des Handwerks fungiert[133]. Eine solche Form antikapitalistischen Denkens, das lediglich die Erscheinungsform des Kapitalismus als Finanzkapital begreift, hat sich bis heute erhalten und aus dieser Denkform heraus wird noch immer der einseitige "Angriff auf das Abstrakte"[134] betrieben. Er ist Ausdruck des verdinglichten, autoritätsfixierten Bewusstseins, welches in pathischer Projektion die Geldform des Kapitals in den Juden personifiziert. Diesen Prozess für Deutschland näher zu betrachten, erscheint für ein erweitertes Verständnis des Antisemitismus vonnöten.

[123] Ulrich Enderwitz: Antisemitismus und Volksstaat, Freiburg (ça ira) 1998, S. 18

[124] Ebda., S. 20f

[125] Ebda., S. 26

[126] Ebda., S. 25f

[127] Andrea Woeldicke: Kapitalismus und deutscher Wahn in: AK Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg). Antisemitismus – die deutsche Normalität, Freiburg (ça ira) 2001, S.69

[128] Ebda. S.69

[129] Karl Marx: Das Kapital. Bd. I, Berlin (Dietz Verlag) 1975 (1867), S. 85.

[130] Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus, a.a.O., S. 249.

[131] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 182.

[132] Andrea Woeldike / Holger Schatz: Freiheit und Wahn deutscher Arbeit, Hamburg/Münster (Rat/Unrast) 2001, S. 33

[133] Vgl. Postone, a.a.O., S. 249f.

[134] Ebda., S. 250.

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2007