Anmerkungen zur kritischen Theorie:
Antisemitismus in Deutschland
Von Ingolf Seidel
"Ich sage euch, am Wochenende ist der Holocaust passiert. Ich bin
selbst gespannt, ich hab’s noch nicht gesehen"
Mit diesen Sätzen moderierte Carolin Beckers am 12. März 2001 eine
Folge der RTL-2- Sendung "Big Brother"
an. Die begriffs- und geschichtslose Verwendung des Terminus
Holocaust steht beispielhaft für die Ignoranz mit welcher der
millionenfache Massenmord mehr als 50 Jahre nach Auschwitz im Land
der Täter und der Tat behandelt wird.
Im Angesicht der jüngsten Welle
der Manifestation des antisemitischen Wahns, zu nennen sind hier die
Friedhofs- und Gedenkstättenschändungen in Rostock, Wöbbelin,
Raben-Steinfeld, Boizenburg (alle in Mecklenburg-Vorpommern), sowie
der Mahnmalsschändung in Berlin und dem Bombenschlag auf den
jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg und der immer gleichen
Betroffenheitrituale bedarf es einer Theorie, die den Wahn begreifen
lässt, ohne mit ihm zu sympathisieren.
Ich denke es gilt zu verstehen,
wie die Problematik des Antisemitismus innersubjektiv und
gesellschaftlich zu verorten ist. Hierzu
kann nicht die Seite der Opfer betrachtet werden, sondern die
Verfassung der TäterInnen sollte im Mittelpunkt stehen. Ich werde
mich dazu überwiegend im Kontext der kritischen Theorie bewegen.
Kritische Theorie analysiert die Verfassung der Individuen und der
Gesellschaft, die den Antisemitismus ob latent oder manifest stets
aufs neue den Nährboden bereitet, ohne die Subjekte jedoch aus der
Verantwortung für ihr Handeln zu lassen.
Die
meisten bestehenden Erklärungsmuster, vor allem die
subjektivistischen, bürgerlichen entziehen sich einer Erklärung
dessen was
Antisemitismus ist. Er wird vor allem in sozialwissenschaftlichen
und pädagogischen Diskursen bestimmt als schlichte Abneigung eines
Individuums gegen eine irgendeine andere Gruppe.
So wird Antisemitismus thematisiert unter dem Begriff der
Erfahrungsverarbeitung von "dem Fremden", oder des "Anderen" in der
Form des Vorurteils.
Diese "Anderen" werden nur durch
die Benennung des Ziels, hier also Jude, näher bestimmt und bleiben
ansonsten austauschbar. So wird der Antisemitismus der Erklärung
entzogen, er wird auf das Individuum abgewälzt, auf ein
Fehlverhalten reduziert. Diese Erklärung, die keine ist, verliert
sich in der Beliebigkeit.
Auf diese Weise kann dem
Antisemitismus austauschbar der Hass auf Farbige (Rassismus),
auf Frauen (Sexismus), kurz auf alles Andere, beliebig beiseite
gestellt werden. Das was erklärt werden müßte, woher der Hass auf
alles Andersartige kommt wird vorausgesetzt, seine Ursachen jedoch
nicht begründet. So kommt man dazu deutsch-jüdische Begegnungs- und
Verständigungswochen zu organisieren oder militante Nazis auf
Bildungsreisen nach Israel zu schicken.
Auch klassische linke
Erklärungsansätze, sehen im Antisemiten nur das Opfer von
kapitalistischen Zuständen , die zwangsläufig verrohen müssen und
für die antisemitische Subjekte nur Objekt oder Opfer von
Beeinflussung durch Medien, Schule, Erziehung oder staatlicher
Propanganda sind. Hier gerät der Antisemitismus zum Instrument "um
den Hass der Unterdrückten von den wahren Ursachen abzulenken" oder
um die an sich doch internationale Arbeiterklasse zu spalten und zu
desorganisieren (so der beliebte Diskurstheoretiker Stuart Hall).
1. Autoritärer Charakter
Die Moderne, vor allem in
Deutschland,
basiert wesentlich auf Subjekten, deren ausgeprägte Ich-Schwäche
einen autoritätsgebundenen Charakter zur Folge hat.
Sozialpsychologisch ist der autoritäre Charakter die Idealform
moderner kapitalistischer Subjektivität.
Dabei wird das Subjekt von seinen
unbewussten, sich widersprechenden Triebregungen und von
Über-Ich-Instanzen beherrscht, die den Einzelnen ebenso äußerlich
sind, also nicht ins Ich integriert und ihm damit fremd sind. Um in
der Moderne funktionieren zu können müssen die Individuen ihre
Triebregungen stets unterdrücken.
"Tatsächlich könnte man die
Entwicklung des modernen Denkens vom Protestantismus bis zur
Philosophie Kants dadurch charakterisieren, dass die äußere
Autorität durch eine internalisierte Autorität ersetzt wurde ... man
(sah) im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der
"Selbstbeherrschung", d.h. in der Beherrschung des einen teils des
Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens –
seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der
Freiheit. Die Analyse zeigt, dass das Gewissen ein ebenso strenger
Zwingherr ist, wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, dass die
Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen
Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde
ethischer Normen angenommen haben" (Fromm, 1985)
Schlägt dieser Prozess fehl,
beispielsweise dort wo das Kind in der frühen Entwicklung an der
elterlichen oder gesellschaftlichen Allmacht scheitert oder ihm
verbindliche Bindungen fehlen, ist die Grundlage einer
autoritaristischen Charakterbildung gelegt.
So entsteht eine Charakterstruktur
in der enorme Kräfte wirken, die nicht in Einklang zu bringen sind:
Ein Es, dessen Wunschstruktur dem Ich fremd bleibt, dessen Regungen
verboten sind und welche durch die Verbote aggressiv entstellt
werden. Ein Über-Ich, welches die gesellschaftlichen Anforderungen,
Normen und Werte repräsentiert, das nicht der Kontrolle des Ich
unterliegt. Es überschüttet Ich und Es die anderen psychischen
Instanzen mit maßlosen Aggressionen, ist streng, repressiv und
archaisch, kann also gesellschaftliche Anforderungen nicht
eigenständig einschätzen.
Zwischen Es und Über-Ich wird das
Ich beinahe zerrieben und bleibt schwach und klein. So kann es
seiner Rolle als Vermittlungsinstanz zwischen dem Subjekt und der
Außenwelt nicht gerecht werden. Die Ich-schwache Person bleibt durch
die mißlungene Integration des Über-Ich, also der gesellschaftlichen
Autorität in den psychischen Apparat, von äußeren Autoritäten
abhängig.
Dieses Ich-Schwache Subjekt steht
förmlich unter dem Zwang die erfahrene Gewalt, die Quelle der
eigenen Identität wird zu wiederholen. Die Orientierung an
gesellschaftlichen Normen und Werten und deren Überhöhung, bieten im
den Halt, den es in sich nicht hat. All jene die real oder scheinbar
diese Infrage stellen müssen aggressiv bekämpft werden.
Zu beobachten sind zwei Tendenzen
des Autoritären: Die durch die Triebunterdrückung erfahrene Gewalt
wird, nur schwach rationalisiert, sadistisch gegen scheinbar
Schwächere und Abweichende gewendet. Dieser "Sadismus im Kampf mit
seinen eigenen Regungen,... der in der Form von Lebensneid nach
außen gegen die wirklich oder scheinbar Genussfähigen" (Löwenthal
1982) gerichtet wird, bildet eine Grundlage für das Verfolgen von
Menschen. Dieses Prinzip findet in Juden und Jüdinnen seine
Personalisierung. Gleichzeitig unterwerfen sich die autoritär
strukturierten den überhöhten Autoritäten masochistisch auch in
Verkennung der eigenen Interessen.
Der von der kritischen Theorie begründete Begriff der pathischen
Projektion sieht im antisemitischen Bild von Jüdinnen und Juden
wesentliche Repräsentanzen des Eigenen der autoritären Charaktere:
"Mit
den Juden wird ...projektiv totgeschlagen, was der Antisemit an sich
insgeheim selbst verachtet und wonach er sich unbewusst sehnt – alle
möglichen sado-masochistischen Phantasien, wie verdrängte Wünsche
herrschaftlich Subjektivierter." (Rensmann 2001). Zugleich dienen
"die Juden" als verkörperlichte Erklärung einer nicht verstandenen
Welt.
Die negativ erfahrenen Seiten der
kapitalistischen Moderne werden auf sie übertragen. Krisen und
Zwänge, Vereinzelung der Individuen, Globalisierung etc., alles wird
in dieser "paranoiden Beziehung zur Außenwelt" (Löwenthal 1982) auf
diejenigen übertragen, die den völkischen Hass und die kollektive
Vernichtung im Abendland "traditionell" erleiden mussten. Der
Antisemitismus gestattet dem Einzelnen "schlecht zu sein und sich
dabei für gut zu halten" (Horkheimer 1987).
Die autoritäre Psyche der
Antisemiten ist dabei von Angst bestimmt. Der Angst "vor sich
selbst, vor seinem Bewusstsein, vor seiner Freiheit, vor seinen
Trieben, vor seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit, vor der
Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt..." (Sartre 1994) Er
sieht sich selbst oder das "deutsche Volk" als das Konstante, das
Gute welches unantastbar ist.
Das Weltbild der Autoritären ist
ein irrationales und enthält dennoch Momente der Rationalität. Es
ist geprägt durch eine Regression des Denkens, die ein Durchschauen
der unpersönlichen, komplizierten kapitalistischen Herrschaft
scheitern läßt. Durch die Dominanz von Es und Über-Ich über das Ich,
welches kein kritisches Gewissen ausbilden kann ist der autoritäre
Charakter auf vereinfachende und personalisierende Erklärungen
angewiesen Adorno nennt das Stereopathie.
Die Verhärtung des Individuum
gegenüber der Natur, die Verdinglichung im Marxschen Sinne, ist auch
eine Verhärtung gegenüber der eigenen Natur und in Folge auch
gegenüber anderen Menschen. Der Automatismus im des Denkens, der
sich am Fließband im Automatismus des Handels wiederholt führt zu
Gefühllosigkeit, die sich sich zur Verdinglichung steigert. Objekte,
insbesondere Waren werden aufgewertet, Menschen und Gefühle
abgewertet. Die daraus entstehende bürgerliche Kälte ist
Grundvoraussetzung des industriellen Massenmords.
Auch wenn bestimmte Elemente des Antisemitismus universal zu sein
scheinen, also in der Form moderner Vergesellschaftung begründet
sind, erreichte der
Antisemitismus nur in Deutschland diese spezielle eliminatorische
Form, die in Auschwitz kulminierte.
Die Wurzeln des deutschen im
Eliminatorischen mündenden Antisemitismus sind nicht allein im
autoritären Charakter zu finden, sondern damit korrespondierend in
einem speziellen deutschen Verhältnis zur Arbeit (also der Arbeit
als Selbstzweck, als Berufung), sowie einer tradierten Ablehnung der
Werte der Aufklärung, die in Form der französischen Besatzung als
von außen aufoktroyiert empfunden wurden und daraus folgernd einem
romantizistischen, völkischem Nationalismus. Weiter ist
selbstverständlich der christliche Antijudaismus eine Quelle
modernen Judenhasses und zentral eine verkürzende
Kapitalismuskritik.
2.
Antisemitische Bilder vom 'Juden'
Der antisemitische Diskurs des
Nationalsozialismus griff die teilweise jahrhundertealten im
Christentum wurzelnden antisemitische Diskurse auf und
synthetisierte und systematisierte sie. Es lassen sich v.a. folgende
Bilder festmachen (nach: Fabian Kettner "Antisemitismus und
bürgerliche Gesellschaft).
Der
Ahasver
geht zurück auf einen Mythos in Bestsellerform aus dem 17.
Jahrhundert (von Christian Friedrich Daniel Schubart), der sich
durch beständige Kolportage und durch beständiges Abschreiben
erweiterte und fortpflanzte. Der Ahasver ist der "ewige Jude", der,
weil er Jesus auf der via dolorosa auf dessen Weg nach Golgathta
Rast verweigerte, dazu verdammt wurde, ewig gleich, barfuß, heimat-
und wurzellos die Welt zu durchwandern.
Der
Urbantyp
kommt in den großen Städten vor, die als Produkt moderner
Gesellschaften, v.a. als Folge der Landflucht - oder eher Landvertreibung
- im Zuge der ursprünglichen Akkumulation erst entstanden. In ihnen
werden die Menschen in Massen zusammengefasst. Das Stadtleben sei
schädlich an sich, es verderbe die Menschen (besonders die
deutschen), weil sie ohne heilbringenden Kontakt mit ihrer
natürlichen angestammten Scholle und zu dem dazugehörigen ruhigen,
geordneten, gefestigten Leben sind. Die Stadt sei ruhelos, durch und
durch ‚künstlich', reine Machination. V.a. ist sie Ort des Handels,
was Wirkungsstätte des Juden sei, der deswegen in der Stadt
besonders gut gedeihen könne. Das Stadtleben bringe als kulturelles
Unkraut hervor den
Intellektuellen
und den
Zersetzer.
Der
Intellektualismus
sei schädlich an sich, weil seine Vergeistigung eine "Verödung der
Seele" bewirke. Die kalte zergliedernde Erkenntnis, zu der der
Intellektuelle nur fähig sei, verunmögliche die Schau des wahren
Seins, der Einheit, des Seinsgrunds. In seiner abstrakten
unzugänglichen Welt entfremde er sich dem Volk. Seine reine
Verstandestätigkeit habe sich herausgebildet im rational
kalkulierenden kaufmännischen Gewerbe. Das Denken wie die
dazugehörige ökonomische Praxis aber sei ein Instrument zur
Aneignung, d.h. Wegnahme und Zerstörung fremder Werte.
Der
Zersetzer
wurde (klassisch von Ernst Krieck, dem späteren NS-Pädagogen in
"Philosphie der Erziehung") skizziert im Bild des Literaten: "kalt,
zeugungslos, verstandesmäßig, zersetzend bis in die Knochen" . "Die
Kräfte der Zerstörung, die Meckerer, Stänkerer, heimlichen
Ehrabschneider, die Maulwürfe aller Parteifarben, die liberale, die
schwarze und die rote Auflösung" , -- sie alle seien zu keiner
positiven, konstruktiven Arbeit fähig. Der Zersetzer schwäche das
Volk durch politische Aufwiegelung, durch Streit und schwäche seine
Wehrkraft durch humanistische Ideen und durch den Pazifismus.
Der
Wucherer
bereichere sich an der Not Bedürftiger und Abhängiger. Er lebe von
den Früchten der Arbeit anderer. Im Zins scheint das mysteriöse
Wertprinzip praktisch ergriffen werden zu können, das Geheimnis von
Mehrwert gelüftet: man bekommt vom Geldleiher Geld und muss mehr
Geld zurückgeben. Im Zins vermehre sich das Geld wie von selbst und
verantwortlich sei die Gier des Leihers.
Das Bild des Wucherers wurde
bereits vor dem Nationalsozialismus um das des
Kapitalisten, des internationalen Monopolkapitalisten erweitert,
der "Staat und Gesellschaft zum Spielball eines als privatives
Kapitalakkumulationsunternehmen firmierenden Wirtschaftsliberalismus
degradiere" , den Arbeiter beklaue, an der Arbeitskraft und
Volkswirtschaft anderer schmarotze.
Die völkische Agitation
gegen den Kapitalismus trennt in "raffendes" (Börse, Bank, freie
Finanzmärkte etc.) und "schaffendes Kapital" (Industrie, Handwerker,
‚ehrliche Arbeit'). Diese Trennung ist das durchschlagende Ideologem
des nationalsozialistischen Antisemitismus. Gespalten wird in der
Ideologie, was untrennbar zusammengehört:Finanzkapital
und industrielles Kapital.
Das "raffende Kapital" wird
identifiziert als das international vertretene und organisierte
Großkapital, welches parasitär wirke, indem es die Völker aussauge,
in denen es sich ansiedelt. Das "raffende Kapital" wird verkörpert
vom Juden.
Die beschriebene Verortung der
Jüdinnen und Juden in der Zirkulationssphäre (als Wucherer) ist
eines der zentralen Elemente des Antisemitismus.
Die Trennung in
"raffendes" und "schaffendes" Kapital ist eine offenkundig
naturalisierende Wahrnehmung des Kapitalverhältnisses und ein
beliebtes Bild bis in die Gegenwart, auch bei Linken: so in der
Agitation gegen die "Multis" und gegen die "Spekulanten" oder gegen
‚verantwortungslose Unternehmer', die keine Arbeitsplätze für ihre
Nation schaffen, sondern lieber Kapitalmengen unkontrolliert fließen
lassen.
Hinzu kam vom Nationalsozialismus
das Bild des kulturzerstörenden
bolschewistischen Juden. Diese Zusammenführung von Kapitalismus
und Marxismus in einer Person mag absurd erscheinen, doch folgt sie
einer inneren (Para-) Logik des Antisemitismus. Denn was macht der
Jude? Er greife die Resultate des Kapitalismus auf, den er selber
vorher in Werk gesetzt habe. Er ernte als marxistischer Jude die
Früchte seiner Arbeit, die er als kapitalistischer Jude säte. Er
greife den freien und verelendeten Arbeiter und dessen berechtigte
soziale Forderungen auf und hetze diesen gegen sein eigenes Volk. An
dieser Stelle kann er die Gemeinschaft in ihrer Substanz zersetzen:
in ihrer Arbeitskraft.
2.Sekundärer
Antisemitismus
Beinahe täglich finden im
wiedervereinigten Deutschland antisemitische Übergriffe auf Juden
und Jüdinnen, meist in Form von Schmähungen und Beleidigungen, oder
auf Synagogen, jüdische Gräber und Gedenkstätten statt.
In einer Studie des
American Jewish Commitee von 1991 stimmten
58%
der Befragten der Aussage zu, dass
"nach der Öffnung eines neuen Kapitels in der deutschen Geschichte,
45 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, es Zeit wäre die
Erinnerung an den Holocaust hinter uns zu lassen" und
38% der Befragten stimmten (stark oder einfach) dem Statement:
"Heute, wie in der Vergangenheit haben Juden zu viel Einfluß auf das
Weltgeschehen".
Auch wenn das ideologisch
geschlossene antisemitische Weltbild in Deutschland anscheinend an
psychodynamischer Kraft verloren hat, so geht auch die neuere
quantitative Soialforschung von einem beständigen Anteil von 15% bis
20% harter Antisemiten aus (Allensbach bei Heinsohn, Bergmann/Erb
beide 1995).
Oder anders ausgedrückt: 12
Millionen Deutsche sind manifeste Antisemiten, d.h. auf einen in
Deutschland lebenden Juden kommen 300 Antisemiten.
In der Studie der Potsdamer Wissenschaftler Sturzbecher und Freitag
wird dargestellt, dass 76% der männl. und 57% der weibl.
Jugendlichen aus Brandenburg es sich nicht vorstellen können mit
Juden befreundet zu sein.)
Es existieren in der deutschen
Geschichte antisemitische Kontinuitätslinien vor und nach Auschwitz.
Diese zeigen sich heute noch im sekundären Antisemitismus, jenem von
der Kritischen Theorie untersuchten Phänomen, dass der jüdische Arzt
Zwi Rix treffen mit dem Satz beschrieb:
"Auschwitz werden die Deutschen uns nie verzeihen".
"Die politisch-psychologische
Virulenz des Antisemitismus zeigt sich vor allem im Verhältnis zur
deutschen Vergangenheit, deren Abwehr mit der Restauration
nationalistischer Ideologie einhergeht" (Rensmann).
Dabei ist dem autoritären Subjekt
die Nation Ersatz für die eigene beschädigte Identität, quasi
Kollektivsubjekt. Das Nationalgefühl gewährt Identität in einer
Welt, in der Natur in Naturwüchsigkeit statt in Freiheit aufgelöst
wird. So wird die Beschädigung der Nation als kollektive
narzisstische Kränkung erlebt.
Sekundärer Antisemitismus bedient
dabei das sozial-psychologische Bedürfnis nach Erinnerungsabwehr und
Entlastung von Scham und Schuld. Aber es scheinen in ihm auch die
Motive des alten christlichen Antijudaismus und des primären,
rassistischen Antisemitismus durch.
Die lächerlich geringen
Entschädigungszahlungen bilden so häufig die Folie auf die mit dem
antisemitischen Vorurteil vom "raffenden Juden", verknüpft mit dem
Phantasma der jüdischen Rache, reagiert wird.
Die Verdrängung des Grauens
scheint immer wieder auf im kollektiven Beschweigen als
Hauptaugenmerk des Umgangs mit Auschwitz. Dieses beredte Schweigen,
umgeben von der Floskel der "im deutschen Namen begangenen
Verbrechen", nennt kein erkennbares Subjekt, das deutsche
TäterInnen-Kollektiv, und läßt die Opfer ohne Namen.
Der offizielle Philosemitismus,
legitimer Abkömmling des Antisemitismus, wird dabei konterkariert
durch Vorfälle wie 1997 im
brandenburgischen Gollwitz (wo die Dorfgemeinschaft den Zuzug
jüdischer Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen SU verhinderte)
und der Walserschen Rede, die als teutonischer Befreiungsschlag,
stellvertretend für einen Teil der deutschen Intellektuellen, wider
die Fesseln der im beschädigten Ego phantasierten jüdischen
Allmacht. zu lesen ist. Und die Distanzierung von der Gewalt ist nur
glaubhaft, weil ihr Motiv gleich mitgeliefert wird: der Standort
Deutschland.
Die Staatsoffizielle
Erinnerungskultur soll nicht nur das Image Deutschlands im Ausland
stärken, sondern an Stelle der Aufarbeitung des Verdrängten die
Emotionalisierung setzen.
Auschwitz ist den Deutschen der
Hemmschuh bei der Rekonstruktion des Nationalen und genau hierin
hat die
Erinnerungsabwehr
ihr Ziel und ihre Funktion.
Nationale Identität kommt nicht
aus ohne den positiven Bezug zur eigenen Geschichte. Die Existenz
der Opfer erinnert nicht nur an die eigene Tat. Die Antisemiten
neiden den Opfern noch ihr Leiden, da es einer Identifikation mit
der deutschen Identität im Wege steht. Daher müssen die Taten
verkleinert, relativiert, affirmiert oder geleugnet werden.
Allerdings konnte nur ein ehemals linker Politiker wie Joseph
Fischer auf eine spezielle Variante der Relativierung des deutschen
Verbrechens verfallen: Die Begründung deutscher Großmachtpolitik und
militärischer Intervention mit der angeblich speziellen
Verantwortung Deutschlands im Angesicht von Auschwitz und
nationalsozialistischer Kriegspolitik.
Das Verbrechen des industriellen
Massenmordes, sinnlos wie es war, hat eine Welt beschädigt, deren
Sinnlosigkeit nicht in Frage gestellt werden darf, will man so
weitermachen wie bisher. Die Bedingung für die Konstitution der
autoritären Individuen, die kapitalistische Vergesellschaftung stand
nach Auschwitz stand nicht zur Disposition (auch nicht in der
staatskapitalistischen DDR in der die bürgerlich-patriarchalen
Familie als Keimzelle des realsozialistischen Staatswesens gepriesen
wurde).
Um diese Welt zu bewahren sucht
der Antisemit die Schuld noch in den schuldlosen Opfern, "sowas"
kann nicht ohne Grund passieren. Die Abwehr der reflektierenden
Auseinandersetzung mit Auschwitz wurde durch die Überlebenden Juden
und Jüdinnen gestört.
Einige Elemente und Strategien
(Strategien sind jedoch nicht ausschließlich als bewußtes Element zu
begreifen) der
Erinnerungsabwehr
die ich kurz beleuchten möchte:
·
Erstes Motiv ist es die geschichtliche
Schuld und die Geschichte der Verbrechen zu relativieren und wo
möglich nach außen zu verlagern. Deutsche Geschichte wird so zu der
Geschichte der 'anderen', im Extrem die der Juden, aber auch die der
Alliierten.
Die Aufrechnung der Bombardierung Dresdens mit der Ermordung der
sechs Millionen JüdInnen hat hier ihren Platz.Nach dem 8. Mai 1945
machte sich das TäterInnenkollektiv kurzerhand selbst zum Opfer:
Zunächst zum Opfer einer Diktatur, der alliierten Bombardierungen,
letztlich zum Opfer von Vertreibungen, Reparationszahlungen und
internationaler Ächtung.
Die eigenen Leiden bekommen hier die Funktion einer kollektiven
Deckerinnerung, die den aggressiven deutschen Vernichtungskrieg und
den Holocaust sozialpsychologisch überlagern.
·
Weiter wird die Schuld am Massenmorden
auf eine kleine Minderheit projiziert, speziell auf Hitler als
Person. Im Kern geht es darum sich zu läutern und darzustellen, dass
Auschwitz eigentlich dem deutschen Wesen widerspräche.
· Der
Verweis auf die eigene reale oder imaginäre Ohnmacht, dabei wird
subtil auf die eigene Lädiertheit verwiesen
· Auch
fällt es den Erinnerungsabwehrenden häufig relativ leicht
individuelle Verantwortung zu übernehmen. Sie scheint nicht so
affektbeladen wie die kollektive Verantwortung. Dies gilt vor allem
je größer die Identifikation mit der Nation, diesem 'aufgeblasenen
Größenselbst' ist. Die narzisstische Kränkung des Verlustes der
nationalen Identität, welche Ersatz ist für das eigene schwache Ich
können und wollen die Erinnerungsabwehrenden nicht aushalten. Mit
der Übernahme individueller Verantwortung, als hohles Zugeständnis
an das was nicht mehr zu leugnen ist wird der Bezug auf das
Kollektiv Nation bewahrt.
·
Schließlich fällt auch die moralische Überhöhung der Juden unter die
Strategien der Abwehr. Durch die Überfrachtung mittels Projektion
werden Bilder geschaffen, die in der Realität enttäuscht werden
müssen. Wie in anderen antisemitischen Bildern wird hier der Jude zu
einem Übermenschen gemacht. Da niemand den psychischen
Erfordernissen der erinnerungsabwehrenden Subjekte entsprechen kann,
sind die Frustrationen vorprogrammiert. Der Philosemitismus schlägt
an dieser Stelle in offenen Antisemitismus um. Der Antizionismus
deutscher Linker und die erbitterten Diskussionen um Israel haben an
dieser Stelle u.a. ihre Basis.
Weiter gehören in den Komplex der Erinnerungsabwehr:
Offensive Konzepte der Erinnerungszerstörung, die
nationalsozialistische Verbrechen Relativieren und so den sekundären
Antisemitismus befördern, darunter fallen:
·
Die Aktivitäten sogenannter Historischer Revisionisten also
holocaustleugnender Pseudowissenschaftler wie Fred Leuchter und
David Irving
·
Verharmlosungen, Gleichsetzungen und
Relativierungen, wie totalitarismustheoretische Ansätze der
Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus. Dies wurde durch
ehemalige DDR-BürgerrechtlerInnen betrieben. Extremismusforschung
findet sich aber auch in den Publikationen der Bundeszentrale für
politische Bildung. Dort wirkten jahrelang Extremismusforscher wie
Eckhardt Jesse, Uwe Backes und Hans Helmut Knütter.
Dabei störte es anscheinend auch
nicht, dass Jesse und Backes 1990 gemeinsam mit dem Neurechten
Rainer Zittelmann im Sammelband "Schatten der Vergangenheit"
publizierten.
Jesse
fordert in diesem Sammelband beispielsweise ein Ende der
"selbstquälerischen Form der Vergangenheitsbewältigung".
Uwe Backes, 1999
stellvertretender Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts,
verteidigte gar einen Aufsatz in welchem dem Widerstand gegen den
Nationalsozialismus die Legitimität abgesprochen wurde. Das führte
in der Folge dazu, dass sich Saul Friedländer und andere aus dem
Kuratorium des Instituts zurückzogen. Dennoch werden die Schriften
von Jesse und Backes bis heute von der Bundeszentrale für politische
Bildung vertrieben.
Hans-Helmut Knütter
prägte über Jahre die Arbeit der "Bundeszentrale für politische
Bildung" und schrieb 1990 in der Schriftenreihe de
Bundesinnenministeriums "Texte zur inneren Sicherheit":
"Die Aufdeckung der kommunistischen Untaten legt es nahe,
nationalsozialistische Taten zu relativieren und eben nicht als
einmalig und unvergleichbar erscheinen zu lassen." So betreibt
man im Sinne eines Ernst Nolte die Enttabuisierung des
Nationalsozialismus.
Gleichzeitig attackierte Knütter
stets antifaschistische Grundhaltungen. So in seinem Buch "Die
Faschismus-Keule". Er spricht einem Antifaschismus der Linken die
Daseinsberechtigung ab und diffamiert diesen als "politischen
Kampfbegriff" der Linken. Schon den Begriff "Antifaschismus" will er
ersetzen durch "Anti-Totalitarismus", womit er implizit die
Gleichsetzung von links und rechts vollzieht. Hier trifft er sich
auch wieder mit Backes und Jesse, welche fordern: "Schlagworte wie
‚Antifaschismus’ ... im politischen Tageskampf den Extremisten zu
überlassen."
Erinnerungsabwehr ist Teil der
politischen Kultur in Deutschland und kein isoliertes Phänomen
rechtsextremer Gruppen, vielmehr drücken diese in ihren Taten
radikalisiert den Zustand des gesellschaftlichen Mainstreams aus.
Durch diesen Mainstream erfährt
die aggressive Erinnerungsabwehr ihre Dynamik.
Sie durchzieht nicht nur weite
Teile der Gesellschaft, sondern auch deren Eliten. So können
beispielhaft genannt werden:
· Kohl
und Reagans Besuch in Bitburg in den 80er Jahren, Kohl bezeichnete
die dort liegenden 47 SS-Männer ebenso wie die Toten des KZ
Bergen-Belsen als Opfer. Auf jüdische Kritik reagierte er mit dem
Ausspruch, Er könne nicht verstehen, dass es immer noch Menschen
gebe, die nicht vergeben könnten. Hier scheint wieder das Stereotyp
des rachsüchtigen Juden durch.
· Die
Äußerung des Kohl-Beraters Pater Basilius Streithofen von 1990, der
sagte, Juden und Polen seien die größten Ausbeuter des
Steuerzahlers. Später bekräftigte er noch, es müsse "einmal Schluß
mit der Vergangenheitsbewältigung sein" und daß er zu seiner
Äußerung, daß die Juden die Deutschen ausbeuten stehe.
Das Einfordern des reflektierenden
Gedenkens an Opfer und Tat wird als unmenschliche Rache empfunden,
so folgerte Adorno:
"Brutal waren also nicht die
SS-Leute, die die Juden marterten, sondern die Juden, die angeblich
die Deutschen zwangen, die Untaten der SS zur Kenntnis zu nehmen."
Während sich die Deutschen endlich
Versöhnung, Normalität und Schlußstrich ersehnen, die Begriffe
stehen alle synonym für die Verweigerung der Auseinandersetzung,
wollen sich also die Juden am Holocaust bereichern. Stets scheinen
im sekundären Antisemitismus auch jene Motive auf, die zu Auschwitz
führten. Welche Wirkungsmacht sie bekommen liegt nicht zuletzt an
den innen- und außenpolitischen Konstellationen.
Gerade erst vor 52 Jahren ist der
Holocaust militärisch beendet worden. Politik in Deutschland wird
auf unabsehbare Zeit Politik nach Auschwitz sein. Gegen
Antisemitismus, die Revision der Geschichte und gegen den
Rechtsextremismus der Mitte ist noch immer die Zeit den
kategorischen Imperativ Adornos zu setzen:
"Denken und Handeln so einzurichten, daß sich Auschwitz nicht
wiederhole, nichts ähnliches geschehe". Aufgearbeitet wäre die
Vergangenheit jedoch "erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen
beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann
bis heute nicht gebrochen".
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