Zur Tradierung falscher Opferzahlen:
Die "Kristallnacht"-Lüge
Prof. Dr. Meier Schwarz,
Synagogue Memorial Jerusalem
in Zusammenarbeit mit Karin Lange
Die Geschehnisse, die sich in der Nacht vom 09. auf den
10. November 1938 in Deutschland zutrugen, werden in der
Geschichtsschreibung auch heute noch häufig unter dem euphemistischen
Begriff der "(Reichs-)Kristallnacht" zusammengefasst. Horst Stuckmann nennt
das Wort "Kristallnacht" eine "verharmlosende Bezeichnung, die suggerieren
soll, als seien damals lediglich einige Fensterscheiben zu Bruch gegangen."
(1) Der Ausdruck verschleiert jene Greueltaten, die an
jüdischen Mitbürgern verübt wurden und sollte deshalb durch den Begriff
Pogromnacht oder Novemberpogrom ersetzt werden.
Avraham Barkai bemerkt dazu in seiner Abhandlung
"Schicksalsjahr 1938" folgendes: "'Kristallnacht'! Das funkelt, blitzt und
glitzert wie bei einem Fest! Es wäre längst Zeit, daß diese
böswillig-verharmlosende Bezeichnung zumindest aus der Geschichtsschreibung
verschwände." (2) Mehr als 60 Jahre nach dem
Pogrom muss jedoch nicht nur im sprachlichen Bereich aufgeräumt werden. Noch
viel wichtiger erscheint es, endlich umfassend über die "Kristallnacht"-Lüge
zu informieren, welche für die Tradierung falscher Angaben über die Anzahl
der Märtyrer und zerstörter Synagogen Verantwortung trägt.
Der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich erwähnt
am 11. November 1938 in einer vorläufigen Bilanz des landesweit
durchgeführten und genau geplanten Pogroms, dass es 36 Todesfälle und
außerdem 36 Schwerverletzte unter der jüdischen Bevölkerung gegeben habe. (3)
Obwohl bereits der Geheimbericht des Obersten Parteigerichts vom 13. Februar
1939, der von 91 Toten spricht (4), die Zahl 36
revidierte, wurde sie jahrelang in der Literatur als endgültige Opferzahl
übermittelt und selbst von WissenschaftlerInnen immer wieder getreulich
abgeschrieben. Das Simon Wiesenthal Center beispielsweise führt in einer
Gedenkschrift zum 50. Jahrestag der Pogromnacht an, dass 36 Juden getötet
wurden. Darüber hinaus wird ohne Angabe der Quellen darauf hingewiesen, dass
in einigen Schriften die Zahl bei 91 liegt. (5)
Dies ist die in der Literatur am häufigsten erwähnte Zahl, die jedoch weit
von der tatsächlichen Zahl der Opfer des Pogroms entfernt ist. Diese
falsche, durch Manipulation in Umlauf gebrachte Zahl wurde selbst dann noch
immer wieder unter dem Deckmantel des neuesten wissenschaftlichen Standes
publiziert, nachdem Hermann Graml bereits 1988 darauf aufmerksam gemacht
hatte, dass zu den Juden, die unmittelbar in der Nacht vom 09. zum 10.
November 1938 ums Leben gekommen sind, auch jene als direkte Opfer der
Maßnahmen jener Nacht gelten müssen, die von der Gestapo in die
Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gebracht wurden und
dort an den Folgen von Misshandlungen verstarben. Graml versteht, dass es
mehrere hundert Menschen gewesen sind, die aus den Konzentrationslagern
nicht mehr nach Hause zurückkehrten.(6)
Auch Wolfgang Benz stellt 1988 Bemühungen an, die Zahl der
Toten des Pogroms in die richtige Richtung zu korrigieren. Ihm ist es
wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei der Ermittlung der tatsächlichen
Opferzahl nicht nur jene mit eingerechnet werden, die ihren Folgeschäden und
schweren Verletzungen erlagen, sondern auch jene Menschen, die sich in den
Wochen nach dem Pogrom das Leben nahmen. (7)
Selbstmordopfer jener Zeit "müssen als direkte Opfer des Pogroms gelten" (8).
Heinz Lauber erkannte bereits 1981, dass sich die "Zahl der Freitode in
direktem und vor allem indirektem Zusammenhang mit dem Judenpogrom November
1938" (9) kaum noch rekonstruieren lässt. Dennoch
war die Erkenntnis, dass sowohl die verübten Anschlussverbrechen an Menschen
jüdischen Glaubens als auch die Selbstmordopfer in der Märtyrerliste
berücksichtigt werden müssen, Ausgangspunkt für die Forschungsarbeit des
Synagogue Memorial. In mühevoller Kleinarbeit fand unsere Arbeitsgruppe bei
der Akteneinsicht in den ehemaligen Konzentrationslagern und durch die
Knüpfung persönlicher Kontakte zu Hinterbliebenen der Opfer heraus, dass in
der Pogromnacht ungefähr 400 Menschen ermordet wurden. Während der Tage nach
dem Pogrom kamen weitere 400 Menschen ums Leben. Unser Team erstellte eine
vorläufige Märtyrerliste der im Konzentrationslager Buchenwald ums Leben
gekommenen Menschen. 207 Juden fanden dort ihren Tod. In Dachau sollen es
185 Todesopfer gewesen sein. Die Zahl der Ermordeten des
Konzentrationslagers Sachsenhausen ist unbekannt. Die korrekte Zahl der
Märtyrer der Kristallnacht lässt sich wohl nicht mehr ermitteln. Wir
vermuten, dass die Anzahl der Opfer des Pogroms bei 1.300 bis 1.500 liegt.
Dem Synagogue Memorial ist daran gelegen, bislang unbekannte Opfer in die
Liste aufzunehmen. Deshalb sind wir dringend auf die Informationen von
Angehörigen angewiesen. Uns ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen,
dass sogar die Namenliste der deutschen jüdischen Mitbürger, die im
Holocaust ums Leben kamen, nicht die Namen der Opfer des Pogroms enthält, da
der Novemberpogrom noch 'vor' den Beginn des Holocaust datiert wird. Wir
wissen jedoch längst, dass die "brennenden Synagogen […] Voraussignal für
Auschwitz" (10) waren.
|
Anzahl der in Folge der Pogromnacht
inhaftierten Juden |
Anzahl der entlassenen Juden |
Menschen, deren Schicksal nicht bekannt
ist |
Anzahl der Ermordeten |
Dachau |
10.911 |
10.415 |
496 |
176 |
Buchenwald |
9.845 |
8.311 |
1.534 |
207 |
Sachsenhausen |
ca. 10.000 |
unbekannt |
|
unbekannt |
Die Zahlen der Tabelle stützen sich auf die
Forschungsarbeit von Prof. Dr. Meier Schwarz und dem Synagogue Memorial.
Auch in der Geschichtsschreibung über die Anzahl der im
Novemberpogrom niedergebrannten oder zerstörten Synagogen haben sich falsche
Angaben eingeschlichen, die dann immer wieder unkritisch übernommen wurden.
In dem bereits erwähnten Brief Heydrichs an Hermann Göring vom 11. November
1938 heißt die vorläufige unvollständige Bilanz, die nur die bis zu diesem
Zeitpunkt eingegangenen Meldungen berücksichtigte: "An Synagogen wurden 191
in Brand gesteckt, weitere 76 vollständig demoliert." (11)
Diese insgesamt 267 ruinierten Synagogen werden in der Literatur bis heute
oftmals als endgültig ermitteltes Ergebnis aufgeführt. Wenn
WissenschaftlerInnen diese Zahlen 'getreulich' immer wieder abschreiben,
ohne sie jemals anzuzweifeln und ohne jemals Versuche zu unternehmen, die
Zahlen zu überprüfen, so zeugt dies eindeutig von wissenschaftlicher
Nachlässigkeit. Die falsche Zahl wurde auch dann noch hartnäckig
weitertradiert, nachdem Avraham Barkai 1988 darauf hingewiesen hatte, dass
in der Pogromnacht "fast alle noch bestehenden Synagogen, ca. 400 an der
Zahl, […] in Flammen" (12) aufgingen. Barkai
leistete mit seiner Veröffentlichung einen Beitrag zur Aufdeckung der
"Kristallnacht"-Lüge. Auch wenn die angegebene Zahl von 400 in Brand
gesetzten Synagogen noch immer weit von der tatsächlichen Zahl entfernt ist,
so stimmt es doch, dass damals bis auf wenige Ausnahmen alle Synagogen den
Schandtaten der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.
Die "Heydrich"-Zahl von 267 zerstörten Synagogen hatte
sich in der Literatur derart durchgesetzt, dass jegliche Veröffentlichungen,
die die Anzahl anhoben, zunächst angezweifelt wurden. Roland Flade schrieb
in einem Kapitel über die Pogromnacht bereits 1987: "Mehr als 1000 jüdische
Gotteshäuser werden in Brand gesteckt oder verwüstet" (13).
Leider lässt Flade an dieser Stelle unerwähnt, ob er dieses Ergebnis eigener
Forschungsarbeit verdankt oder ob er sich auf andere Quellen beruft. Die
Zahl 1.000 war in den 80er Jahren unter WissenschaftlerInnen noch derart
unvorstellbar, dass Wolfgang Kraus in einem Fußnotentext zu einer 1988
erschienenen Arbeitshilfe für Unterricht und Gemeindearbeit sogar folgende
Vermutung anstellt: "Flades Angabe der Zerstörung von 1000 Synagogen, [sic]
dürfte ein Versehen sein." (14) Nach jahrelanger
Forschungsarbeit fand das Synagogue Memorial, das an einem 8-bändigen
Synagogen-Gedenkbuch für Deutschland arbeitet, (der erste Band über
Nordrhein-Westfalen erschien 1999) heraus, dass im Novemberpogrom in
Deutschland 1.406 Synagogen und Betstuben niedergebrannt oder vollständig
zerstört wurden. Jeder einzelnen dieser Synagogen und Synagogengemeinden
soll in dem Gedenkbuch eine Art 'Gedenkstein' gewidmet werden. Wir sehen es
als unsere Pflicht an, dem durch die Nationalsozialisten vernichteten
jüdischen Kulturgut 64 Jahre nach dem Terror ein ehrwürdiges Andenken
zukommen zu lassen.
Die Schmach jenes grauenvollen, blutigen Pogroms war
derart groß, dass die Narben dieses Unglücks wohl niemals vollständig
verheilen können. Allerdings ist es wichtig, dass sowohl alle
Menschenschicksale als auch die Opfer, die die jüdische Kultur und
Architektur im Novemberpogrom bringen mussten, in der Literatur vollständig
Erwähnung finden. Hätte die Bevölkerung in der Pogromnacht nicht
geschwiegen, hätte ein solcher Holocaust vielleicht verhindert werden
können. Wer Verbrechen mitansieht oder wer sie verschweigt, beteiligt sich
an ihnen! 64 Jahre nach der Pogromnacht darf die Wahrheit nicht länger
verschwiegen werden! Nur wenn wir der Vergangenheit wachsam ins Auge
blicken, können wir einem erneuten Verbrechen dieser Art Vorschub leisten.
Bibliographie:
Barkai, Avraham. "'Schicksalsjahr 1938': Kontinuität und Verschärfung der
wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden". Hrsg. Walter H. Pehle.
Der Judenpogrom 1938: Von der "Reichskristallnacht" zum Völkermord.
Frankfurt am Main, 1988. 94-117.
Benz, Wolfgang. "Der Rückfall in die Barbarei: Bericht über den Pogrom."
Hrsg. Walter H. Pehle. Der Judenpogrom 1938: Von der "Reichskristallnacht"
zum Völkermord. Frankfurt am Main, 1988. 13-51.
Flade, Roland. Die Würzburger Juden: Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur
Gegenwart. Würzburg, 1987.
Freimark, Peter und Kopitzsch, Wolfgang. Der 9./10. November 1938 in
Deutschland: Dokumentation zur "Kristallnacht". Hamburg, 19885.
Gorschenek, Günter und Reimers, Stephan (Hrsg.). Offene Wunden – brennende
Fragen: Juden in Deutschland von 1938 bis heute. Frankfurt am Main, 1989.
Graml, Hermann. Reichskristallnacht: Antisemitismus und Judenverfolgung im
Dritten Reich. München, 1988.
Hofmann, Thomas u.a. (Hrsg.). Pogromnacht und Holocaust: Frankfurt, Weimar,
Buchenwald… Die schwierige Erinnerung an die Stationen der Vernichtung.
Weimar, Köln und Wien, 1994.
Kraus, Wolfgang. "Sachlich-inhaltliche Überlegungen zur
'Reichskristallnacht'". Hrsg. Wolfgang Kraus und Siegfried Bergler. Die
'Reichskristallnacht', 9. November 1938: 50 Jahre danach – was geht mich das
an? Eine Arbeitshilfe für Unterricht und Gemeindearbeit. Neuendettelsau,
1988. 2-12.
Kropat, Wolf-Arno. "Reichskristallnacht": Der Judenpogrom vom 7. bis 10.
November 1938 – Urheber, Täter, Hintergründe. Wiesbaden, 1997.
Lauber, Heinz. Judenpogrom: "Reichskristallnacht" November 1938 in
Großdeutschland: Daten – Fakten – Dokumente – Quellentexte – Thesen und
Bewertungen. Gerlingen, 1981.
Müller, Christiane und Müller, Hans-Jürgen (Hrsg.). Gedenken – Erinnern:
Eine Handreichung aus Anlaß des 60. Jahrestages der Reichspogromnacht.
Neuendettelsau, 1998.
Pätzold, Kurt und Runge, Irene. Pogromnacht 1938. Berlin, 1988.
Simon Wiesenthal Center (Hrsg.). Kristallnacht. November 9-10, 1938: A
Resource Book and Program Guide. Los Angeles, 1988.
Stuckmann, Horst. "'Reichskristallnacht' – Beispiel faschistischer
Rassenpolitik". Hrsg. Max Oppenheimer (u.a.). Als die Synagogen brannten:
Antisemitismus und Rassismus gestern und heute. Köln, 19883. 15-35. 15.
Anmerkungen:
(1) Stuckmann, Horst. "'Reichskristallnacht' – Beispiel
faschistischer Rassenpolitik". Hrsg. Max Oppenheimer (u.a.). Als die
Synagogen brannten: Antisemitismus und Rassismus gestern und heute. Köln,
19883. 15-35. 15.
(2) Barkai, Avraham. "'Schicksalsjahr 1938': Kontinuität
und Verschärfung der wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden".
Hrsg. Walter H. Pehle. Der Judenpogrom 1938: Von der "Reichskristallnacht"
zum Völkermord. Frankfurt am Main, 1988. 94-117. 113.
(3) Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei Heydrich
an den Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring am 11. November 1938.
In: Kropat, Wolf-Arno. "Reichskristallnacht": Der Judenpogrom vom 7. bis 10.
November 1938 – Urheber, Täter, Hintergründe. Wiesbaden, 1997. 235.
(4) Kropat, Wolf-Arno. "Reichskristallnacht": Der
Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938 – Urheber, Täter, Hintergründe.
Wiesbaden, 1997. 148.
(5) Simon Wiesenthal Center (Hrsg.). Kristallnacht.
November 9-10, 1938: A Resource Book and Program Guide. Los Angeles, 1988.
5.
(6) Graml, Hermann. Reichskristallnacht: Antisemitismus
und Judenverfolgung im Dritten Reich. München, 1988. 32.
(7) Benz, Wolfgang. "Der Rückfall in die Barbarei: Bericht
über den Pogrom." Hrsg. Walter H. Pehle. Der Judenpogrom 1938: Von der
"Reichskristallnacht" zum Völkermord. Frankfurt am Main, 1988. 13-51. 29.
(8) Stuckmann 15.
(9) Lauber, Heinz. Judenpogrom: "Reichskristallnacht"
November 1938 in Großdeutschland: Daten – Fakten – Dokumente – Quellentexte
– Thesen und Bewertungen. Gerlingen, 1981. 217.
(10) Stuckmann 15.
(11) Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei
Heydrich an den Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring am 11.
November 1938. In: Kropat, Wolf-Arno. "Reichskristallnacht": Der Judenpogrom
vom 7. bis 10. November 1938 – Urheber, Täter, Hintergründe. Wiesbaden,
1997. 235.
(12) Barkai 113.
(13) Flade, Roland. Die Würzburger Juden: Ihre Geschichte
vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg, 1987. 312.
(14) Kraus, Wolfgang. "Sachlich-inhaltliche Überlegungen
zur 'Reichskristallnacht'". Hrsg. Wolfgang Kraus und Siegfried Bergler. Die
'Reichskristallnacht', 9. November 1938: 50 Jahre danach – was geht mich das
an? Eine Arbeitshilfe für Unterricht und Gemeindearbeit. Neuendettelsau,
1988. 2-12. 8.
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