März 1934:
Das Nachwort zur II. Auflage
von Wilhelm Reichs "Massenpsychologie des Faschismus"
Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen
Sexualpolitik
Die Einführung des massenpsychologischen Denkens in
die Arbeiterbewegung findet fetzt dank der Erfolge, die die
massenpsychologische Geschicklichkeit der Nationalsozialisten errang,
mehr Entgegenkommen. Auch hat die Niederlage die jahrelange Erstarrung
der sozialistischen Bewegung im allgemeinen zu lösen begonnen.
Der faschistische Sieg in Deutschland hatte zunächst
eine ansteigende Flut faschistischer Ideologie in den meisten Ländern
zur Folge, die noch anhält; der Generalstreik in Frankreich, der
heldenhafte Kampf der österreichischen Schutzbündler und manche anderen
Erscheinungen waren die ersten Anzeichen dafür, dass der faschistische
Sieg auch das Gegenteil der ersten Wirkung produzierte: eine beginnende
Besinnung der Arbeiterschaft in internationalem Maßstab. Noch immer hat
die faschistische Bewegung großen Vorsprung; nichts wäre daher
gefährlicher als Täuschung über das Zurückbleiben der Arbeiterbewegung.
Ein-und-einviertel Jahre deutscher Faschismus haben die materielle
Gewalt der Ideologie eindeutig demonstriert. Man muss noch viel mehr,
unvergleichlich mehr und besser begreifen, was im ideologischen Prozess
der Gesellschaft vorsichgeht; als hoffnungsvollste Tatsache darf man
buchen, dass überall in den sozialistischen Organisationen, was bis zum
Jahresende nicht behauptet werden konnte, immer reichlicher und mit
größerer Uebung Fragen aufgeworfen und Lösungen gesucht werden.
Als einen Mangel der sich neu formierenden proletarischen Front muss man
vermerken, dass die verschiedenen proletarischen wirtschaftspolitischen
Organisationen eine sehr wichtige, vielleicht entscheidende Tatsache
nicht sehen: dass nämlich erstens fast jede der revolutionären
proletarischen Gruppen ein Stück Wahrheit vertritt: dass zweitens die
Differenzen zwischen diesen Gruppen verschwindend klein sind, gemessen
an der Kluft, die heute noch die großen Fragen und Aufgaben der
politischen Gegenwart von dem durchschnittlichen Verständnis dieser
Fragen und Aufgaben im revolutionären Lager trennt. Es gibt heute ein
Kennzeichen für die künftige Brauchbarkeit revolutionärer Gruppen sowohl
wie einzelner Kämpfer: ihre Stellung zum Vormarsch des Faschismus.
Man darf sagen, wer keine ungelösten Fragen selbst sieht oder sich
zeigen lassen will, ist verloren; wer glaubt, alles verstanden zu haben
und sich gegenüber dem Genossen mit einer abweichenden Meinung im
Besitze hundertprozentiger Klarheit zu befinden, ebenfalls; genau so wie
der, der heute alles verloren gibt. Wer die Gärung, den Umbau im Denken,
den neuen Willen, die überall immer deutlicher zutagetreten, nicht
bemerkt, wer die Umwälzung auch der revolutionären Ideologie, ihre
Anpassung an die Erfordernisse der faschistischen Epoche der
Klassenkämpfe nicht zu begreifen, zu verfolgen, zu erfüllen vermag, wer
hier nicht der Klarheit weiterhilft, ist wenig brauchbar. Er wird die
Sprache der heutigen deutschen Revolutionäre weder begreifen noch
sprechen können. Er wird deshalb auch den nationalsozialistischen
Führern nicht das Empfinden vermitteln können, dass sich über ihnen ein
Verhängnis zu bilden beginnt, dem sie nicht mehr entgehen werden: die
Lösung der Fesseln, die das Denken des deutschen Sozialismus
jahrzehntelang unterbunden hatten. Vielleicht die gefährlichste Fessel
war der unerschütterliche Glaube an die Naturnotwendigkeit des
sozialistischen Sieges; dass auch der Einbruch der Barbarei möglich ist
und der Untergang beider Klassen in ihr, jene geniale These des
kommunistischen Manifestes, hatte man vergessen. Vor über 85 Jahren
hatten Marx u. Engels geschrieben:
"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von
Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Zunftbürger
und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem
Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten,
bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären
Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen
Untergang der kämpfenden Klassen."
Es ist von sachlichem Interesse, dass die Publikation
dieses Buches, im besonderen die Feststellung der erlittenen Niederlage,
meinen Ausschluss aus der kommunistischen Partei zur Folge hatte; die
Begründung lautete, meine Anschauungen wären "konterrevolutionär". Die
Einsicht, dass Empörung über derartige Urteile keinen Schritt
weiterführt, dass man vielmehr begreifen muss, wie eine revolutionäre
Organisation zu solchen Urteilen kommen kann, brachte mich insofern ein
Stück weiter, als ich nun zu verstehen glaube, weshalb die
kommunistische Internationale an der These festhält, dass wir mitten im
"revolutionären Aufschwung" stehen und nicht mitten in einer
katastrophalen faschistischen Flut. Ich versuche im ersten Kapitel zu
zeigen, dass mechanischer Oekonomismus auf der einen Seite immer mit
metaphysischem Psychologismus und Subjektivismus auf der anderen
verknüpft ist. Die besten Mitglieder der kommunistischen Partei glauben
ja nicht an die These vom revolutionären Aufschwung. Vielleicht glaubt
es die Führung. Wenn und insofern sie daran glaubt, ist es nur auf
folgende Weise möglich. Von ihrem mechanisch-oekonomistischen Standpunkt
aus sieht sie nur die grotesken Widersprüche der kapitalistischen
Wirtschaft und ihre Unlösbarkeit innerhalb des Kapitalismus: dies ist
die ökonomistische Stütze der Theorie vom revolutionären Aufschwung:
"Die Verschärfung der wirtschaftlichen Krise m u s s die Revolution
bringen". Von ihrem subjektiven Standpunkt aus, der die kommunistische
Organisation und Ideologie mit der Gesamtheit des Proletariats und
seiner Ideologie immer und überall gleichsetzt, stellt sie fest, dass
sie kämpfen will und auch kämpft. Dass das Zusammenfallen von
Proletariat und revolutionärer Vorhut heute lange nicht verwirklicht ist
und vorerst nur ein Ziel der revolutionären Arbeit darstellt, übersieht
sie konsequent, weil sie sich voll mit der Arbeiterklasse identifiziert
hat und sich für die Arbeiterklasse hält. Das ist eine klare
Wunschvorstellung, die für Wirklichkeit gehalten wird, und wie immer
führt auch hier der Tagtraum nicht zur Bewältigung der Aufgaben, sondern
hindert daran.
Dies ist also die subjektivistische Stütze der Theorie vom
revolutionären Aufschwung.
Da aber die Arbeiterklasse ohne geschlossene revolutionäre Partei nicht
siegen kann; da eine Partei objektiv nicht revolutionär wirkt, wenn sie
Tagträumen und Wunschphantasien nachjagt, da heute Proletariat und
revolutionäre Führung weit auseinander fallen; da es geschieht, dass
reformistische Arbeiter revolutionär kämpfen, wie in Österreich, ohne
revolutionäre Führung und Absichten, und revolutionäre Arbeiter sich von
Tagträumern führen lassen und derart nicht zum Kampfe kommen, wie in
Deutschland; da schließlich das wichtigste am echten "revolutionären
Aufschwung", die Verbindung der objektiven wirtschaftlichen Krise mit
den zum Kampfe bereiten Tagträumern fehlt, nämlich die breite Masse der
Industriearbeiterschaft und der Mittelschichten, kann auch nicht von
"revolutionärem Aufschwung" gesprochen werden. Und deshalb wird in
bester Überzeugung ein Buch, das versucht, einige wichtige unverstandene
Fragen zu lösen, die diesen Mangel betreffen, als "konterrevolutionär"
verdammt.
Da wir aber nicht glauben, dass wir schon jetzt
identisch mit der Klasse der Ausgebeuteten sind, da wir vielmehr
überzeugt sind, dass uns noch eine riesenhafte Kluft von ihr trennt,
dass wir mit ihr erst verschmelzen müssen, um den realen, nicht einen
geträumten revolutionären Aufschwung herbeizuführen; da wir erst einen
Bruchteil dessen verstehen, was zur Überbrückung dei Kluft verstanden
und bewältigt werden muss, können wir auch folgenden Tatbestand sehen:
In Deutschland waren dreissig Millionen Menschen antikapitalistisch
gesinnt, und zum Siege kam der Faschismus, die Rettung des Kapitalismus.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen will Frieden, fürchtet den
imperialistischen Krieg, will Wohnungen, Nahrung, ein gesichertes Alter,
gesicherte Kinderaufzucht, sexuelle Lebensfreude - kurz, sie will den
Sozialismus. Sie kann ihn nicht erringen, weil sie sich den Sozialismus
in hundertfältigen Formen subjektiv vorstellt und gestaltet: weil sie
ihn träumt, weil ihr sozialistisches Wollen und die sozialistische
Wirklichkeit noch auseinander fallen, eben durch die hundertfältige
Vorstellung und das hundertfältige Ersehnen des Friedens und Glücks auf
Erden. Dennoch gibt es nur eine Vorstellung vom Sozialismus, nur einen
Weg dazu, die sich mit der Wirklichkeit decken: die marxistische
Oekonomie und die marxsche Staatsauffassung.
Wie und weshalb von dieser sozialistischen
Wirklichkeit hundertfältige Vorstellungen, christlich-soziale,
nationalsozialistische, anarchosyndikalistische, sozialdemokratische,
kommunistische mit "Linie", rechter, linker und "versöhnlerischen"
Abweichung gebildet werden, ist gerade dasjenige Problem, dessen Lösung
d i e Voraussetzung des internationalen Sozialismus ist. Es ist kein
politisch-ökonomisches, sondern ein massenpsychologisches Problem.
Die marxistische politische Oekonomie lehrt
unwiderlegbar, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft die
Ueberführung der Produktionsmittel aus dem privaten in
gesellschaftlichen Besitz zur ersten und wichtigsten Voraussetzung hat.
Die historische Erfahrung lehrt, dass dies auf friedlichem Wege nicht zu
verwirklichen ist, und die russische Revolution bewies diese politische
These des Marxismus positiv. Die politische Psychologie fragt nicht mehr
nur nach dem wirtschaftlichen Gehalt der sozialen Revolution, sondern
darüber hinaus nach der Art, wie er sich in den Menschen der
verschiedenen sozialen Schichtungen darstellt; denn von der praktischen
Beantwortung dieser Frage hängt nicht nur die Verwirklichung der
sozialistischen Planwirtschaft ab, sondern auch die Größe der
Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden sind.
Die Menschen bilden zwar die Gesellschaft, aber sie unterliegen den
Gesetzen, die, nun von ihnen unabhängig, sie beherrschen. Denken und
Struktur dieser Menschen bestimmen Struktur und Form der Gesellschaft,
aber die Struktur und Form der Gesellschaft hält die Menschen gleicher
Struktur zusammen; die Geschichte lehrt immer wieder: Versucht man die
Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft.
Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die
Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.
Was begreiflich ist, denn subjektive menschliche und objektive
gesellschaftliche Struktur sind nicht nur einander gegenseitig Objekt,
sondern auch identisch.
Die sozialdemokratische, nationalsozialistische und vulgärmarxistische
Ideologie trennen nur jeweils einzelne Seiten dieser Beziehung ab und
verselbstständigen sie: Die erste will erst die menschliche Struktur und
dann die gesellschaftliche verändern; sie musste deshalb scheitern. Die
zweite will den Menschen in einem bestimmten, der Masse als
"Sozialismus" erscheinenden Sinne verändern, ohne die Änderung der
Grundlagen der Gesellschaft zuzulassen; sie wird und muss scheitern. Die
dritte will die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft verändern
und die Umstrukturierung des Menschen als beinahe automatisches Ergebnis
davon ernten; sie scheiterte.
Die politische Psychologie kann nicht die politische Ökonomie hinter
sich herschleppen, sie kann sie auch nicht ausschalten und ungestraft
glauben, dass von Gemeinschaftsgeist Reden die Herstellung der
gesellschaftlichen Aneignung der menschlichen Produktion ersetzen kann;
ebenso wenig kann die politische Ökonomie allein dadurch, dass sie
erkennt, welcher Klasse die Führung im Prozess der gesellschaftlichen
Umwälzung kraft ihrer Stellung im Produktionsprozess zukommt, je die
psychischen Voraussetzungen dazu in der notwendigen Mehrheit der
Bevölkerung herstellen; es gelang ihr nicht einmal, eben weil sie dies
nicht erkannte, in tiefster Krise die proletarischen Massen zu gewinnen.
Wenn die Gesellschaftsform nur in der menschlichen Struktur und nicht
anderswie real gegeben und fassbar ist, dann ergibt sich von selbst,
dass der Angriffspunkt der Revolution nicht die gesellschaftliche Form
allein, auch nicht die Änderung der Menschen allein sein kann; die
Widersprüche unseres gesellschaftlichen Seins und die Widersprüche der
menschlichen Struktur und der zwischenmenschlichen Beziehungen sind
massenpsychologisch identisch; es geht dabei um die
politisch-psychologische Weckung und Provokation der menschlichen
Widersprüche; das ist psychologisch dasselbe, als wenn wir soziologisch
sagen, dass sich die Klassengegensätze verschärfen. Die Menschen müssen
sich ihres Leidens derart bewusst werden und zu verzweifeln beginnen,
dass sie über sich selbst hinausspringen und derart die
gesellschaftliche Struktur zerschlagen, um eine neue zu schaffen. Anders
wird es nicht gehen.
Ich weiss, dass dieses Buch nur einen ersten Ansatz
zur Klärung dieser entscheidenden Frage bringt. Wir müssen fürchten,
dass die Hemmung der sozialistischen Entwicklung viel, unvergleichlich
viel tiefer zu suchen ist als im Bürokratismus der sozialistischen
Parteien, der selbst nur ein Ausdruck dieser Hemmung ist und mit ihr
spurlos verschwinden würde. Gerade die Überzeugung von der Tiefe und
Kompliziertheit der Hemmung der Revolution hielt mich ab, die erste
Auflage dieser Schrift schon nach sechs Monaten zu erweitern. Ich habe
auch manche Stellen, die veraltete Beispiele bringen, nicht abgeändert,
um die Diskussion, die jetzt läuft, nicht zu stören. Wir führen sie in
der "Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie", die der
Verlag für Sexualpolitik jetzt herausgibt.
Im März 1934
Wilhelm Reich
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