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haGalilon

Die Holocaust-Travestie:
"Wilkomirski kennt Auschwitz und Majdanek nur als Tourist"

haGalil, 28.04.03

Gedenktage, wie der morgige Jom haShoah in Israel, werden immer öfter zum Anlass genommen, über Formen des Erinnerns und Wandlungen im Gedenkmuster der Gesellschaft nachzusinnen. Dabei ist klar, dass wir uns seit längerem in einer Phase des Umbruchs befinden, was vor allem daran liegt, dass die Generation der Zeitzeugen, der Überlebenden der Shoah, immer kleiner wird. Die Bedeutung der Zeitzeugenschaft, umhüllt von einer Aura des "Authentischen", möchte man nicht unterschätzen. Der Bericht eines Überlebenden mag bei einem Schüler wesentlich mehr Gedanken anschieben, als es ein Besuch in Dachau, Bergen-Belsen oder Auschwitz jemals könnte.

Die Bedeutung von Zeitzeugen wurde auch im Zuge der Affäre um Benjamin Wilkomirskis "Bruchstücke" ausführlich diskutiert. Mittlerweile liegt eine Erzählung Daniel Ganzfrieds, erschienen bei der Jüdischen Verlagsanstalt Berlin, dazu vor, die man zum Anlaß nehmen sollte, sich noch einmal die Kernpunkte des Skandals vor Augen zu führen.

Zur Erinnerung: Im Frühjahr 1995 erschien im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp das ergreifende Büchlein eines Schweizers, der angeblich in Polen geboren wurde und als Kind im Alter von drei Jahren Majdanek und Auschwitz überlebt hat. Er sei danach in die Schweiz gebracht und unter Verschleierung seiner wahren Identität zur Adoption freigegeben worden. Dies alles war in seiner Erinnerung verschüttet, von den Adoptiveltern auszulöschen versucht, erst nach langen Jahren der Psychoanalyse habe er sich erinnern können. Der Name der Autors wurde mittlerweile zum Exempel von "falschen Erinnerungen" ("false memory"), der Begriff "Wilkomirski-Syndrom" macht die Runde.

Im August 1998 erschien Daniel Ganzfrieds Artikel "Die geliehene Holocaust-Biographie" in der Weltwoche. Doch anders als zu vermuten wäre, löste diese hervorragende journalistische Arbeit das Spektakel keineswegs auf. Immerhin konnte Ganzfried zweifelsfrei nachweisen, dass Benjamin Wilkomirski, alias Bruno Doessekker, nicht in Polen, sondern in der Schweiz geboren wurde: "Wilkomirski kennt Auschwitz und Majdanek nur als Tourist." Wilkomirski-Doessekker ließ daraufhin verlautbaren, niemand müsse ihm Glauben schenken, und so wurde das Thema dann auch fortgeführt. Auch wenn alle Fakten, die der logische Menschenverstand erkennen kann, gegen Wilkomirskis Lagervergangenheit sprachen, schenkten ihm viele, darunter einflußreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Glauben. Als ob die Tatsache, in welchem Land man geboren wurde, eine Glaubensfrage sein könnte. Ihren vorläufigen Endpunkt nahm das Holocaust-Drama iIm November 1999, als ein Schweizer Rechtsanwalt schließlich Strafanzeige gegen Bruno Doessekker erstattete, die einen DNA-Test nach sich zog, der zweifelsfrei bewies, dass Wilkomirskis Vater, den man unterdessen auftreiben konnte, ein Schweizer ist, wohnhaft in Biel.

Die Details können in dem von Sebastian Heftis herausgegebenen Band "...alias Wilkomirski" nachgelesen werden, in dessen Kern eine Erzählung von Daniel Ganzfried steht, die seine Recherchen, die Ergebnisse, seine Gespräche mit den einzelnen Beteiligten und seine persönliche Sicht der Dinge wiedergibt. Ergänzt wird das Buch durch verschiedene Zeitungsartikel, die zum Thema erschienen sind, sowie durch Interviews mit Claude Lanzmann und Imre Kertesz.

Viele Aspekte des Skandals um Wilkomirski, der eigentlich niemals zu einem wirklichen Skandal wurde, sind noch nicht genügend ausgesprochen. An erster Stelle steht dabei das Verhalten der Verantwortlichen in den Literaturbetrieben. Alle möglichen Entschuldigungen kursieren seitdem, es könne durchaus sein, dass Wilkomirski kein Shoah-Überlebender sei, dafür ein gebeuteltes Adoptivkind, das aus traumatischer Erfahrung auf diese Geschichte gekommen sei. Wilkomirski glaube fest an seine erfundene Biographie, man könne also nicht wirklich von einer Fälschung sprechen. An was genau er sich erinnerte, als er das Erbe seiner leiblichen Schweizer Mutter einklagte, möchte man offensichtlich besser nicht diskutieren.

Mag sein, dass die ganze Affäre ein Zeichen für die Universalität der Shoah ist. Mag sein, dass Bruno Doessekker eine arme verirrte Seele ist, die in ihrem Trauma gefangen ist. Mag sein, dass es nicht zu den Aufgaben eines Verlages gehört, die Lebensgeschichte eines jeden Autoren detektivisch nachzuprüfen. Unverzeihlich bleibt jedoch, dass man Wilkomirski mit seiner Geschichte durch die Lande hat tingeln lassen, dass man ihn auf Schulklassen losgelassen hat, wo er Schüler und Lehrer zu Tränen rührte, nur damit sie nachher feststellen durften, alles nicht wahr! Unverzeihlich ist der Schaden, den Wilkomirski angerichtet hat und der durch ein paar einfacher Recherchen zu vermeiden gewesen wäre. Unverzeihlich die Sorglosigkeit in einem solch heiklen Fall.

Bleibt zu hoffen, dass nicht nur der Jüdische Verlag bei Suhrkamp aus der Geschichte gelernt hat. Dass man in Zukunft Fiktion und Wirklichkeit auseinander halten kann. Nur dann wird eine Erinnerung an die Shoah möglich sein, wenn die Tendenzen der Verniedlichung, wie "Schindlers Liste" und "Das Leben ist schön", und eine Vermischung mit Fiktion, wie im vorliegenden Fall, als solche entlarvt und verurteilt werden.

Sebastian Hefti (Hrsg.), Daniel Ganzfried: "... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals."
Jüdische Verlagsanstalt, Berlin 2002, Euro 12,90
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