"Tradierung von Geschichtsbewusstsein":
"Bei uns waren sie immer dagegen"
Wie im Familiengespräch aus Zuschauern
und Tätern Helden des alltäglichen Widerstandes wurden
Von Harald Welzer, Frankfurter Rundschau v.
06.01.2001
Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen werden am
deutschen Familientisch immer noch ausgeblendet: Die jüdischen Mitbürger
sind nach 1933 einfach verschwunden, Großmutter und Großvater waren
eigentlich alltägliche Widerstandskämpfer. Harald Welzer, Professor für
Sozialpsychologie am Psychologischen Institut der Universität Hannover, ist
Leiter des Forschungsprojekts "Tradierung von Geschichtsbewusstsein" und
befragte Familien, deren Namen im folgenden Text verändert wurden. Für die
FR fasst Welzer die Forschungsergebnisse zusammen.
Als ich vor einigen Jahren Lehrveranstaltungen zur
Psychologie von NS-Tätern durchführte, befanden sich einige
Seniorenstudenten unter den Teilnehmern. Mir fiel auf, dass diese zwar sehr
viel und durchaus Kritisches über das "Dritte Reich" zu sagen wussten, aber
regelmäßig leuchtende Augen bekamen und ganz aufgeregt wurden, wenn sie über
ihre eigenen Erfahrungen in der HJ oder bei der Luftwaffe berichteten.
Damals entstand der Gedanke, dass es einen beträchtlichen Unterschied
zwischen emotional bedeutsamen historischen Erfahrungen und kognitiv
angeeignetem Wissen über die Geschichte gibt, und dass dieser Unterschied
auch folgenreich für die Weitergabe des Vergangenen ist: dass also zum
Beispiel in Familien andere Bilder und Vorstellungen von der
nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden als in der Schule
oder in den Medien.
Die von der Volkswagenstiftung geförderte
Mehrgenerationenstudie "Tradierung von Geschichtsbewusstsein" ist also der
Frage nachgegangen, was "ganz normale" Deutsche aus der NS-Vergangenheit
erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon auf dem Wege kommunikativer
Tradierung an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird. In 40
Familiengesprächen und 142 Interviews wurden die Familienangehörigen sowohl
einzeln als auch gemeinsam nach erlebten und überlieferten Geschichten aus
der nationalsozialistischen Vergangenheit gefragt.
In diesen Gesprächen werden insgesamt 2535 Geschichten
erzählt. Nicht wenige davon verändern sich auf ihrem Weg von Generation zu
Generation so, dass aus Antisemiten Widerstandskämpfer und aus
Gestapo-Beamten Judenbeschützer werden. In den Gesprächen finden sich zwei
Beispiele, in denen die Zeitzeugen im Familiengespräch von Morden erzählen,
die sie begangen haben, und es finden sich Berichte von Erschießungen, aber
all das hinterlässt in den Einzelinterviews mit den Kindern und Enkeln
keinerlei Spuren - es ist, als hätten sie diese Erzählungen gar nicht
gehört. Wohl aber nutzen sie jeden auch noch so entlegenen Hinweis darauf,
dass ihre Großeltern etwas "Gutes" getan haben, um Versionen der
Vergangenheit zu erfinden, in denen diese stets als integre, gute Menschen
auftreten. Ich nenne den Vorgang, in dem aus antisemitischen Großeltern und
Eltern in den Augen ihrer Kinder und Enkel Widerstandskämpfer werden,
"kumulative Heroisierung", und solche "kumulativen Heroisierungen" kommen in
26 der 40 befragten Familien vor, also in knapp zwei Dritteln aller Fälle.
Heroisierungsgeschichten machen etwa 15 % aller erzählten Geschichten in den
Interviews und Familiengesprächen aus, zusammen mit den Opfergeschichten,
die ca. 50 % ausmachen, handeln also zwei Drittel aller erzählten
Geschichten davon, dass die Familienangehörigen aus der Zeitzeugengeneration
und ihre Verwandten entweder Opfer der NS-Vergangenheit und/oder Helden des
alltäglichen Widerstands waren.
Geschichten und Episoden des "Dagegenseins" sind in der
Sicht der Enkel eingebettet in die Vorstellung, dass jegliches nonkonformes
Verhalten, vom "Mund aufmachen" bis zum "Juden decken", vom fortgesetzten
"beim Juden kaufen" bis zum Widerstand gegen Vorgesetzte und
"150-prozentige" Nazis, immer schärfste Konsequenzen nach sich zog. Das
heißt, die in der Perspektive ihrer Nachkommen couragiert handelnden
Großeltern befanden sich selbst dauernd in Gefahr, auf Grund ihrer
Einstellung und ihres Verhaltens berufliche Nachteile, Konflikte,
Konzentrationslagerhaft oder gar Todesurteile in Kauf nehmen zu müssen. So
überlegt der 17-jährige Enkel der Familie Groothe: "Ich glaub auf jeden
Fall, dass die meisten Leute trotzdem noch gedacht haben, dass zum Beispiel
Juden oder so was Menschen sind und so. Aber als Einzelner konnte man sich
ja nicht wehren. Als Einzelner konnte man ja nichts machen. Man konnte
sagen: Ich finde das schlecht. Dann wurde man eingesperrt und wahrscheinlich
danach erschossen."
Diese Einschätzung ist selbst schon Produkt einer
Generationen übergreifenden Tradierungskette. Auch die Zeitzeugen zeichnen
in unseren Gesprächen ihre Eltern als Personen, die "dagegen" waren. Das
kann so weit gehen, dass selbst ein "alter Kämpfer" und "überzeugter
Nationalsozialist", der schon 1931 Ortsgruppenleiter der NSDAP war, als
jemand dargestellt wird, der sich stets gegen "die Nazis" einsetzte und zum
Beispiel weiterhin "bei Juden" einkaufte, mit dem "jüdischen Viehhändler
Geschäfte machte" und schließlich, nach der Auffassung seines Urenkels,
Juden "gedeckt" hat.
Viele Geschichten werden auf ihrem Weg durch die
Generationen so verändert, dass sie am Ende einen ganz neuen Plot bekommen.
Hierzu einige Beispiele: Im Gespräch mit der Familie Renz erzählt der
Großvater, Josef Renz, von seinem Kriegseinsatz im Osten. Seine Einheit
operierte, wie man an den Orten ablesen kann, an denen er gewesen ist, an
allen wichtigen Stationen des Vernichtungskrieges, und Herr Renz erzählt
auch von Erschießungen, auf die ihn jemand aufmerksam gemacht habe: "Komm
her, komm her, da hinten, da werden welche erschossen, wollen wir mal
hingehen." Josef Renz erzählt weiter, es habe sich bei den Opfern wohl um
Partisanen gehandelt, die auch Kameraden von ihm ermordet hätten und
überlegt dann: "Wenn ich nun kommandiert worden wäre, das hätte möglich sein
können, da hab ich mir manchmal überlegt, was machst du?"
Bemerkenswert an dieser Erzählung ist, dass keiner der
Zuhörer nachfragt, wie und warum Herr Renz Zeuge von Erschießungen werden
konnte, welche Aufgaben seine Einheit hatte usw. Noch interessanter ist,
dass noch nicht einmal die Einleitung der Geschichte ("da werden welche
erschossen, wollen wir mal hingehen") in irgendeiner Weise als problematisch
erscheint. Die Zuhörer interessieren sich im weiteren Verlauf lediglich für
die moralische Frage, die Herr Renz am Ende aufgeworfen hatte: Hätte er
geschossen, wenn es ihm befohlen worden wäre?
Genau dieses Problem beschäftigt später im Einzelinterview
auch die Tochter Vera Jung: "Was würdest Du tun, wenn Du angegriffen wirst?
Würdest Du Dich wehren oder würdest Du dastehen und sagen: ‚Ja, ich schieße
nicht, weil . . .' Und da haben mein Vater und ich oft drüber gesprochen,
aber das ist nie zu einem Ergebnis gekommen, was man wirklich machen würde."
Hier ist von der Ausgangssituation, in der die
Erschießungsszene beschrieben wird, nichts mehr übriggeblieben. Erhalten hat
sich lediglich das moralische Dilemma, aber auch das hat sich gewandelt. Es
geht nun nicht mehr um die Frage: Erschießung auf Befehl oder Verweigerung,
sondern um die moralisch ganz anders gelagerte Frage, ob man sich nach einem
Angriff wehren darf oder nicht. Vera Jung hat mit dieser Umformatierung der
Fragestellung jeden Konflikt und jeden Verdacht, der in der ursprünglichen
Erzählung lag, systematisch beseitigt und die Problematik auf eine höchst
allgemeine Ebene verschoben. Es geht nun keineswegs um die Frage, "hat er
oder hat er nicht?", und auch nicht mehr, wie noch im Familiengespräch, um
die Frage, "hätte er oder hätte er nicht?", sondern lediglich noch um das
Verhalten in einer Notwehrsituation - und Notwehr lag ja bei der
Erschießung, über die Josef Renz erzählt hatte, nun ganz bestimmt nicht vor.
Verschiebt Vera Jung das Problem des moralischen Dilemmas
auf eine Ebene, die nichts mehr mit einer Erschießung, sondern nur noch mit
der Frage des Schießens in Notwehr zu tun hat, bekommt die ursprüngliche
Geschichte im Interview mit dem Enkel Ulrich Jung eine wiederum veränderte,
nun aber ganz entschiedene Gestalt: "Dass Opa halt nie auf Leute schießen
musste und dass er das auch nicht gemacht hätte."
Hier ist das Verhalten des Großvaters im Krieg eindeutig
geworden: Ganz zweifellos, so sieht es der Enkel, musste sein Großvater "nie
auf Leute schießen", und wenn er gemusst hätte, hätte er es ebenso
zweifellos nicht getan. Josef Renz steht in der Sicht seines Enkelkindes
besser da als in seiner eigenen, und vor dem Hintergrund des stilisierten
Dilemmas "schießen oder nicht schießen" bleibt das Skandalöse der
geschilderten Handlung, mal hinzugehen und zuzuschauen, wie Menschen
erschossen werden, gänzlich unproblematisch. In den Folgeinterviews wird es
an keiner Stelle erwähnt.
Ein anderer Fall: Frau Jannowitz, Jahrgang 1927, erzählt:
"Dann kam der Krieg. Und mein einschneidendes Erlebnis war das Verschwinden
einer jüdischen Familie, die mit meinen Eltern befreundet war, die dann 1939
sozusagen im letzten Moment ins Ausland gingen. Und auch mit Hilfe von
meinen Eltern." Gegen Ende des Gesprächs kommt die Interviewerin noch einmal
auf diese Geschichte zurück und fragt, worin denn die Hilfe der Eltern
konkret bestanden habe. Frau Jannowitz erzählt: "Also, sie konnten ganz
regulär ausreisen. Und das ist eben das, wobei wir ihnen helfen konnten, mit
den notwendigen Papieren. Der Bruder meiner Mutter war ein
Verwaltungsmensch. Und irgendwie ist er in den Verwaltungsapparat der
Gestapo geraten, obwohl meine Mutter immer versucht hat, ihn davon
abzubringen. Aber es ist ihr nicht gelungen. Der war im Grunde genommen kein
Nazi, aber natürlich ist er in die Partei eingetreten, ich glaube, es ging
einfach um finanzielle Geschichten. Er hat dort einfach wahrscheinlich gut
verdienen können. Jedenfalls weiß ich, dass er in der Stelle saß, wo eben
auch diese Anträge auf Ausreise von den Juden landeten. Und auf diese Weise
hat er mitgeholfen, dass die ausreisen konnten und sogar ihren Hausrat und
alles mitnehmen konnten."
Auch wenn es vor dem Hintergrund solcher "Beziehungen" zu
der Behörde (vermutlich der Berliner Reichszentrale für jüdische
Auswanderung), in dem der Onkel von Frau Jannowitz gearbeitet hat, nicht
unwahrscheinlich ist, dass die Familie Jannowitz einer "befreundeten"
jüdischen Familie bei den Ausreiseformalitäten geholfen hat, bleibt doch
auffällig, dass der Kontext der Handlung für die Erzählerin völlig
unproblematisch ist. Zwar hält sie es für notwendig, zu erklären, warum ihr
Onkel bei der Gestapo war, zumal er ja "im Grunde genommen kein Nazi" war,
aber im Zentrum ihrer Erzählung steht die Unterstützung, die ihre Familie
mit Hilfe dieses Gestapo-Beamten für die jüdische Familie leistet.
Bemerkenswert ist hier, wie in vielen analogen Geschichten, dass der Rahmen
der geschilderten Handlungen genauso wenig als problematisch empfunden wird,
wie die Funktion, in der die einzelnen Akteure auftreten: Die Verfolgung und
Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ist in diesen Erzählungen einfach ein
Tatbestand, der weder weiter erklärungsbedürftig noch irgendwie
problematisch ist. Wichtig ist den Erzählern allein, hervorheben zu können,
dass sie selbst oder eben Personen, die ihnen nahe standen, innerhalb dieses
gegebenen Rahmens hilfsbereit und engagiert gehandelt haben.
Die Bedeutung solcher Geschichten für die Tradierung der
Vergangenheit erschließt sich unmittelbar, wenn der 1955 geborene Matthias
Jannowitz im Einzelinterview zu dem Schluss kommt, "dass es natürlich
kompliziert ist. Weil es gab ja Widerstandsgeschichten bis in die Gestapo
rein. Und das ist natürlich auch das Problem, wenn man also in Diktaturen
sich bewegt, dass das dann mitunter nötig ist, also so Doppelstrategien zu
fahren."
Wir haben es hier mit einer vollständig zirkulären
Argumentation zu tun: Ein Familienangehöriger ist selbst dann kein "Nazi",
wenn er bei der Gestapo die "Ausreise" von Juden betreibt. Im Gegenteil
nutzt er aus der Sicht seiner Nichte seine Position, um zu helfen. Deren
Sohn nun generalisiert das Beispiel seines Onkels zu dem allgemeinen Befund,
dass es in totalitären Systemen gelegentlich notwendig sein kann, scheinbar
mitzutun, um Widerstand leisten zu können - womit Frau Jannowitz' Onkel in
der Sicht seines Großneffen nicht mehr nur ein hilfsbereiter Gestapo-Beamter
ist, wie in der Optik der Zeitzeugin, sondern jemand, der Widerstand
leistet, indem er Gestapo-Beamter wird.
Diese Heroisierungstendenz bildet sich in vielen
Umdichtungen ab, die die von den Großeltern erzählten Geschichten auf ihrem
Weg durch die Generationen durchlaufen. Die vielleicht spektakulärste
liefert die Familie Krug, in der die 92-jährige Großmutter erzählt, wie sie
es mit List vermeiden konnte, dass nach der Befreiung des Lagers
Bergen-Belsen ehemalige jüdische Häftlinge bei ihr einquartiert wurden -
weil sie diese, wie sie sagt, "widerlich" fand: "Die Juden waren die
Schlimmsten, die haben uns richtig schikaniert!" In der Nacherzählung durch
ihre 26-jährige Enkelin Silvia wird daraus eine abenteuerliche Geschichte,
die darin gipfelt, dass ihre Oma unter Einsatz ihres eigenen Lebens noch in
der NS-Zeit einen entflohenen jüdischen Häftling bei sich versteckt hat: ".
. . hat die den dann echt versteckt. Und es kamen halt auch Leute und haben
den gesucht bei ihr auf 'm Hof und sie hat da echt dicht gehalten, und das,
find' ich, ist so 'ne kleine Tat, die ich ihr echt total gut anrechne."
Kumulative Heroisierungen vollziehen sich oft verblüffend
schnell und umstandslos, und dabei werden, wie im Fall von Silvia Hoffmann,
die eigentlich problematischen Aspekte der Erzählungen weggestrichen und
neue Plots arrangiert, die das facettenreiche und ambivalente, oft
fragwürdige Erzählmaterial der ursprünglichen Geschichten auf moralisch
eindeutige Handlungen der Großeltern reduzieren - und zwar auf eindeutig
positive.
Aber woraus resultiert dieses Bedürfnis besonders der
Enkel, ihre Großeltern zu Helden des alltäglichen Widerstands zu machen?
Solche Nachdichtungen gehörter Geschichten werden gerade deswegen
vorgenommen, weil die Angehörigen der Kinder- und Enkelgeneration in den
Interviews keinerlei Zweifel daran erkennen lassen, dass der
Nationalsozialismus ein verbrecherisches System und der Holocaust ein
maßstabsloses Verbrechen gewesen ist. Diese durch den Geschichtsunterricht,
die Medien und die offizielle Gedenkkultur standardisierte Bewertung der
NS-Vergangenheit bricht sich nicht nur an der aus ihr folgenden Frage,
welche Rolle denn die eigenen Großeltern in dieser Zeit gespielt haben, sie
ruft geradezu das subjektive Bedürfnis hervor, dem eigenen Großvater oder
der Großmutter jeweils die Rolle der anderen, der guten Deutschen im
nationalsozialistischen Alltag zuzuweisen. Das gilt gerade für die gut
informierten Angehörigen der Enkelgeneration, von denen einer sagt: "Dass
mein Großvater an diesen Dingen beteiligt gewesen sein soll, das übersteigt
meine Vorstellungskraft."
Und hier zeigt sich eine paradoxe Folge der gelungenen
Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit: Je umfassender das
Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung ist, desto stärker
fordern die familialen Loyalitätsverpflichtungen, Geschichten zu entwickeln,
die beides zu vereinbaren erlauben - die Verbrechen "der Nazis" oder "der
Deutschen" und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern. Diese
doppelte Funktion nun können nur solche Geschichten erfüllen, die die
Angehörigen als Menschen zeichnen, die sich zwar vorsichtig, aber couragiert
über die zeitgenössischen Normen hinweggesetzt und die in ihrem praktischen
Verhalten gegen das System gehandelt haben, auch wenn sie nach
Parteizugehörigkeit und Funktion alles andere als Gegner des Systems waren.
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen?
Zunächst einmal der, dass der Ruf nach mehr Aufklärung nicht der Schlüssel
für die Lösung des Problems des Rechtsextremismus ist. Eine politische
Haltung zu haben, ist nicht deckungsgleich mit Wissen über Geschichte,
sondern hat viel mehr mit Gefühlen, Ängsten, Gerechtigkeitsvorstellungen,
Normen etc. zu tun, wie sie in den verschiedenen sozialen Umfeldern und
besonders natürlich in der Familie vermittelt werden. Das familiale Gespräch
stellt zwar nicht das gesamte Wissen über die nationalsozialistische
Vergangenheit bereit, bildet aber den Rahmen, in dem das in der Schule und
über die Medien vermittelte Wissen gedeutet wird. Vor diesem Hintergrund
lässt sich sagen, dass die Aufklärung über das "Dritte Reich" und über den
Holocaust an eine kritische Grenze gekommen ist - mehr Information ist nicht
nötig und erzeugt möglicherweise sogar kontraproduktive Effekte.
Im Gegenteil sollte sensibler darauf geachtet werden,
welche Wirkung das massierte Angebot an Informationen bei den Jugendlichen
erzeugt - wenn zum Beispiel ein 21-Jähriger im Interview erzählt, weshalb er
gern Geschichtsdokumentationen zum "Dritten Reich" anschaut: ". . . wie die
die Menschen begeistert haben! Das war doch klasse, wie die das geschafft
haben. Wie sie alle geschrieen haben ‚Heil Hitler' und ‚Sieg Heil'! Und
diese Begeisterung der Menschen macht irgendwie das Faszinierende, wie stark
dann dieses Volk war. Denn die haben ja alle Angst vor uns gehabt."
Rechtsextreme Jugendliche können die Informationsflut
durchaus auf ihre Weise als Handlungsanleitungen interpretieren und den
Besuch in KZ-Gedenkstätten als Anschauungsunterricht dafür begreifen, wie
ihrer Ansicht nach mit Andersdenkenden und Andersaussehenden zu verfahren
ist. Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstelle Buchenwald, hat mit Recht
konstatiert, dass die Gedenkstättenpädagogik in erster Linie die
ungefährdeten Jugendlichen erreicht, vielleicht noch die Schwankenden,
keinesfalls aber die, die schon eine rechtsextreme Orientierung haben.
Die Attraktivität und Zweifellosigkeit der
Vergangenheitsvermittlung in der Familie liegt im Übrigen darin, dass
Geschichte hier beiläufig und absichtslos vermittelt wird - in Familien
werden ja keine Geschichtsstunden abgehalten, sondern es werden aus ganz
verschiedenen Anlässen Geschichten erzählt, die auch die Vergangenheit zum
Gegenstand haben: wie die Großeltern sich im Krieg kennen gelernt haben, wie
der Großvater, obwohl er nicht reich war, an das schöne Haus gekommen ist,
wie er in seiner Funktion als Ortsgruppenleiter der NSDAP "helfen konnte"
usw.
In dieser Beiläufigkeit liegt etwas Zwingendes: Die Bilder
und Vorstellungen, die dabei transportiert werden, erzeugen Gewissheiten,
nicht Wissen, und Gewissheiten sind Kritik gegenüber viel resistenter als
ein Wissen, das eben auch hinterfragt und korrigiert werden kann. Zudem sind
die Geschichten, die in Familien erzählt werden, uneindeutig. Oft ist gar
nicht klar, wo und wann sich das Berichtete zugetragen hat und wer welche
Rolle gespielt hat. Diese Nebelhaftigkeit der Geschichten eröffnet den
Zuhörern die Möglichkeit, sie mit eigenen Bildern und Vorstellungen
anzufüllen und sich die Geschichten anzueignen. Dass dabei ein Bild
entsteht, in dem "die Nazis" immer die anderen waren und der
Nationalsozialismus in den Familien ganz nach dem ideologischen Bild der
verführten Deutschen gezeichnet wird, die das alles nicht gewollt hatten und
geholfen haben, wo sie konnten, ist die eine, höchst problematische Seite
der kumulativen Heroisierung. Die andere ist etwas positiver, denn wenn man
die eigenen Großeltern selbst dann als alltägliche Helden und
Widerstandskämpfer ansieht, wenn sie in Wirklichkeit das genaue Gegenteil
waren, können sie ja für die Enkel als Vorbilder wirken, sich selbst in
Situationen, in denen Zivilcourage erforderlich ist, engagiert und mutig zu
verhalten.
Wenn dagegen im Geschichtsunterricht und in den
allgegenwärtigen Features im Fernsehen scheinbar eindeutige Bilder
vermittelt werden, in denen immer schon klar ist, wer die Guten und wer die
Bösen sind, wird zugleich eine Monumentalität des Grauens vermittelt, das
gar keine Möglichkeit für individuelles Handeln mehr zu beinhalten scheint.
Vor diesem Hintergrund wird es bei der Entwicklung von
geschichtspädagogischen Konzepten in Zukunft nicht einfach um ein Mehr an
Information gehen müssen, sondern um ein Mehr an Facetten des historischen
Alltags, um Handlungsmöglichkeiten, darum, dass Opfer nicht immer und
ausschließlich Opfer, sondern auch handelnde Personen sind.
Daneben weisen unsere Untersuchungsergebnisse auch auf
einen ganz praktischen Aspekt: dass es nämlich unsinnig ist, nur auf die
Jugendlichen zu schauen, wenn es um jugendlichen Rechtsextremismus geht.
Bevor man neue oder einfach nur mehr pädagogische Konzepte
entwickelt, sollte man genauer die sozialen Umfelder studieren, in denen
rechte Jugendliche operieren, und das sind eben nicht zuletzt ihre Familien.
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Erscheinungsdatum 06.01.2001
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