Das Jüdische Museum in Berlin verwandelt sich vom
leeren Gebäude, dessen Leere Lehre sein sollte, in ein Museum, wo man sich
nun nicht mehr nur Leerstellen, sondern auch Exponate anschauen kann.
Endlich kann man die Erinnerung anfassen. Vielen war das leere Gebäude zu
postmodern, zu flüssig, zu leer, zu abstrakt.
Oft wird es gerade Juden unbehaglich, wenn sie zu
verstehen beginnen, dass die Ermordung ihrer Verwandten und Bekannten zum
Anlass genommen wird, Erinnerung in abstrakte Konzepte zu verwandeln. Und
man will sich die eigene Geschichte nicht auf die Jahre der Judenvernichtung
reduzieren lassen. Andere wiederum machen Juden den Vorwurf, dass sie ihre
eigene Erinnerung versteigern, sie zu Kulturindustrie werden lassen und sich
darüber hinaus ideell und materiell an ihr bereichern. Ein wundervoller
Vorwurf, da sich so elegant Antisemitismus hinter Kulturkritik verschanzen
kann.
Aber sowohl jene, die Gedächtnis mit Ethnie und Nation
gleichsetzen, als auch diejenigen, die von Instrumentalisierung und
Ausbeutung der Erinnerungen reden, sind noch in alten Kategorien verfangen.
Die alternative Sichtweise würde Folgendes bedenken: Das Gedächtnis kann
sich aus den ethnischen Grenzen lösen und bekommt im Zeitalter der
Globalisierung neue Bedeutungen, mit denen auch Grundprinzipien einer neuen
Politik im 21. Jahrhundert geschaffen werden können.
Globalisierung ist nicht nur eine Machtstrategie finsterer
Neoliberaler, sondern auch ein neues Wertesystem, in dem Erinnerungen an die
in der Vergangenheit begangenen Gräueltaten zum Schlüssel für
zukunftsbezogene Politik werden. Zur Kosmopolitisierung des Raums kommt nun
auch die Kosmopolitisierung der historischen Zeit, die durchaus erlösenden
Charakter haben kann. Das Jüdische Museum ist daher nicht nur Zeichen der
"eigenen" Geschichte, sondern Teil einer sich aus dem nationalen Container
lösenden Erinnerung. Anders gefragt: Wie kann kollektive Erinnerung im
Zeitalter der Globalisierung beschaffen sein? Kann man überhaupt noch von
einem "Kollektiv" reden, das sich erinnert?
Und warum spielen gerade Juden und die Geschichte ihrer
Vernichtung eine so große Rolle in diesen neuen, Nationen übergreifenden
Erinnerungskulturen? Und dies in einer Zeit, in der das Geld einen großen
Teil Europas vereint. Diese ökonomische Einigung muss wohl auch von
moralischen Interessen untermauert werden.
Es ist gerade die Katastrophe Europas, die zum
Ausgangspunkt neuer Solidarität wird. Gerade Erinnerungen an den Holocaust
werden in einer Epoche ideologischer Ungewissheiten zu einem Maßstab für
humanistische und universalistische Identifikationen. Die Erinnerungen an
den Holocaust erlauben zu Beginn des dritten Jahrtausends die Formierung
Nationen übergreifender Gedächtniskulturen, die wiederum zur Grundlage für
globale Menschenrechtspolitik werden.
Kann es, ja darf es so etwas wie ein globales Gedächtnis
überhaupt geben? Ist der Begriff selbst nicht integraler Bestandteil des
geschlossenen nationalen und ethnischen Verständnisses, das Menschen von
sich haben? Sind es nicht gerade die so genannten kollektiven Erinnerungen,
die als Argument gegen die Möglichkeit globaler Kulturen ins Feld geführt
werden?
Die Museumseröffnung in Berlin ist daher kein isoliertes
und zufälliges Ereignis, sondern verweist vielmehr auf Umorientierung. In
einer Zeit der Ungewissheit haben grundsätzliche Fragen nach Gut und Böse an
Bedeutung gewonnen. Dies macht die zeitgenössische Zentralität der
Holocaust-Erinnerung verständlich und die vielen Metaphern, die mit ihr
einhergehen. Der Holocaust (und seine Assoziation mit "Genozid") ist in
vielen westlichen Staaten zum moralischen Maßstab der Unterscheidung
zwischen Gut und Böse geworden, ein Maßstab, an dem humanistische und
universalistische Ansprüche gemessen werden. Der Holocaust wird so zum
Allgemeingut und erlaubt es Menschen in den verschiedensten Ländern, sich
mit ihm auf unterschiedlichste Weise auseinander zu setzen.
Ist es überhaupt möglich, dass die Erinnerung an den
Holocaust die Basis einer kosmopolitischen Kultur bilden kann? Teil von
Spaß- und Erlebniskultur? Wird die Globalkultur nicht gerade deswegen als
zeitlos und erinnerungslos abgetan? Eine solche Sicht basiert unter anderem
auf einem beschränkten Verständnis von Globalisierung, in dem die Kultur
einer weltweiten Homogenisierung ausgesetzt ist, der nur durch nationale und
ethnische Leitkulturen widersprochen werden kann. Deswegen pocht man auch
auf die Besitzansprüche am Holocaust. Das gilt für das ehemalige
Opferkollektiv, die Juden, die sich gegen jede Universalisierung des
Holocausts wehren. Aber es gilt zugleich für die Nachfahren der Täter, die
sich ihren Holocaust auch nicht nehmen lassen wollen.
Gerade im Fall des Holocausts sind die national geprägten
Bilder - Deutschland als Täternation, Israel als Opfernation - nicht mehr
die einzig relevanten Bilder. Täter und Opfer vermischen sich. Einwanderer,
die Deutsche werden, können und wollen sich nicht als Täter begreifen.
Individualisierungsprozesse lösen die Verbindung zwischen den Generationen
auf. Enkel fühlen sich für die Taten ihrer Großeltern nicht mehr
verantwortlich.
Politisch heißt das auch, dass Palästinenser den Holocaust
umdeuten, so dass sie nun selbst zu "jüdischen" Opfern und die Israelis zu
"deutschen" Tätern werden. Die Konferenz in Durban zeichnet dies dieser Tage
in aller Absurdität nach. Und auch die glorreiche Rolle der amerikanischen
Retter wird ständig von innen und außen in Frage gestellt, insbesondere in
einer Zeit, in der 500 deutsche Soldaten nun diese Retterrolle in Mazedonien
wahrnehmen sollen. Kann es sein, dass die Erinnerung an die von den Nazis
ermordeten Juden zu einem neuen Anker in der Flut der Unsicherheit wird? Und
dass dabei alle Kategorien von Opfern, Tätern und Zuschauern und Rettern
heillos durcheinander geworfen werden?
Kann da ein Jüdisches Museum überhaupt noch mithalten? Die
Antwort ist: Ja. Denn all das Gesagte bedeutet keineswegs, dass Erinnerungen
sinnlos werden. Jenseits der Freude und der Trauer über den Verlust von
bindenden Sinnbildern öffnet sich ein neuer Rahmen, in dem diese Bilder
verstanden werden können. Der Gedächtnisraum erscheint nur dann entleert,
wenn man nicht verstehen will, wie ein kollektives Gedächtnis in der
globalen Welt funktioniert. Kultur kann nicht mehr als ein geschlossener
nationaler Raum verstanden werden. Transnationale Medien, Massenkultur, wie
Filme und Musik, lösen den nationalen Rahmen auf, ohne diesen verlassen zu
müssen. Vorstellungen und Ideen über die Welt geraten mit Vorstellungen und
Ideen über die Nation in Konflikt. Sogar der Fernsehzuschauer, der nie
seinen Heimatort verlässt, muss globale Wertvorstellungen, die an anderen
Orten produziert werden, in den eigenen nationalen Rahmen integrieren. Das
macht auch jede Debatte um Leitkultur so völlig sinnlos. Und das gilt auch
für die Leitkultur des Holocausts.
Das Museum ist daher Teil eines globalen Kulturangebotes.
In einer Zeit, in der geografische und zeitliche Distanzen geringer werden,
werden Ereignisse am einen Ende des Globus fast zeitgleich Menschen am
anderen Ende übermittelt: Das Leiden auf der anderen Seite des Planeten wird
sichtbar.
Natürlich ist der globale Mensch keine Mutter Teresa, aber
die globalen Medien und auch Museen und Mahnmale unterbreiten ein Angebot,
das entweder abgelehnt oder angenommen werden kann. Man hat die Alternative,
mit zu leiden oder teilnahmslos zu bleiben. Aber auch das Ignorieren ist
Anteilnahme. Das Leiden Fremder in der Gegenwart aber muss erklärbar sein,
muss in kognitive Strukturen integriert werden, die sich auf das "Erinnern"
an fremdes Leiden beziehen. Katastrophen der Vergangenheit können so
relevant für die Gegenwart werden und damit eine Zukunft bestimmen, die
jenseits nationalstaatlicher Koordinaten artikuliert wird.
Die Zuschauer werden selbst Teil des Dramas. Das heißt
aber nicht nur, dass man sich "zu Tode amüsiert" (Neil Postman), sondern
dass man sich auch "global sorgt", sich ängstigt, vergleicht, Vergangenheit
zu Zukunft werden lassen kann. Das ist nun die Rolle, die den ermordeten
Juden Europas zukommt. Und ohne die kosmopolitische Zeit, also ohne
Jüdisches Museum und Mahnmal, auch kein Mazedonieneinsatz. Vielleicht ist
auch der Tag nicht weit, wo deutsche kosmopolitische Truppen im Nahen Osten
zwischen Israelis und Palästinensern vermitteln.
Global verfügbare Normen finden ein immer größeres
Publikum und werden dadurch demokratisiert. Globalisierung fördert diese
Entwicklungen, und gleichzeitig ist die Akzeptanz dieser Normen zu einer
notwendigen Bedingung für die Teilnahme an der Globalisierung geworden.
Staaten, die sich diesem Prozess entziehen wollen, sehen sich plötzlich
unter globalem Druck, wie es im Moment gerade auch Israel erfahren muss. Und
dennoch ist es kein Zufall, dass die Erinnerung an den Holocaust eine immer
wichtigere Rolle in einem Nationen übergreifenden globalen Kontext spielt.
Juden stellen für viele (und oft gegen ihren eigenen
Willen) die wichtigsten Träger der kosmopolitischen Erinnerung dar. Deswegen
ist der Holocaust als das bestimmende Unglück für Juden so wichtig, weil er
der ultimative Versuch war, den Kosmopolitismus auszulöschen. Aus diesem
Grunde konnte keine andere Katastrophe diese Rolle der Erinnerung im
globalen Zeitalter übernehmen. Dem Holocaust kommt nun eine moralische
Bedeutung zu, die unabhängig von ihren historischen und territorialen
Ursprüngen ist.
Der Holocaust als Erinnerungsemblem des 20. Jahrhunderts
bestimmt so die Formen der Erinnerung für die Zukunft des 21. Jahrhunderts.
Damit ist er zum Symbol der moralischen Globalisierung geworden. Und sowohl
Daniel Libeskind, der Architekt des Jüdischen Museums, als auch Steven
Spielberg mit seiner Shoah Foundation haben dazu beigetragen.