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Paul
Spiegel am 09-11-2000
Paul
Spiegel, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, am 9. November
2000 vor dem Brandenburger Tor, Berlin
"Heute vor 62
Jahren wurden in ganz Deutschland Synagogen und Gebetshäuser angezündet und
geschändet, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert, es gab zahlreiche
Verhaftungen, mindestens 91 Menschen wurden ermordet. Diese Nacht war das
offizielle Signal zum größten und schlimmsten Völkermord in der Geschichte
der Menschheit.
Am 9. November 1989 wurde nur wenige Meter von hier die von einem anderen
Unrechtsregime errichtete Mauer endlich aufgebrochen. Aus diesem Grund ist
dieses Datum für alle Deutschen auch ein Tag der Freude. Es darf aber
niemals das Gedenken an den 9. November 1938 - an den staatlich
organisierten Pogrom - verdrängen und schon gar nicht zu einem "Feiertag,
9. November" führen. Denn Volksfeststimmung mit Würstchenbuden und
Bierzelten, die der Freude über die Niederreißung der Mauer angemessen sind,
taugen nicht zum Gedenken an die Millionen von Toten des Nazi-Terrors.
Die Erinnerungen an die Geschehnisse von damals werden spontan
gegenwärtig wenn wir die Bilder der letzten Wochen und Monate sehen: Wenn
Synagogen angegriffen und geschändet werden, wie etwa in Lübeck, Erfurt, in
meiner Heimatstadt Düsseldorf und auch hier in Berlin. Wir sehen voll Zorn
und Verbitterung die Bilder, wenn Menschen durch die Straßen gejagt werden,
wenn sie öffentlich geschlagen, immer öfter auch getötet werden.
Können Sie sich vorstellen, welche Erinnerungen diese Verbrechen in uns
Juden auslösen, auslösen müssen? Und dabei meine ich nicht nur meine
Generation, die die Hölle des Holocaust mitmachen musste. Ich meine auch
unsere Kinder und Enkelkinder. Können Sie sich vorstellen, was in uns
vorgeht, wenn wir erleben müssen, wie schon wieder deutsche Menschen unsere
Synagogen anzünden, unsere Friedhöfe schänden, uns Mord- und Bombendrohungen
ins Haus schicken? Können Sie erahnen, was in uns vorgeht, wenn wir sehen,
wie ein Schwarzafrikaner durch deutsche Straßen gehetzt und ermordet wird?
"Wehret den Anfängen" heißt es oft, wenn es um den Kampf gegen
Rechtsextremismus geht. Doch wir sind längst über dieses Stadium hinaus. Was
wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit "Anfängen" zu tun. Wir
befinden uns bereits mittendrin im Kampf gegen Rechts. Bundeskanzler
Schröder forderte vor einigen Wochen einen "Aufstand der Anständigen", er
forderte mehr Zivilcourage – aber was bedeutet das konkret und für den
Einzelnen? Was kann und muss jeder von uns tun?
Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit in diesem Land Rechtsradikalismus,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ablehnt. Aber diese Mehrheit darf
nicht länger schweigen, sie darf nicht länger wegschauen, sie darf nicht
länger die Vorgänge in unserem Land verharmlosen. Das Deutschland des Jahres
2000 ist nicht das Deutschland des Jahres 1938. Die "Berliner Republik" ist
nicht die "Weimarer Republik". Aber wird dieser Staat in zehn Jahren immer
noch eine demokratische, eine offene, eine liberale Republik sein, wie es
die "Bonner Republik" war?
Juden in Deutschland haben trotz all der schrecklichen Vorkommnisse in
den letzten Wochen Vertrauen in dieses Land, zu den verantwortlichen
Politikern und zu seinen Bewohnern. Unsere Eltern haben sich nach dem
schrecklichen Leiden trotz der weltweit verbreiteten Meinung entschlossen,
hier wieder zu leben und jüdische Gemeinden zu gründen. Wir sind nach wie
vor der festen Überzeugung, dass dieser Entschluss richtig und wichtig war.
Wir wollen und dürfen nicht Hitler und seinen Mitverbrechern im Nachhinein
zum Erfolg verhelfen, Deutschland judenrein zu machen. Wir brauchen aber
deutliche Signale, dass die nichtjüdische Bevölkerung in ihrer Mehrheit uns
und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Lande haben wollen.
Wir erinnern uns heute an die Ereignisse am Abend des 9. November 1938,
als die Nazis ihrem Hass auf die Juden für alle sichtbar freien Lauf ließen.
Es war eine staatlich gesteuerte Aktion, die sich auf offener Straße
abspielte, und das deutsche Volk wurde Zeuge, wie die Menschenrechte und die
Menschenwürde im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wurden. Unter
den Gaffern waren jubelnde und johlende Zeugen, andere haben schweigend oder
gleichgültig hingenommen, was geschah. Die Juden wurden in dieser Nacht
nahezu allein gelassen. Bis auf wenige Ausnahmen, darunter mutige
Kirchenmänner wie Bernhard Lichtenberg, hat kaum jemand seinen Unmut, sein
Entsetzen öffentlich zum Ausdruck gebracht. Mir ist bis heute unerklärlich,
wie die nicht-jüdische Bevölkerung nach dieser Nacht in ihrem normalen
Alltag weiterleben konnte.
Nur wenige sind Helden. Nur wenige haben den Mut einzugreifen, wenn sie
Zeuge werden, wie Skinheads einen wehrlosen Mann, eine wehrlose Frau und –
ja auch das mittlerweile - wehrlose Kinder auf offener Straße überfallen und
zusammenschlagen. Aber jeder von uns ist in der Lage, die Polizei zu rufen.
Und jeder von uns ist in der Lage, bereits im Kleinen einzuschreiten, in
seinem Lebensumfeld. Wenn am Stammtisch abfällige Witze über Juden, Türken,
Farbige oder Schwule erzählt werden. Wenn am Arbeitsplatz ein Fremder
benachteiligt, schlecht behandelt wird. Reden Sie mit Ihren Freunden und
Arbeitskollegen, wenn sie dies tun! Reden Sie mit dem Betriebsrat und
demonstrieren Sie somit immer wieder Ihre Opposition! Straßen und
Stammtische dürfen nicht dem braunen Pöbel überlassen werden.
Ich freue mich, dass es so viele sind, die der rechtsextremen Gewalt auf
unseren Straßen mit dieser Demonstration sagen: "Schluss jetzt! Es ist
genug! Wir lassen es uns nicht mehr gefallen, dass hierzulande Menschen
wieder Angst haben müssen!"
Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit nicht inne halten. Denn es geht nicht allein um uns
Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieses
Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land. Wollen
Sie eines Tages von Glatzköpfen und deren Vordenkern regiert werden? Das ist
die Frage, um die es wirklich geht. Nicht wie viele Ausländer dieses Land
verträgt.
Machen Sie Ihre demokratisch gewählten Politiker mitverantwortlich für
das, was hier geschieht. Was nützt es, in einer Sondersitzung des Deutschen
Bundestages nach den Attentaten auf die Synagogen in Düsseldorf und Berlin
in wohlklingenden Reden den Antisemitimus zu verdammen, wenn einige
Politiker am nächsten Tag Worte wählen, die missverstanden werden können?
Wenn sie die Zuwanderungsfrage heute aus taktischen Gründen zum
Wahlkampfthema machen wollen, von so genannten "nützlichen" und "unnützen"
Ausländern faseln.
Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur,
Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten? Geht es um
Kultur oder um die Wertvorstellungen der westlich-demokratischen
Zivilisation, die wir in unserem Grundgesetz fest verankert haben? In
Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: "Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Sie zu schützen ist die Aufgabe staatlicher Gewalt." Die Würde
des Menschen – aller Menschen ist unantastbar, nicht nur die des
mitteleuropäischen Christen!
Wenn dieses Prinzip als deutsche Leitkultur verstanden wird, dann kann
ich das nur befürworten. Dann aber möchte ich alle Politiker in die Pflicht
nehmen, sie auffordern, ihre populistische Sprache zu zügeln und zunächst
einmal dafür zu sorgen, dass dieser Artikel 1 des Grundgesetzes auch
umgesetzt und ernst genommen wird. Politik, Justiz und Polizei sind
gefordert, alles – wirklich alles! – zu unternehmen, um die Würde aller
Menschen in diesem Land zu schützen.
Meine Damen und Herren Politiker: Überlegen Sie, was Sie sagen, und hören
Sie auf, verbal zu zündeln! Schützen Sie die Menschen in diesem Land und
schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit wir alle gemeinsam leben können. Nur
so werden Sie allen
Bürgern, nichtjüdischen und jüdischen, sich selbst und der ganzen Welt
beweisen können, dass dieses Deutschland im Jahr 2000 wirklich eine
demokratische Zukunft hat.
Wir alle sind jeden Tag - an einem Tag wie heute ganz besonders –
aufgefordert, endlich ernst zu machen mit dem Schutz der Menschenwürde. Nur
wenn wir dies auch ernst nehmen, werden Gedenkveranstaltungen wie die
heutige nicht zu inhaltlosen, lästigen Ritualen oder Inszenierungen, sondern
sind sinnvolle Zeichen einer lebendigen und starken Demokratie.
Gedenken heißt immer auch Erinnern. Wir in der jüdischen Gemeinschaft
haben von Kindheit an gelernt, dass Erinnern ein wichtiger Bestandteil
unserer Geschichte ist. Der Talmud sagt: "Das Geheimnis der Erlösung heißt
Erinnerung." Wir sind es den Opfern der Shoa schuldig, sie und ihre Leiden
niemals zu vergessen! Wer diese Opfer vergisst, tötet sie noch einmal!"