Die Politik der ErinnerungVon Amos Elon
In Israel herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der
Enthüllungen über den Holocaust zunächst betroffenes Schweigen - eine
Mischung aus Scheu und Scham.
Ältere Menschen fühlten sich schuldig, weil sie nicht imstande gewesen
waren, die Katastrophe zu verhindern oder in ihren Dimensionen zumindest zu
begrenzen. Jüngere, im Lande geborene Israelis zeigten sich oft unfähig, den
Überlebenden des Holocaust einfühlsam zu begegnen. Das war, jedenfalls
partiell, das Ergebnis zionistischer Erziehung und Propaganda. Generationen
von Jugendlichen waren in dem Glauben aufgewachsen, dass die Existenz der
Diaspora nicht nur eine Katastrophe, sondern auch eine Schande sei. Oft hieß
es, die jüdischen Opfer der Nazis seien wie die Schafe zur Schlachtbank
gegangen. Ein Schulbuch, das mindestens bis Ende der fünfziger Jahre an
israelischen Oberschulen in Gebrauch war, interpretierte die große Klage des
hebräischen Dichters Bialik über das
Pogrom von Kischinew
(1903) folgendermaßen: »Dieses Gedicht beschreibt die gemeine
Brutalität der Angreifer und die schändliche Schmach und Feigheit der Juden
des [osteuropäischen] Schtetl.«
»Schändlich«, »Schmach« und »Feigheit«, das waren die Schlüsselbegriffe,
die auf den Kern der zionistischen Erziehung verwiesen. In der schwankenden
Stimmung von Erinnerung und Ablehnung waren jüngere Israelis anfangs hin-
und hergerissen zwischen Zorn und Scham über ihre verfluchte Vergangenheit.
Manche führende Politiker wurden von Schmerz und Schuldgefühlen geplagt,
dass sie vielleicht mehr hätten tun können, um das Ausmaß der Tragödie
wenigstens zu verringern. Manche sind damit nie fertig geworden.
Der erste Außenminister des Staates Israel, Mosche Scharett, wurde zeit
seines Lebens von solchen Gedanken gepeinigt. Jahrelang quälte ihn der Fall
Joel Brand, des umstrittenen Emissärs, der 1944 aus Ungarn entsandt wurde,
um Eichmanns »Lastwagen gegen Juden«-Vorschlag zu überbringen. Die Engländer
hielten Brand in einem Militärgefängnis in Aleppo fest. Scharett, der ihn
dort verhörte, war überzeugt von Brands Aufrichtigkeit und fand, dass man
zwar Eichmanns Angebot nicht annehmen dürfe, mit Eichmann aber weiter
verhandeln und bluffen müsse, um Zeit zu gewinnen. Immerhin standen die
Russen schon vor den ungarischen Grenzen. Die Briten interessierte das alles
nicht. Aus ihrer Sicht war der Sieg über die Nazis wichtiger als die Rettung
von Juden. Gegen einen solchen Handel wandten sich auch die Russen, die
einen anglo-amerikanischen Separatfrieden mit Deutschland befürchteten. Bis
an sein Lebensende machte Scharett sich Vorwürfe, seine verzweifelten
Appelle vielleicht nicht eindringlich genug formuliert zu haben oder in
seiner Loyalität gegenüber den Westalliierten allzu diszipliniert gewesen zu
sein.
Ende der fünfziger Jahre wich das Schweigen über den Holocaust einer
wortreichen — oft staatlich geförderten - Diskussion über seine
Auswirkungen. Es wurde üblich, vom Holocaust als dem zentralen Trauma der
israelischen Gesellschaft zu sprechen. Seine Auswirkungen auf den Prozess
der Staatswerdung sind nicht hoch genug zu veranschlagen. Tocqueville
schrieb, dass die Umstände der Geburt einer Nation, wie beim Menschen,
großen Einfluss auf ihre Entwicklung haben. In der Zeit, als sich in Israel
ein Großteil des nationalen Ethos und der politischen Sprache herausbildete,
brannten sich Bilder einer wahren Hölle auf den dunklen Grund der Seelen
ein. Die frühen Zionisten hatten sich Israel als einen sicheren Hafen für
verfolgte Juden vorgestellt, aber der Staat war zu spät gegründet worden,
als dass er die Millionen von Toten hätte verhindern können. Bis auf den
heutigen Tag existiert in Israel eine latente Hysterie, die unmittelbar
darauf zurückzuführen ist. Sie erklärt das paranoide Gefühl des
Isoliertseins, das seit 1948 ein Hauptmerkmal der israelischen Gesellschaft
ist. Sie erklärt das übermächtige Misstrauen, die Entschlossenheit, sich nur
auf die eigene Stärke zu verlassen, die (bisweilen in Verachtung
umschlagende) Angst vor Außenseitern, besonders Arabern, und in jüngster
Zeit vor den Palästinensern. Israelis neigen dazu, hinter jedem Araber oder
Palästinenser SS-Männer zu sehen, die nur darauf warten, sie abermals in die
Gaskammern und Verbrennungsöfen zu treiben.
Die Israelis sind natürlich nicht das einzige Volk, das im Schatten einer
traumatischen Vergangenheit lebt. Das Selbstverständnis etwa der Polen oder
Iren hat seine Wurzeln in ähnlichen Bildern von historischem Leid und
Märtyrertum. Der Mord an Millionen Armeniern ist vielleicht die beste
Parallele. Hitler soll gesagt haben: »Wer erinnert sich noch an die Massaker
an den Armeniern?« - also kann man auch die Juden ausrotten. Wenn andere
ebenfalls ausgerottet wurden, so liegt der Fall bei den Juden doch anders,
weil (mit Ausnahme der Zigeuner) nur sie als »Volk«, als »minderwertige
Rasse« zur Vernichtung bestimmt wurden.
Generationen von Juden sind mit dieser düsteren Lehre aufgewachsen: Juden
mussten nicht wegen ihrer Religion oder ihrer Politik sterben oder wegen
ihrer Taten, sondern einfach, weil es sie gab, weil sie existierten. Diese
Botschaft ist ihnen jahrelang und mit weitreichenden politischen,
kulturellen und religiösen Konsequenzen vermittelt worden. Daraus
entwickelte sich eine spezifische politische Sichtweise, eine düstere,
harte, pessimistische Einstellung zum Leben. Der Historiker Jacob Talmon
billigte diese Haltung als einen »göttlichen und kreativen Wahn, der nicht
nur jede Angst und Unschlüssigkeit bannt, sondern in einer Landschaft, die
in ein unheimliches, verzerrendes Licht getaucht ist, auch für einen klaren
Blick sorgt«. Talmon schrieb diese Worte 1960. Als er zwanzig Jahre später
starb, hatte er sie schon längst bedauert. Wenn nämlich die vorherrschende
traumatische Erinnerung an den Holocaust mit den Jahren stärker geworden
war, so wurde sie von Politikern und Ideologen inzwischen auch manipuliert.
Paradoxerweise gewann sie, nach Israels Blitzsieg über drei arabische
Nachbarstaaten im Jahre 1967, im politischen Leben noch mehr an Gewicht.
Talmons »göttlicher und kreativer Wahn« erklärt die Unerschrockenheit und
Energie des jungen Israel. Aber nach 1967 führte er auch zu jenem
engstirnigen und staatlich sanktionierten Egoismus, der nach dem
Sechs-Tage-Krieg und dem Yom-Kippur-Krieg aufkam - zur Paranoia des
»Die-ganze-Welt-ist-gegen-uns«, zur Missachtung der Rechte der Palästinenser
und der Weltöffentlichkeit.
Diese Unversöhnlichkeit war vermutlich einer der Gründe, warum der
Frieden mit Ägypten, der 1971 oder 1972 durchaus möglich gewesen wäre, erst
1978, nach dem furchtbaren Aderlaß des Yom-Kippur-Kriegs, erreicht wurde.
Ich war zufällig Zeuge eines Gesprächs, das 1972 zwischen Richard Crossman,
dem Chef der britischen Labour Party, und einem pensionierten hohen
israelischen Diplomaten stattfand. Crossman, ein alter Freund Israels,
beklagte sich bitter über die israelische Unnachgiebigkeit gegenüber den
Palästinensern, besonders bei der damaligen Ministerpräsidentin Golda Meir.
Der Diplomat nickte erst betrübt, versuchte dann aber, Golda Meirs Härte mit
einem Hinweis auf den Holocaust verständlich zu machen. »Wir sind ein
traumatisiertes Volk«, sagte er. »Verstehen Sie doch!« »Gewiß!« erwiderte
Crossman. »Gewiß, Sie sind ein traumatisiertes Volk! Aber Sie sind ein
traumatisiertes Volk mit einer Atombombe! Solche Leute gehören hinter
Gitter!«
Nach dem Sechs-Tage-Krieg sahen sich die meisten israelischen Politiker
in ihren eigenen Widersprüchen gefangen. Das gleiche Recht auf
Selbstbestimmung, das die Israelis für sich forderten, verweigerten sie
jetzt anderen - im Namen der Erinnerung. Während sie jeden Ansatz, den
Holocaust historisch zu relativieren oder zu vergleichen, vehement
ablehnten, vielmehr darauf bestanden, dass er absolut unvergleichbar sei,
brachten sie es fertig, die Araber als Nazis und Arafat als einen zweiten
Hitler zu bezeichnen. Menachem Begin schrieb während des Libanonkriegs in
einem Brief an Ronald Reagan, er habe, als die israelischen Panzer nach
Beirut rollten, das Gefühl gehabt, als marschiere er in Berlin ein, um
Hitler in seinem Bunker gefangen zu nehmen. Diese Sprache war übrigens nicht
nur für Begin und den Likud typisch. Abba Eban, der moderateste aller
Politiker der Arbeitspartei, bezeichnete die Grenzen vor 1967 - Grenzen, die
es Israel ermöglicht hatten, in nur sechs Tagen drei arabische Armeen zu
vernichten - als »Auschwitz-Grenzen«.
Die Schwierigkeit, sich der Erinnerung an den Holocaust zu stellen,
beeinflusste auch die israelische Geschichtsschreibung. In den ersten zwei
Jahrzehnten wirkten sich die Formeln der zionistischen Ideologie hemmend auf
die israelischen Historiker aus. So entstand eine Reihe von ideologischen
und apologetischen Arbeiten, deren Absicht es war, die historische
Notwendigkeit des jüdischen Staates nachzuweisen. Tom Segev, einer der
führenden israelischen Historiker, hat diese Werke in seiner Studie
Die siebte Million* scharfsinnig analysiert. Obwohl das Thema
Nationalsozialismus eine so beherrschende Rolle in Israel spielt, sind, wie
Segev zeigt, die meisten seriösen Arbeiten jüdischer Autoren zu diesem Thema
nicht in Israel geschrieben worden, und davon wiederum - vielleicht weil sie
nicht ganz den. gängigen Formeln entsprachen - ist nur eine Handvoll ins
Hebräische übersetzt worden, meist mit erheblicher Verspätung. Raul Hilbergs
monumentales Werk über den Holocaust wurde nie übersetzt. Alan Bullocks Buch
über Hitler kam auf hebräisch erst mit zwanzigjähriger Verspätung heraus,
Joachim Fests Hitler erst 1986 - wobei der israelische Verlag es bei Fests
Studie für angebracht hielt, einen Untertitel hinzuzufügen (»Portrat einer
Unperson«), der der Grundthese des Autors widerspricht.
*) Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und
Israels Politik der Erinnerung. Übersetzt von Jürgen Peter Krause und Maja
Ueberle-Pfaff. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995.
Ich erwähne diese Manöver und Verzögerungen nur, weil sie
charakteristisch sind für jene Zeit, eher auf simplifizierende als auf
differenziertere Darstellungen zu setzen. Es brauchte mehr als eine
Generation, bis israelische Historiker imstande waren, die Geschichte des
Holocaust losgelost von ihrer eigenen Biographie zu betrachten.
Die Geschichte aufzuschreiben ist, wie wir alle wissen, eine Möglichkeit,
die erdrückende, oft lähmende Last der Vergangenheit abzuschütteln - »sich
von der Geschichte zu befreien«, wie Benedetto Croce sagt. Die politische
Klasse Israels zögerte jedoch, sich von den Klischees zu lösen. Unter der
rechten Likud-Regierung, die 1978 an die Macht kam, wurde die Erinnerung
immer stärker instrumentalisiert. Ich muss manchmal an die politische
Rhetorik jener Zeit denken, wenn ich die Erklärungen lese, die heute im
ehemaligen Jugoslawien abgegeben werden, in denen immer wieder die Identität
von Geschichte und Schicksal beschworen wird. Menachem Begin pflegte jeden
größeren politischen Akt seiner Regierung - ob im Libanon oder in den
faktisch annektierten besetzten Gebieten - als Meilenstein auf Israels
historischem Marsch »vom Holocaust zur Erlösung« zu bezeichnen. Er
versuchte, den Holocaust auf juristischem Weg der Geschichtsschreibung
wegzunehmen. 1981 wurde ein Gesetz erlassen, welches das Leugnen des
Holocaust unter Strafe stellte, als wäre er kein Thema mehr für Historiker,
sondern, wie Segev schreibt, eine gesetzlich geschützte »Doktrin« nationaler
Wahrheit, eine Staatsreligion. (Das Gesetz scheint die Doktrin sogar besser
zu schützen als die Religion. Die Höchststrafe für »grobe Beleidigung
religiöser Gefühle« - vermutlich also auch für das Leugnen der Existenz
Gottes - ist ein Jahr Gefängnis. Wer den Holocaust leugnet, wird mit
mindestens fünf Jahren bestraft. Beide Gesetze sind im Grunde Ausdruck
politischer Rhetorik: sie sind bis jetzt noch nie angewendet worden).
Die politische Sprache ist noch immer voll von alten Klischees über den
Holocaust. Als General Ehud Barak, der Generalstabschef der israelischen
Armee, im letzten Jahr Auschwitz besuchte und, umringt von Adjutanten und
Fernsehreportern, vor den Verbrennungsöfen stand, erklärte er feierlich.
»Wir sind fünfzig Jahre zu spät gekommen«.
Aus dem gleichen Grunde entwickelte sich in Israel nur sehr langsam eine
Einsicht in den Charakter der Bundesrepublik Deutschland - dass sie ein
Neuanfang war, zudem gar kein so schlechter, eine offene Gesellschaft und
eine relativ gut funktionierende Demokratie, ein komplexes Land, ein Land,
das weniger einem Gemälde von Otto Dix oder George Grosz ähnelte, sondern
eher einem von Anselm Kiefer. In der deutschen Frage war David Ben Gurion
die große Ausnahme unter den israelischen Politikern. Oft widersprach er dem
verbreiteten Feindbild mit dem Hinweis, dass Westdeutschland nunmehr eine
freiheitliche Demokratie sei. Er durfte das aus Gründen der Staatsräson
getan haben, aber auch deswegen, weil er wirklich überzeugt war, dass es
inzwischen ein »anderes« Deutschland gab. Er kam damit nicht sehr weit,
nicht einmal in seiner eigenen Partei. Auch seinen Nachfolger konnte er
nicht davon überzeugen. Wahrend Adenauers Israel-Besuch 1966 kam es m
Jerusalem bei dem offiziellen Essen zu einem bezeichnenden Zwischenfall,
dessen Zeuge ich zufällig wurde. In einer abgelesenen Tischrede würdigte
Ministerpräsident Levi Eschkol Adenauers Wirken in Vergangenheit und
Gegenwart und erklärte dann, dass »es keine Sühne gibt ... Israel wartet auf
weitere Zeichen und Beweise dafür, dass das deutsche Volk die schreckliche
Last der Vergangenheit erkennt und sich einen neuen Weg in die Völkerfamilie
sucht.« Adenauer stellte daraufhin sein Weinglas ab und erklärte, dass er
seinen Besuch abbrechen werde, da Eschkol sein Lebenswerk geleugnet habe.
Eschkol war perplex Die Tischgäste sahen einander betreten an. Eschkol
verstand nicht, was passiert war. Er versuchte Adenauer zu besänftigen:
»Aber ich habe Sie persönlich gepriesen«, sagte er. Das machte alles nur
noch schlimmer. Adenauer verkündete, er habe angeordnet, dass sein Flugzeug
am nächsten Morgen zum Abflug bereitstehen solle. Am Ende brach er seinen
Besuch doch nicht ab. Diplomaten beider Länder steckten in einem Nebenzimmer
die Kopfe zusammen und fanden eine Versöhnungsformel. Aber der Vorfall war
bezeichnend. Es war nicht bloß die Unachtsamkeit eines Redenschreibers oder
die Müdigkeit oder Zerstreutheit eines Politikers.
Levi Eschkol war ein einzigartig humaner, moderater und versöhnlicher
Mensch. Er gehörte zu jener frühen, inzwischen legendären Welle von
Pionieren, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in Palästina niedergelassen und
den ersten Kibbuz gegründet hatten. Anders als Begin oder Schamir hatte er
den Nationalsozialismus nicht am eigenen Leibe erfahren. Aber er war
repräsentativ für Israelis jeden Alters und jeder ethnischen Herkunft, für
die der Holocaust weit mehr bedeutete als nur ein persönliches Trauma. Der
Holocaust war, neben Nationalismus und Religion, einer der drei Eckpfeiler
kollektiver Identität. Viele der hier geborenen Israelis identifizierten
sich, unabhängig von Alter, Herkunft oder Bildung, mit den Opfern des
Holocaust. Viele nichtjüdische Israelis, einschließlich Araber und Drusen,
teilen in einer Art von Osmose diese Haltung.
1978, mit dem scharfen Rechtsruck in der israelischen Politik, wurde die
»Erinnerung« innerhalb des nationalen Rituals und des Erziehungswesens
weiter institutionalisiert. An den Schulen war der Holocaust schon immer
Bestandteil des regulären Lehrplans im Fach Geschichte gewesen. Nun wurde er
auch in Staatsbürgerkunde und im Religionsunterricht behandelt. Regelmäßig
sprach man über die »Lehren« und »Werte« des Holocaust und über seine
religiöse »Bedeutung«. Als sich Osteuropa gegen Mitte der achtziger Jahre
für israelische Touristen öffnete, wurde der Holocaust-Unterricht durch
staatlich subventionierte Gruppenreisen nach Polen ergänzt. Tausende von
Oberschülern nahmen, begleitet von ehemaligen KZ-Häftlingen, die als
Reiseführer fungierten, an diesen Exkursionen teil, den so genannten
»Märschen der Lebenden«. Die Reise begann meist in Warschau, wo der Ort des
ehemaligen Ghettos besichtigt wurde. Von dort ging es weiter nach Treblinka
und Auschwitz, dem Höhepunkt ihrer Reise. Begleitet von einem ehemaligen
Insassen marschierten die Schüler in T-Shirts, auf denen ein großer
Davidsstern und die Aufschrift "Israel" oder "Israel lebt" prangte, durch
das Stammlager, sangen dabei israelische Lieder und schwenkten israelische
Fahnen. In Birkenau hissten sie vor den Verbrennungsöfen ihre Fahnen und
sprachen den Segen für die Soldaten der israelischen Armee. Dann sagten sie
das Kadisch, das traditionelle jüdische Totengebet.
Bei der Rückkehr aus Polen erklärten einige der jugendlichen
Reiseteilnehmer vor der Presse, dass sie auf dem Gelände des früheren
Vernichtungslagers »bessere« Zionisten geworden seien; sie seien nun
überzeugt, dass Israel an jedem Quadratzentimeter der 1967 besetzten Gebiete
festhalten müsse; territoriale Kompromisse seien ausgeschlossen. Auschwitz,
so hieß es in einer vom israelischen Erziehungsministerium eigens für diese
Reisen herausgegebenen Broschüre, verkörpere den unveränderlichen Hass auf
Juden, einen Hass, der schon immer existiert habe und immer existieren
werde, solange es Christen und Juden gebe. An anderer Stelle hieß es:
»Mit bitterem Herzen und Tränen in den Augen stehen wir vor den Feueröfen
der Vernichtungslager und beklagen das schreckliche Ende der europäischen
Juden. Doch während wir noch weinen und klagen, werden unsere Herzen von
Stolz und Freude erfüllt, weil wir das Privileg besitzen, Bürger des
unabhängigen Staates Israel zu sein. Wir antworten und versprechen aus
vollem Herzen: Möge der Staat Israel ewig leben.«
In derselben Broschüre wird, laut Segev, der gegenwärtige Antisemitismus
in Polen verurteilt sowie die Tatsache, dass die polnische Regierung auch
nach dem Ende des Kommunismus noch immer das Recht der Palästinenser auf
Selbstbestimmung anerkennt, als wären das nicht zwei verschiedene Dinge.
Die Atmosphäre, die auf diesen Reisen herrschte und die sie ihrerseits
erzeugten, ist in den letzten Jahren Gegenstand scharfer Kritik gewesen.
Eröffnet wurde die Debatte vor einigen Jahren von Professor Yehuda Elkana
von der Universität Tel Aviv, der selbst Auschwitz-Überlebender ist. Elkana
veröffentlichte in Haaretz einen Artikel unter der Überschrift »Die
Notwendigkeit des Vergessens«, in dem er dagegen protestierte, wie die
Erinnerung zu politischen Zwecken instrumentalisiert werde. Er warnte vor
den möglichen politischen und psychischen Auswirkungen:
»Was sollen Kinder mit solchen Erinnerungen anfangen? Der ernste Appell
"Erinnert euch!" kann leicht als Aufforderung zu blindem Hass interpretiert
werden. Es mag sein, dass sich die Weltöffentlichkeit noch lange erinnern
muss ... aber für uns sehe ich keine wichtigere pädagogische Aufgabe, als
für das Leben einzutreten, sich der Gestaltung der Zukunft in diesem Land zu
widmen, statt tagaus, tagein über die schrecklichen Symbole, quälenden
Zeremonien und düsteren Lehren des Holocaust nachzudenken ... Das Verhältnis
der israelischen Gesellschaft zu den Palästinensern wird politisch und
sozial vor allem von einer tiefen existentiellen Angst geprägt, die sich von
einer bestimmten Interpretation des Holocaust nährt und von dem Glauben,
dass die ganze Welt gegen uns ist, dass wir die ewigen Opfer sind.
In diesem uralten Glauben, der heutzutage von vielen Menschen geteilt wird,
sehe ich den tragischen und paradoxen Sieg Hitlers. Aus der Asche von
Auschwitz sind, bildlich gesprochen, zwei Nationen erstanden: eine
Minderheit, die erklärt, "das darf nie wieder geschehen" und eine
verängstigte und ruhelose Mehrheit, die erklärt, "das darf uns nie wieder
geschehen".
Wenn das die beiden einzigen Lehren sind, dann habe ich persönlich immer an
der ersten festgehalten; die zweite erscheint mir als katastrophal.
Geschichte und kollektive Erinnerung sind untrennbarer Bestandteil jeder
Kultur; aber die Vergangenheit kann nicht und darf nicht das Element sein,
das die Zukunft einer Gesellschaft und das Schicksal eines Volkes
entscheidend bestimmt".
Für diese Auffassung wurde Elkana heftig angegriffen, doch er war nicht
der einzige, der den Israelis in den letzten Jahren klarzumachen versuchte,
dass es, in Anlehnung an Carlyles bekanntes Wort, weise ist, sich nicht nur
zu erinnern, sondern auch zu vergessen. Mir geht Nietzsches These durch den
Sinn, dass wahres Leben ohne Vergessen unmöglich ist. »Es gibt einen Grad
von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das
Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch
oder ein Volk oder eine Kultur.«
Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Israel verbracht und bin zu der
Schlussfolgerung gelangt, dass dort, wo es so viele traumatische
Erinnerungen gibt, so viel Schmerz, so viel Erinnerung, die bewusst oder
unbewusst zu politischen Zwecken mobilisiert wird, ein wenig Vergessen ganz
angebracht ist. Das sollte nicht als banaler Aufruf zum »Vergeben und
Vergessen« betrachtet werden. Vergebung hat damit nichts zu tun. Die
Erinnerung ist oft eine Art Rache, paradoxerweise aber auch die Grundlage
für Versöhnung. Meines Erachtens brauchen wir in Israel ein neues,
ausgewogeneres Verhältnis zwischen Erinnerung und Hoffnung.
So gesehen war der Regierungswechsel in Israel (1993 zur Regierung Rabin)
ein Schritt nach vorn. Das hat nicht nur mit der Bereitschaft der Regierung
zu tun, ein historisches Friedensabkommen mit den Palästinensern zu
schließen, die von offizieller Seite nicht mehr als moderne Nazis betrachtet
werden. Es geht vor allem auch um den Holocaust.
Schulamit Aloni, Rabins erste Bildungsministerin, argumentierte ähnlich wie
Elkana. Ehe sie auf Druck der Ultrareligiösen von Rabin entlassen wurde,
strich sie die organisierten Schulreisen nach Auschwitz. Sie vertrat die
Ansicht, dass staatliche Schulen nicht die so genannten »Werte des
Holocaust« propagieren dürften. Allein schon bei diesem Ausdruck, sagte sie,
laufe es ihr kalt den Rücken hinunter. Der Holocaust habe keine Werte. Statt
die Wunden heilen zu lassen, rissen die Israelis sie immer wieder auf. Man
sollte das Trauma nicht ewig »verwalten«, sondern anfangen, es zu kurieren.
Wie das politisch geschehen kann, weiß ich nicht. Die einzige Hoffnung liegt
in der Chance, daß sich Yehuda Elkanas Vision durchsetzt.
Aus dem Buch:
Nachrichten aus
Jerusalem, Reportagen aus vier Jahrzehnten
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