Von Natan Sznaider, Ha'aretz, 29.12.2003
In dem Buch "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker" bringt
Nicolas Berg eine Anklage vor. In einem Doppelzug greift er einerseits die
deutschen Historiker an, die sich auf das Studium des Holocaust
spezialisiert haben, und versucht andererseits die Achtung wieder
herzustellen, die die jüdische "Geschichte der Erinnerung" einst genossen
hatte und sie in ihrem entschlossenen Kampf gegen die Gilde deutscher
Historiker zu stärken.
Das Buch beschreibt akribisch, wie sich deutsche Geschichtsschreibung
seit 1945 bewusst geweigert hat, den Holocaust zu verstehen und systematisch
Versuche jüdischer Historiker, einen wissenschaftlichen Kontext für ihre
persönlichen Erfahrungen und Schrecken beizutragen, zurück gewiesen hat. Wie
Berg seinen Lesern zeigt, erwartete man von H. G. Adler, Hannah Arendt, Raul
Hilberg, Leon Poliakov und Josef Wulf, deutschen Historikern zu beweisen,
dass sie fähig seien, die Vernichtung der Juden während des Holocaust auf
nüchterne, objektive Art zu diskutieren. In Wirklichkeit glaubten deutsche
Historiker, sie seien die einzigen, die fähig seien, an solch einer
Diskussion teilzunehmen. Denn waren nicht sie diejenigen, die Theorien
entwickelten, nach denen niemand Schuld für irgendetwas trug?
So argumentiert z. B. Martin Broszat, der frühere Leiter des Instituts für
zeitgenössische Geschichte in München, in einem Briefwechsel mit dem
Historiker Shaul Friedländer starrköpfig, die deutsche akademische,
theoretische Perspektive träfe ziemlich genau die Kriterien objektiver
Forschung, wohingegen jüdische Akademiker die Zuflucht zu "Erinnerung und
schmerzlichem Verlust" oder –um Broszats Ausdrucksweise zu benutzen- "die
mythischen Erinnerungen der Opfer" suchten.
Die denkbare Spannung zwischen jüdischer "Emotionalität" und deutscher
"Objektivität" liegt im Zentrum von Bergs Auffassung und Forschungsarbeit.
Sein Buch geht über den bloßen Austausch von Briefen zwischen einem
deutschen und einem jüdischen Historiker hinaus. Es präsentiert eher einen
Dialog (der anscheinend nie wirklich stattgefunden hat) zwischen deutschen
und jüdischen Historikern. Wie Berg zeigt, waren es deutsche Historiker
(Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter, Hans Mommsen und viele andere), die
abstritten, dass die Juden fähig seien, den Holocaust wirklich zu verstehen.
Sie behaupteten, sie, die deutschen Historiker, kämen durch das
Durchführen der "Historisierung" der Zeitspanne des Holocaust ihren
professionellen Verpflichtungen als Historiker nach. Tatsächlich jedoch
neigten sie dazu, den Holocaust zu "normalisieren", seine Dimensionen zu
verringern und ihn in eine kurze 12-Jahres-Episode inmitten einer
großartigen deutschen Geschichte, die mehrere Jahrtausende umfasste, zu
verwandeln. Sie hofften, ihre Epoche –nämlich diejenige der Nachkriegsjahre
in Westdeutschland- durch das Überspringen dieser 12 Jahre auf die Spur der
Geschichte zurückbringen zu können. Die Anwesenheit von jüdischen
Historikern, die versuchten, am deutschen Geschichtsschreibenden Diskurs
teilzunehmen und das Objektiv auf diese historische "Episode" zu richten,
sabotierten ihrer Meinung nach nur den Normalisierungsprozess.
Einer dieser jüdischen Historiker –und Hauptcharakter des Buches- ist
Josef Wulf. Er bezahlte für seine Bemühungen mit seinem Leben. Wulf, ein
Historiker und Holocaust-Überlebender, der ohne fremde Hilfe ein
einzigartiges Dokumentationszentrum aufbaute, beging im Jahr 1974
Selbstmord, nachdem er über Jahre hinweg vergeblich versucht hatte, die
berufliche Anerkennung und die finanzielle Unterstützung des Instituts für
zeitgenössische Geschichte zu erlangen. Es war Wulf, der gemeinsam mit
Poliakov die ersten Bücher über den Holocaust schrieb, die in Deutschland in
den späten 1950er Jahren herausgegeben wurden, so z. B. "Das Dritte Reich
und die Juden: Dokumente und Aufsätze" und "Das Dritte Reich und seine
Denker". In ihren Büchern machten Wulf und Poliakov aus den Holocaust-Tätern
menschliche Wesen: Die Täter wurden Personen aus Fleisch und Blut und wurden
nicht bloß als anonyme Bürokraten in einer nicht durchschaubaren
Organisation dargestellt. Wulf nannte sie sogar mit Namen. Interessierte
Leser, die die detaillierten Indexe in seinen Büchern durchsehen, werden
dort die Crème de la Crème der neuen westdeutschen Elite finden. Sie waren
bis zum Hals in Naziverbrechen verwickelt gewesen. Doch was wäre der Nutzen
einer solchen Durchsicht, da die Juden sowieso schon immer als Opfer
betrachtet werden, die niemals vergessen, und ihren Schikaneuren niemals
vergeben?
Zielscheibe der Kritik
In diesem Zusammenhang diskutiert Berg auch Deutschlands Aneignung von
Arendt. Vollkommen der ursprünglichen Absicht beraubt wurde Arendts Buch
"Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen" eines der
fundamentalsten der funktionalistischen Schule des Holocaust – ein
Gedankenschule, die den Holocaust innerhalb des Kontextes des Models der
"kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen) erklärt. Nach diesem Model
lagen bürokratische Mechanismen miteinander im Wettstreit. Gemäß dieser
Erklärung wurde die Maschinerie des Massenmords nicht von der Kraft der
Leidenschaften angetrieben. Die "Banalität des Bösen", der bekannte Begriff,
der von Arendt geprägt wurde, wurde vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen
und wurde zum Schlagwort für dieses strukturalistische Konzept, das kürzlich
das Subjekt von Auseinandersetzungen wurde. Mommsen begegnete der Kritik,
die von jüdischen Historikern bezüglich der funktionalistischen
Interpretation des Holocaust geäußert wurde, mit Verachtung und betrachtete
diese Kritik als Ausdruck einer zionistischen Perspektive.
Berg, der sich heute als Zielscheibe der Kritik dieser Historiker und
ihrer Studenten findet, enthüllt diese Strategie als typisch für eine
gewisse Sorte deutscher Historiker, die nicht wollen, dass jüdische
Historiker "ihnen den Holocaust rauben". Auf primitive Art, begleitet von
einem Rollentausch, wurden die früheren Opfer beschuldigt, objektive
historische Forschung und die Darstellung des Prozesses ihrer Vernichtung zu
verhindern. Berg gelingt es auf brillante Weise, den wahren Charakter des
deutschen Geschichtsschreibenden Diskurses aufzudecken. Dieser Diskurs
versucht, sowohl die Motive der Täter als auch die Identität der Opfer
verschwimmen zu lassen, während zur gleichen Zeit die Unzulänglichkeit der
Erinnerung als historisches Werkzeug kritisiert wird.
Bergs Darstellung ist beeindruckend. Er macht deutlich, dass in der
Moderne der Unterschied zwischen der Erinnerung des Täters und der des
Opfers ein wichtiger und zentraler Aspekt der beidseitigen Abwesenheit des
Verstehens ist. Die Erinnerung an den Holocaust kann sich entlang nationaler
Linien entwickeln, sie kann aber auch auf der Grundlage der persönlichen
Einstellung der Opfer eine Verbindung eingehen. Mit diesem Thema
beschäftigten sich deutsche Historiker jedoch nicht. In ihren Augen würde
der Holocaust immer "die deutsche Katastrophe" (Meinecke) sein – ein
exklusives deutsches Desaster. Für Juden war das Hauptthema im Studium der
jüdischen Tragödie ein anderes: Als Opfer suchten sie ihr Recht, niemals zu
vergessen und niemals zu vergeben, zu bewahren. Die Opfer, die überlebten,
glaubten, es sei ihre Mission dieses Recht zu bewahren. Dies bedeutet jedoch
nicht, dass es keine Möglichkeit zur Schlichtung gäbe, obwohl man fragen
muss, wo die Grenzen dieser Schlichtung lägen. Der politische Zusammenhang
in dieser Frage ist von zentralem Interesse.
Berg, ein Forscher am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und
Kultur der Universität Leipzig, wies die Illusion der möglichen Entstehung
einer gemeinsamen deutsch-jüdischen Schilderung des Holocaust zurück. In
seiner atemberaubenden Beschreibung des Zusammenstoßes deutscher und
jüdischer Geschichte, zeigt Berg die Unmöglichkeit einer Brücke zwischen den
beiden Schilderungen auf. Alles was bleibt, ist die Erinnerung an deine
gemeinsame Geschichte, die weiterhin zerrissen sein wird.
Es ist möglich zu argumentieren, dass Berg der Fähigkeit der Historiker,
über die Bedeutung historischer Ereignisse zu entscheiden, zu viel Bedeutung
beimisst. Hätte er Unterhaltungskultur studiert, hätte Berg entdeckt, dass
sich Filmregisseure wie Steven Spielberg und Roman Polanski über eine
beträchtliche Zeitspanne hinweg auf die Dialektik zwischen Emotionalität und
Objektivität konzentriert haben – eine Dialektik, die Berg tief greifend
behandelt. Es ist möglich, dass Historiker in ihren Versuchen, die Bedeutung
eines historischen Ereignisses zu bestimmen, dessen eigentliche Bedeutung
verlieren. Die vielen Perspektiven –jüdische, nicht-jüdische, säkulare und
religiöse- wetteifern um den Nutzen der kollektiven Erinnerungen und
unterminieren die Positionen der Experten.
Wenn man das Buch von Nicolas Berg liest, ist es schwer, diese Tatsache
zu bedauern, besonders, wenn die Positionen, die unterminiert werden,
diejenigen deutscher Geschichtsschreibung sind.
Prof. Natan Sznaider lehrt am akademischen College in Tel Aviv.
Nicolas Berg:
Der Holocaust und die westdeutschen Historiker
Wallstein Verlag 2004, Euro 46,00
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