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haGalilon
  

Interview mit Ralph Giordano:
"Diese Filme sind wichtig"

In den letzten Jahren häufen sich kommerzielle Spielfilme, die den Holocaust thematisieren. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Auschwitz und alles was der Name symbolisiert und materialisert, ist als historisches Faktum heute anerkannt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wieviel Zeit vergehen mußte, um Gültiges über das Thema zu schreiben oder es zu verfilmen. An meiner Hamburger Familien-Saga "Die Bertinis," für die mein Leben als Grundlage diente, habe ich 40 Jahre gearbeitet, bevor ich sie 1982 endlich publizierte (verfilmt 1988). Ich glaube, daß man diese Filme nicht früher hätte machen können. Es gab dafür keine Voraussetzungen, weder politisch noch in der Mentalität der Bevölkerung. Die heutige Generation der Enkel setzt sich mit den Großeltern und Eltern auf eine unbefangenere Weise auseinander, denn sie ist nicht mehr direkt, sondern nur moralisch und historisch verantwortlich. Die Filmindustrie nimmt diese Entwicklung auf.

Elie Wiesel hat sich dagegen ausgesprochen, daß der Holocaust im Spielfilm thematisiert wird. Er spricht vom Holocaust als einem "sakralen" Bereich und ist gegen eine Vermischung von "Fiktion und Wahrheit”. Was meinen Sie?

Ich als Überlebender des Holocaust halte diese Filme für wichtig. Aber hier zählt nicht nur die gute Absicht, sondern auch die künstlerische Gestaltung. Denn diese macht ein so tragisches Thema überhaupt glaubwürdig, vor allen Dingen wenn darin Komik enthalten ist.

Die Filme wiederlegen Elie Wiesel. "Schindlers Liste" z.B. ist ein Spielfilm, aber er bietet Einblicke, wie sie eine Dokumentation nicht geben kann. Bei den Verbrechen des Holocaust wurden Kameras und Fotoapparate nicht oder höchst selten verwendet. "Schindlers Liste” macht etwas sichtbar, was sonst nicht sichtbar gemacht werden kann. Der Film zeigt die Interna des Vernichtungsapparates, den Vorgang des Holocaust, den Prozess der Tötung am Beispiel des Lagers Plaszow bei Krakau. Die Ereignisse in diesem Lager können und haben sich realistisch so abgespielt. Steven Spielberg orientierte sich an Zeugenaussagen von Überlebenden und hat den Ort des Geschehens, wie ich finde, sehr überzeugend rekonstruiert.

Sowohl in "Zug des Lebens” als auch in Jurek Beckers "Jakob der Lügner” werden fiktionale Mittel verwendet. In dem einen Film gaukelt ein Häftling den anderen Häftlingen mit einem angeblichen Radio vor, daß die Befreier immer näher rücken. In "Zug des Lebens” wird dem Zuschauer vorgemacht, dass eine Dorfgemeinschaft, die von der realen Deportation bedroht ist, sich durch eine inszenierte Deportation retten kann. Obwohl sich die Dinge nicht so abgespielt haben können, gibt das Verhalten der Protagonisten im Film den anderen Menschen trotz der fürchterlichen Bedingungen Mut und Hoffnung. Das Grauen, das hinter diesen Rettungsversuchen steht, wird dadurch umso deutlicher. Je unglaublicher und wahnsinnniger die Wirklichkeit ist, umso wahnsinniger sind die Bemühungen der Bedrohten, der Gefahr zu entkommen. "Zug des Lebens” zeigt dies auf eine Weise, die das Lachen erlaubt, ohne auch nur eine Sekunde das Grauen dahinter zu vergessen.

Man könnte dem Film "Aimée und Jaguar" und anderen Filmproduktionen vorwerfen, die Geschehnisse des Holocaust nur als Rahmenhandlung zu mißbrauchen, um damit der eigentlichen Handlung - in diesem Fall einer Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen - mehr Spannung zu verleihen. Liegt darin nicht eine große Gefahr?

Ich könnte Formalia an dem Film kritisieren. Der Gesamteindruck war überwältigend. Ich denke nicht, daß der Regisseur die "Konjunktur" ausnutzte, die diese Filme derzeit haben. Das wäre im Film nicht zu verbergen gewesen. Sechs Millionen Juden sind umgebracht worden. Zwei anonyme Millionenschicksale werden hier auf glaubwürdige Weise individualisiert und personalisiert – das ist das Verdienst des Films. Wir wissen doch, daß die Fernseh-Dokumentationen Anfang der sechziger Jahre nicht bewirkten, was die vierteilige "Holocaust”-Film-Serie mit Meryl Streep aus Hollywood 1979 bewirkt hat. Obwohl man dem Film anmerkt, dass er nicht von Überlebenden gemacht wurde, war und bin ich auch nach über 20 Jahren noch beeindruckt. Dieser Film bedeutete eine Zäsur. Der Völkermord an den Juden im deutschbesetzten Europa während des zweiten Weltkrieges wurde durch ihn auf eine Weise in das öffentliche Bewußtsein gerückt, wie es Dokumentationen nicht gelungen war.

Ralph Giordano, Journalist, Fernsehdokumentarist und Schriftsteller, überlebte den Holocaust in einem illegalen Versteck in Hamburg.

Nachrichtenblatt des Jüdischen Museums in Berlin, März 2001.

hagalil.com 2007