Das andere Erinnern:
Kindheit im Holocaust
Demnächst wird die Erinnerung an den Holocaust ohne die Überlebenden
auskommen müssen. Schon jetzt rücken die Erinnerungen derjenigen, die als
Kinder den Holocaust überlebten, in den Vordergrund. Mit Soazig Aarons Roman
"Klaras Nein" ist letztes Jahr in Deutschland auch der erste Roman einer
Nachgeborenen erschienen. Die Erinnerungen der einstigen Kinder, die in den
Lagern, Ghettos oder Wäldern überlebten, unterscheiden sich von den
Zeugnissen der Erwachsenen, konstatiert der israelische Schriftsteller
Aharon Appelfeld, der nach seiner Flucht aus einem Arbeitslager im Wald bei
Bauern, Prostituierten und Dieben Unterschlupf fand und sich dann als
Küchenjunge der Roten Armee anschloss.
Von Aharon Appelfeld
Sechzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, und es
scheint mir, dass sich ein neuer Abschnitt in unserer Beziehung zum
Holocaust abzeichnet, weil die Überlebenden langsam immer weniger werden.
Für jeden Historiker oder Schriftsteller, der über den Holocaust schreibt,
waren (und sind) die Überlebenden eine gefürchtete Instanz. Sie wachten
darüber, dass die Ereignisse in der richtigen zeitlichen Abfolge
wiedergegeben wurden, dass keine Namen und keine Orte weggelassen und die
Einzelheiten nicht verändert wurden. Für den Überlebenden war es wichtig,
dass der Holocaust im Detail geschildert wurde. Immer wieder haben mich
Überlebende gerügt - einmal wegen Ungenauigkeiten, ein andermal, weil meine
Schilderungen dessen, was während des Holocaust oder danach geschehen ist,
auch auf die Opfer einen kritischen Blick warfen.
Für den Überlebenden war die chronologische Erinnerung wie eine Boje, an die
er sich mit aller Kraft klammerte. Jede fiktive Ausschmückung galt - und
gilt immer noch - als unangebracht, dem Ernst des Gegenstands nicht
angemessen. Oft hört man: Wenn es um den Holocaust geht, darf man nicht mit
Worten oder formalen Mitteln spielen, sondern muss die Dinge erzählen, wie
sie waren, so genau wie möglich. Jedes fiktionale Element, das ganz
offensichtlich nicht der konkreten Erinnerung entstammt, ist verboten.
Es ist kein Zufall, dass die meisten Werke über den Holocaust historische
Arbeiten sind, einige wenige gehören in die Bereiche der Psychologie oder
Theologie. Fiktionale Literatur gibt es kaum. Zwar sind diverse
sensationsheischende Texte erschienen, doch literarische Werke, die eine
innere Wahrheit enthalten, sind selten. Man kann sie an einer Hand abzählen.
In naher Zukunft wird sich die Geschichte des Holocaust ohne Überlebende
behaupten müssen. Solange sie unter uns weilten, war der Holocaust greifbar,
gegenwärtig. Mit ihm verband sich ein Vorname, ein Familienname und ein Ort,
sei es Dorf oder Stadt. Mit ihrer Gegen-wart,ihrem Schweigen bezeugten die
Überlebenden den Schrecken. Man konnte ihnen begegnen, auf der Straße, in
ihren Wohnungen, an den Gedenkstätten, überall.
Solange die Überlebenden unter uns waren, rückte der Holocaust aus der
Sphäre des Unglaublichen in die Sphäre des Sichtbaren. Wenn jemand nicht
glauben wollte, was Menschen einander antun und auf welche Stufe der
Barbarei sie sinken können, war der Überlebende da und erzählte.
Heute verschwinden die Überlebenden allmählich aus der Welt, und es stellt
sich die bange Frage: Wie wird die Geschichte des Holocaust ohne sie
fortbestehen? Anders ausgedrückt: Wie können wir die Dimension des
Individuellen und des Persönlichen, die der Überlebende dem schrecklichen
Geschehen verliehen hat, aufrechterhalten? Im Vordergrund stehen heute die
Überlebenden, die damals Kinder waren. Diese haben eine andere Erinnerung
und auch eine andere Art, das Erlebte auszudrücken, als die damals schon
Erwachsenen. All die Jahre hatten Kinder nicht als Überlebende gezählt und
ihre Erinnerungen nicht als Zeugnisse gegolten.
Über den Holocaust gibt es mittlerweile große Bestände an schriftlichen
Zeugnissen. Aber ein genauer Blick auf diese Berichte zeigt, dass die
introspektive Dimension weitgehend fehlt; die meisten Berichte sind
Chroniken.
Was einem Juden in diesen ganzen Jahren widerfuhr, überstieg seine
verstandesmäßigen wie seine seelischen Kräfte. Er hatte sich im Zentrum des
Schreckens befunden, und nach seiner Befreiung hätte er diese Zeit nur zu
gern für einen Albtraum gehalten, für einen Riss in seinem Leben, der
möglichst schnell wieder heilen sollte. Der erwachsene Überlebende erzählt
und enthüllt, was er erlebt hat, aber er verhüllt es zugleich. Denn es ist
ihm unmöglich, nicht zu reden, aber es ist ihm auch unmöglich, sich
einzugestehen, dass das Geschehene ihn nicht verwandelt hat. Er ist dieselbe
Person geblieben, die an denselben alten sittlichen Grundsätzen festhält.
Man muss Holocaust-Zeugnisse also mit Vorsicht lesen, das heißt nicht nur
sehen, was in ihnen steht, sondern auch und vor allem, was nicht in ihnen
steht. Die Erinnerung des Überlebenden ist zuallererst eine Suche nach
Entlastung: Ich habe getan, was ich musste. Aber was ist mit ihm in den
Jahren des Leidens geschehen? Was hat sich für ihn verändert, und wie wird
sein Leben von diesem Punkt an weitergehen? Man wird, so scheint mir, auf
solche Fragen keine Antworten finden.
Um Missverständnisse auszuschließen, will ich gleich anfügen, dass die
Zeugnisliteratur ohne Zweifel die authentische Literatur über den Holocaust
ist. Sie ist ein enormes Reservoir jüdischer Geschichte.
Die Zeugnisse der einstigen Kinder sind von ganz anderer Art, weil die
Kinder den Schrecken nicht in vollem Umfang aufgenommen haben, sondern nur
in dem Maße, in dem sie es als Kinder verkraften konnten. Kindern fehlt der
Sinn für zeitliche Abstände, und sie können das, was sie erleben, nicht mit
einer Vergangenheit vergleichen. Der erwachsene Überlebende besaß
Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg, doch für die Kinder war der
Holocaust Gegenwart, ihre Kindheit und Jugend. Eine andere Kindheit, Glück
kannten sie nicht. Sie wuchsen heran inmitten von Furcht und Schrecken. Sie
kannten kein anderes Leben. Und während die Erwachsenen vor sich und ihren
Erinnerungen flohen, während sie die Erinnerungen unterdrückten und sich an
der Stelle des früheren ein neues Leben aufbauten, gab es für die Kinder
kein früheres Leben, und wenn doch, so war es ausgelöscht. Der Holocaust
war, wie der Dichter es ausdrückte, die schwarze Milch, die sie morgens,
mittags und abends tranken.
Dieser psychologische Aspekt hatte auch eine ideologische Komponente. Der
Holocaust wird zumeist und selbst von seinen Opfern als eine Episode, ein
Wahn, eine jähe Finsternis wahrgenommen, die aus dem normalen Ablauf der
Zeit herausfällt. Der Holocaust als Leben, als Leben in seiner auf den
Schrecken konzentrierten existenziellen wie sozialen Ausprägung - eine
derartige Wahrnehmung wiesen die erwachsenen Opfer zurück. Für Kinder, die
während des Holocaust herangewachsen waren, war auch dieses Leben etwas
möglicherweise Begreifbares, denn sie hatten es in sich aufgesogen. Sie
hatten erfahren, dass der Mensch ein Raubtier war, nicht nur bildlich,
sondern unmittelbar, mit seinem ganzen Körper, so wie er da stand, sich
kleidete, sich setzte, sein Kind streichelte oder ein jüdisches Kind schlug.
Diese Kinder, die im Holocaust heranwuchsen, saßen ganze Stunden da und
beobachteten. Hunger, Durst und körperliche Schwäche machten sie zu
beobachtenden Wesen. Mehr noch als ihre Mörder beobachteten sie ihre Väter
und älteren Brüder, in all ihrer Schwäche und ihrem Heldenmut. Es waren
Anblicke, die sich ihnen tief einprägten, wie es nur Kindheitsbilder können.
Der Krieg hat uns zu unserer Überraschung klar gemacht, dass selbst das
schrecklichste Leben noch Leben ist. Die Menschen in den Ghettos und Lagern
liebten sich, sie sangen sentimentale Lieder und führten politische
Diskussionen. Es gab Abendkurse für Deutsch und Französisch, und am
Nachmittag trank man Ersatzkaffee, wenn man welchen hatte. (Auch im
Angesicht des Todes nähte ein Mensch noch einen Knopf an.) Je näher uns der
Tod kam, desto mehr weigerten wir uns, seine Existenz hinzunehmen. Jeder
klammerte sich an seine kleinen Hoffnungen, meist waren es völlig triviale
Dinge wie der Genuss einer Zigarette. Ich erinnere mich an einen jungen
Mann, der sich weigerte, sich von seinen Mathematikbüchern zu trennen. Er
war ständig in mathematische Aufgaben vertieft, weil er das zweite
Studienjahr nicht wiederholen wollte, und strahlte dabei eine enorme Ruhe
aus. Viele Menschen in den Ghettos und Lagern spielten Karten, auch Domino
und Schach. Manchmal konnte man für Momente alles vergessen, und dann kam
man sich nicht wie in einem Todesghetto vor, sondern wie in einem
Sommerlager für zu große Kinder, die völlig in ihr Spiel vertieft waren.
Als die Menschen, die den Krieg als Erwachsene erlebt haben, ihre Geschichte
erzählten, legten sie großen Wert auf die äußeren Fakten: Daten, Orte,
Namen. Ihre Empfindungen und Gefühle fassten sie in allgemeine, eher
unpersönliche Begriffe. Für diejenigen, die als Kinder überlebt hatten, war
der Krieg ihr ganzes - bisheriges -Leben. Sie konnten über den Holocaust
nicht in historischen, theologischen oder moralischen Begriffen reden; sie
konnten nur von Angst und Hunger berichten, von Farben, von Kellern und von
Menschen, die sie gut oder schlecht behandelt hatten. Die Kraft ihrer
Zeugnisse liegt gerade in diesem begrenzten Horizont.
Durch diesen begrenzten Horizont der Kinder erfahren wir eine Menge über
Grausamkeit und Großmut, Hass und Liebe. Die einstigen Kinder haben die
Kriegsjahre mit ihrem ganzen Körper aufgesogen. Kein Wunder, dass ihr
Zeugnis von den erwachsenen Überlebenden abgelehnt wurde, als eingebildete
und verzerrte Wahrnehmung, die ein so gravierendes Thema verharmlose. Und
heutzutage, angesichts der wachsenden Tendenz, den Holocaust zu leugnen,
hört man häufig: Haltet die Holocaust-Zeugnisse frei von euren subjektiven
Fantasien. Ihr solltet euch noch mehr auf die Fakten konzentrieren. Den
Leuten fällt es schwer, zu akzeptieren, dass jede und noch die eindeutigste
Situation unterschiedlich wahrgenommen werden kann, und das gilt erst recht
für die Erinnerungen von Kindern.
Die schriftlichen und mündlichen Zeugnisse der einstigen Kinder sind eher
literarischer Natur. Ihre Erinnerungen sind oft äußerst partikular, und wenn
sie sich in Erinnerung rufen, was ihnen während des Krieges widerfahren ist,
mobilisieren sie ihre Fantasie. Anhand von Empfindungen und Gefühlen gelingt
es ihnen, ihre Vergangenheit wachzurufen. Solche Erinnerungen sollte man
nicht als Tatsachenzeugnisse, sondern als Rekonstruktionen ansehen.
Während des Krieges habe ich nicht viele Kinder gesehen. Ich verstand
instinktiv, dass ich für mich sein musste; doch nach dem Krieg habe ich sehr
viele Kinder getroffen. Sie gehörten zu den Überlebenden, die in Scharen an
den Küsten Jugoslawiens und Italiens umherzogen. Eines Tages traf ich auf
eine Gruppe von Kindern, die gut singen konnten. Ich sage "gut", obwohl ihre
Stimmen rau und gebrochen klangen. Ihre Lieder bestanden aus Melodien, die
noch aus ihren jüdischen Elternhäusern stammten, gemischt mit Sequenzen, die
sie den Klosterorgeln abgelauscht hatten. Dadurch entstanden ganz neuartige
Töne, wie sie nur Kinder in ihrer Ahnungslosigkeit erfinden können und die
man zumeist als "unschuldig" oder schlicht als "unelegant" bezeichnet. Diese
Kinder standen auf einer Kiste und sangen, und am Ende ihrer Vorstellung
gingen sie mit dem Hut herum.
Bald kamen skrupellose Geschäftemacher, nahmen die Kinder unter ihre
Fittiche und zogen mit ihnen von Lager zu Lager. Auch Mädchen waren
darunter. An eines von ihnen kann ich mich gut erinnern. Es hieß Amalia.
Amalia war etwa zehn Jahre alt und gab jeden Abend eine Vorstellung. Ihr
Repertoire bestand aus jiddischen Liedern, gemischt mit Geräuschen des
Waldes. Angesichts ihres dürren, vogelähnlichen Körpers glaubte man immer,
sie werde gleich davonfliegen.
Es gab auch Kinderakrobaten, die mit großartigem Geschick über ein Seil
balancierten. In den Wäldern hatten sie gelernt, auf die höchsten und
dünnsten Äste zu klettern. Unter ihnen waren auch Zwillinge, Jungen von
vielleicht zehn Jahren, die mit hölzernen Kugeln jonglierten. Und es gab
Kinder, die mit ihren Stimmen Vögel und andere Tiere imitierten. In meinem
Lager wanderten Dutzende von solchen Kindern herum. Während die Erwachsenen
versuchten, das Geschehene, also sich selbst zu vergessen und zurück in ihr
Leben zu finden, verarbeiteten und gestalteten diese Kinder ihre leidvollen
Erfahrungen, wie es sonst vielleicht nur im Volkslied gelingt.
Ich habe von dem Schicksal dieser Kinder erzählt, weil sie es waren, die
später zu künstlerischen Ausdrucksformen griffen. Es klingt vielleicht
merkwürdig, aber man muss es aussprechen. Es gab ein Bedürfnis danach, einen
unvermittelten Bezug - einfach, geradeheraus - zu diesen schrecklichen
Ereignissen zu finden, um auf künstlerischer Ebene über sie sprechen zu
können: ohne sie zu sublimieren, sich zu rechtfertigen oder etwas zu
glorifizieren. Eher so, wie man eben über Erfahrungen spricht, die auch
dann, wenn sie noch so schrecklich waren, doch zum Leben gehören.
Diese Ausdrucksweise, wenn man das so sagen darf, war eine der Kinder. So
hatten sie sich im Ghetto ausgedrückt und danach auch in den befreiten
Lagern, und sie haben sich etwas von dieser unvermittelten Art erhalten -
auch noch als Erwachsene.
Zum eigentlichen Problem - nicht nur auf literarisch-künstlerischer Ebene -
wurde im Lauf der Jahre die Frage, wie man den Holocaust in seinen
ungeheuerlichen und unmenschlichen Dimensionen den Menschen näher bringen
könnte. Wenn es um die Beschreibung der Wirklichkeit geht, fordert die Kunst
ihrem Wesen nach stets ein gewisses Maß an Verdichtung und Übertreibung.
Doch das gilt nicht für den Holocaust. Hier scheint alles bereits so
furchtbar unwirklich, als gehöre das Geschehen nicht zu den Erfahrungen
unserer Generation, sondern ins Reich der Mythologie. Von daher kommt das
Bedürfnis, den Holocaust in menschliche Bereiche hereinzuholen. Das ist
nicht einfach nur ein technisches Problem, sondern ein essenzielles. Wenn
ich davon spreche, den Holocaust "hereinzuholen", dann meine ich nicht, man
solle den Schrecken simplifizieren, verdünnen oder verharmlosen. Was ich
meine, ist der Versuch, durch den Einzelnen und in seiner Sprache die
Ereignisse für sich sprechen zu lassen und zu verhindern, dass das Leiden
hinter den riesigen Zahlen verschwindet und dadurch eine schreckliche
Anonymität bekommt. Es geht darum, die Namen der Menschen zu retten, den
Folteropfern ihre menschliche Gestalt zurückzugeben, die man ihnen genommen
hatte.
Menschen, die den Holocaust als Kinder überlebt haben, können sich nicht auf
dieselbe Weise erinnern wie diejenigen, die schon erwachsen waren, als die
Verfolgung begann. Die einstigen Kinder tragen mit ihren Erfahrungen zum
Erinnern bei. Aber diese Erfahrung ist bei aller Begrenztheit sehr tief.
Kein Wunder, dass mit den Überlebenden, die damals Kinder waren, die
Holocaust-Literatur begonnen hat.
deutsch von Niels Kadritzke
Aahron Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz (damals Rumänien) geboren und
emigirierte 1946 nach Palästina. Heute lebt er in Jerusalem.
Le Monde diplomatique Nr.
7588 vom 11.2.2005
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