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"Erinnerung im globalen Zeitalter":
Der Holocaust und die "Globalisierung"
Von Andrea Livnat
Was haben das Tagebuch der Anne Frank, der
Eichmann-Prozeß und "Schindlers Liste" von Steven Spielberg gemeinsam? Sie
alle sind Meilensteine auf dem Weg der Veränderung nationaler zu
kosmopolitischer Erinnerungskultur. Entlang dieses Weges wurde der Holocaust
zu einem universalen "Container" für Erinnerungen an unterschiedliche Opfer,
wie Daniel Levy und Nathan Sznaider in einer beeindruckenden Arbeit zeigen,
die im Hause Suhrkamp in der Edition Zweite Moderne erschienen ist.
"Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust" geht der Frage nach
Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung auf den Grund. Die Thesen sind in
den Rahmen der Theorie einer "Zweiten Moderne" eingebettet. Der Begriff, der
von Ulrich Beck in die Soziologie eingeführt wurde, meint die Schau auf
globale Prozesse, bei denen Politik und Kultur entortet sind, entgegen der
ersten Moderne, die national- und territorialstaatliche Politik im
Mittelpunkt hatte.
Gerade im Bereich der Kultur wird Globalisierung oft kritisiert. Es zeige
sich jedoch, so Levy und Sznaider, daß sich grenzüberschreitende Kulturen
und Erinnerungen bilden. Exemplarisch und überzeugend zeigen sie dies am
Beipiel des Holocausts. Die Autoren behaupten, daß die Erinnerung an den
Holocaust im globalen Zeitalter zu einem Maßstab für humanistische und
universalistische Identifikationen wird. Die Fallstudien untersuchen die
politischen Kulturen Deutschlands, Israels und der USA.
Levy und Sznaider betreten damit Neuland im breiten Forschungsfeld der
Erinnerungsforschung, die mittlerweile zu einem "Modethema" wurde. Seit
mittlerweile über 10 Jahren herrscht in den einzelnen Disziplinen großes
Interesse an Gedächtnis und Erinnerung. Nicht nur die kulturelle Revolution
durch die Nutzung neuer Medien der externen Speicherung sind als Grund
anzuführen. Vor allem aber das Zuendekommen einer Generation von Zeitzeugen
ist für das erwachte Interesse verantwortlich. Kollektive Erinnerung wird
dann aktiv, wenn die lebendige Erinnerung auslöscht.
Kollektives Gedächtnis wurde bisher ausschließlich im Rahmen des
Naionalstaates untersucht. Levy und Sznaider zeigen aber, daß die Erinnerung
an den Holocaust aus der nationalen Verortung herausgebrochen und zu einer
kosmopolitsch-globalen Erinnerung wurde. Dabei spricht kollektive Erinnerung
gegen globale Kultur, da das Gedächtnis von Gruppen und Nationen an feste
Räume und Zeiten gebunden ist. Die Autoren argumentieren, daß sich die
Sicherheiten, die durch das Konzept des kollektiven Gedächtnisses entstehen,
zu Beginn des 21. Jahrhunderts auflösen und neu zusammensetzen, wodurch neue
kulturelle Horizonte entstehen, die aus den alten hervorgegangen sind.
Die Tatsache, daß der Holocaust in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der
Öffentlichkeit immer wichtiger und präsenter wurde, liegt nicht allein am
Ereignis allein, das zweifelsohne eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts
verkörpert. Die globale Relevanz des Holocausts liegt für Sznaider und Levy
vielmehr in seiner Eigenschaft als Nahstelle zwischen Erster und Zweiter
Moderne: "In einer Zeit der Ungewißheit haben grundsätzliche Fragen nach
"Gut und Böse" an Bedeutung gewonnen. Dies macht u.a. die zeitgenössische
Zentralität der Holocausterinnerung verständlich und die vielen Metaphern,
die mit ihr einhergehen. Der Holocaust (bzw. seine Assoziation mit dem
Genozid) ist in vielen westlichen Staaten zum moralischen Maßstab der
Unterscheidung zwischen gut und böse geworden, ein Maßstab, an welchem
humanistische und universalistische Ansprüche gemessen werden."
Trotzdem bleibt die Erinnerung an den Holocaust gleichzeitig innerhalb des
nationalen Rahmens formbar. Globale Kultur und lokale Erinnerung vermischen
sich, wodurch der immer größer werdende Unterschied zwischen nationaler
Vergangenheit und globaler Zukunft überbrückt wird. Das kosmopolitische
Gedächtnis geht zwar über das nationale hinaus, löst es jedoch keineswegs
ab. In Anlehnung an Roland Robertson sprechen die Autoren in diesem Sinne
von "Glokalisierung", also einem dialektischen Verhältnis zwischen Globalem
und Lokalen, aus der eine hybride Form der Indentifizierung hervorgeht. Am
globalen kulturellen Horizont kann die eigene lokale Existenz bestimmt
werden.
Der Holocaust eignet sich für die Untersuchung von Levy und Schneider
besonders, da er eine universale Bedrohung verkörpert. Nicht alleine die
Frage nach Schuld, nach Gut und Böse wird berührt: "Vielmehr steht die
Zivilisation, die Moderne, das Selbstverständnis Europas und Amerikas und
damit fast des gesamten Globus auf dem Spiel." Die Autoren behaupten
weiterhin, daß sich die Rolle der Juden als "Andere", als "Fremde" im Zuge
der Globalisierung wesentlich geändert hat. Durch eine grundsätzlich
positive Umwertung des Kosmopolitismus in der Zweiten Moderne habe sich auch
das Bild der Juden heändert, die einerseits schon immer als Kosmopoliten
gesehen wurden und deren Kultur andererseits durch die Diaspora-Situation
immer mit anderen Kulturen vermischt war. Durch diese positive Neubewertung
könnten sich auch andere Opfergruppen mit dem Holocaust identifizieren und
ihn in ihr Gedächtnis integrieren.
Die Fallstudien zeigen in allen drei Ländern ähnliche Entwicklung, dabei vor
allem ein stark zunehmendes Interesse am Holocaust in den letzten 20 Jahren,
wobei die Gründe dafür unterschiedlich sind und mit der jeweiligen
Geschichte des Landes zusammenhängen. Die Autoren gliedern ihre Forschung in
vier Phasen der Erinnerung: das Nachkriegsjahrzehnt, die 60er und 70er
Jahre, die 80er Jahre mit einem regelrechtem "Boom" der Erinnerung und
schließlich Universalisierung und Kosmopolisierung in den 90er Jahren.
Die Nachkriegszeit ist dabei am unterschiedlichsten. In Deutschland ist ein
gravierender Kontrast zwischen dem, was man unmittelbar nach dem Krieg
tatsächlich wußte und der öffentlichen Wahrnehmung, festzustellem. Bilder
vom Holocaust produzierten damals nicht dieselbe Bedeutung für ihre
Betrachter wie heute: "Dafür mußte erst ein diskursiver und
erinnerungspolitischer Rahmen hergestellt werden, in welchem der Holocaust
als "einzigartig" empfunden und verstanden werden konnte." Die Erinnerung
wurde zunächst im privaten Rahmen, hauptsächlich von Überlebenden getragen.
Durch das Nicht-Erwähnen des Holocausts im öffentlichen Diskurs sollte das
angeschlagene deutsche Nationalbewußtsein erneut positiv besetzt werden. Die
Autoren vertreten die These, daß die Abwesenheit des Holocausts im
öffentlichen Diskurs eine wichtige Voraussetzung für die Demokratisierung
Deutschlands war, nur so hätte die Normalisierung vollzogen werden können.
Sie betonen jedoch ausdrücklich, daß damit keine moralische Wertung
verbunden ist.
In Israel war das Verhältnis zum Holocaust lange Zeit sehr gespalten.
Einerseits wurde er zu einer negativen Legitimierung des Staates, der eine
Wiederholung verhindern könnte, andererseits verstand sich der junge Staat
natürlich auch als rechtlicher und moralischer Nachfolger der Opfer. Durch
die zionistische Ideologie, die ein wehrhaftes Judentum propagierte, wurden
vor allem die "Märtyrer" geehrt, die im aktiven Widerstand gegen den
Nationalsozialismus starben. In den USA dominierte zunächst die Rolle der
Retter-Nation, die aus dem Holocaust universale Perspektiven zog:
Zivilcourage und Antirassismus als Lehren des Holocaust, nicht Zuschauen,
sondern aktives Handeln bewirkt Gutes. Der Wendepunkt in Israel und den USA
kam mit dem Eichmann-Prozeß von 1961. Für die USA bedeutet die Zäsur den
Beginn einer jüdisch-ethnischen Politik, in Israel wurde der Holocaust
schließlich vollständig vereinnahmt. Die jüdischen Opfer wurden damit ins
Zentrum der Erinnerung gerückt.
An den Veränderungen der 60er und 70er Jahre wirketen vor allem drei Gründe:
der Generationenwechsel vollzog den Übergang vom sozialen zum historischen
Gedächtnis, die wissenschaftliche Aufarbeitung des Holocausts veränderte
sich, die Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust Ende der 70er Jahre. Die
Nutzung der Massenmedien führte dazu, daß zunehmend von "Amerikanisierung"
des Holocausts gesprochen wurde. einer zunehmenden "Amerikanisierung". Diese
Entwicklung sollten jedoch keineswegs negativ beurteilt werden, da der
Holocaust durch Nutzung von Fernsehen und Kino besser "konsumierbar" wird
und sich in Folge dessen mehr Menschen damit auseinandersetzen.
Nach einem erneuten Wendepunkt 1989 wurde die Darstellung und die Erinnerung
an den Holocaust im Zuge der "Amerikanisierung" zunehmend kosmopolisiert.
Die Juden rücken als Opfergruppe wieder in den Hintergrund, wie man
beispielsweise bei Spielbergs "Schindlers Liste" sehen kann. Wichtig sind
nur noch die Kategorien Böser, Retter und Überlebender.
Überall außerhalb der USA gab es empörte Kritik gegen die Darstellung des
Holocaust in einem Spielfilm, der natürlich die Geschichte vereinfacht, mit
emotionalen Stilmitteln verknüpft darstellt. Die Tatsache, daß der Film auch
in Israel ein gewisser Erfolg in den Kinos war, zeigt für die Autoren, daß
globale und nationale Faktoren der Erinnerung gleichzeitig und nebeneinander
bestehen können.
Als weiteres Beispiel für die kosmopolitische Wahrnehmung des Holocausts
führen Levy und Sznaider ausführlich die politischen Debatten im
Zusammenhang mit dem Bosnien-Krieg an. Elie Wiesel forderte in diesem
Zusammenhang: "Als Jude sage ich, daß wir etwas tun müssen, um das
Blutvergießen in diesem Land zu beenden." Und auch Bill Clinton berief sich
auf den Holocaust in der Forderung nach einer Intervention: "Wenn die
Erinnerung von Holocaust-Überlebenden uns nicht dazu bewegt, auf Leiden und
Verfolgung in unserer Zeit zu reagieren, welchen Zweck hat dann überhaupt
Erinnerung?" Noch deutlicher wurden die Aussprüche dann während der
Kosovo-Krise 1998/99. Die "Lehren des Holocausts", der Schutz der
Menschenrechte und die Verhinderung von Völkermord, wurden erstmals von
politischer Instanz als Hauptkriegsgrund aufgeführt.
Die aus dieser letzten Entwicklung entstehende Frage, ob in Zukunft die
partikularistische jüdische Erfahrung oder aber eine universalistische Lehre
der Menschenrechte in den Vordergrund der Erinnerung gestellt werden sollte,
lassen die Autoren offen. Beide Positionen schließen sich nicht gegenseitig
aus, so Levy und Sznaider. Vielmehr sei genau das ein Merkmal der Erinnerung
in der Zweiten Moderne: "Sie bedient sich selbstbewußt der Erinnerung an die
Vergangenheit, um neue Erinnerungen für die Zukunft zu gestalten. Während
die Erinnerungen im letzten Jahrhundert zumeist aus dem nationalen Kontext
kamen, sind die Erinnerungen zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts das Produkt
von nationalen und globalen Geschichten mit starken
Individualisierungstendenzen."
Daniel Levy, Natan Sznaider:
Erinnerung im globalen Zeitalter -Der
Holocaust.
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 2001, 18,80 Euro,
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2007
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