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2nd Generation:
Siegel der Erinnerung

Von Dina Wardi
Einleitung zum Buch "Siegel der Erinnerung"


In den letzten zwanzig Jahren meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin habe ich, in einer Kombination von Einzel- und Gruppentherapie, Dutzende von Söhnen und Töchtern Holocaust-Überlebender behandelt. In meinem Buch berichte ich über meine Eindrücke aus den zahlreichen Dialogen, an denen ich in den Einzelsitzungen beteiligt war und die ich in den Gruppensitzungen miterlebt habe.

Darüber hinaus gebe ich auch meine Eindrücke aus den vielen Gesprächen wieder, die ich mit Angehörigen der Zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden bei verschiedenen Workshops, Konferenzen und Vorträgen, also nicht unbedingt in einem therapeutischen Rahmen, geführt habe.

Im Verlauf einer Therapie, die im allgemeinen vier Jahre dauert, werden Einzel- und Gruppensitzungen kombiniert. Die Gruppen bestehen aus zehn bis zwölf jungen Erwachsenen [im Alter von 25 bis 35 Jahren] beiderlei Geschlechts und sind in bezug auf Bildungsniveau, sozioökonomischen Hintergrund und nach Möglichkeit auch hinsichtlich der Ich-Stärke der Mitglieder und der Art ihrer Konflikte homogen. Dagegen sind die Gruppen heterogen im Hinblick auf den Familienstand [ledig, verheiratet, geschieden] und setzen sich sowohl aus Kindern von Überlebenden als auch aus Personen mit einem anderen familiären Hintergrund zusammen. Auf diese Weise soll vermieden werden, daß im Zuge der Abwehr überstarke Verschmelzungstendenzen entstehen, die einen geregelten Therapieablauf beeinträchtigen könnten. Jeder Klient sieht die Therapeutin oder den Therapeuten zweimal pro Woche: zwei Stunden in der Gruppe und eine Stunde in der Einzeltherapie. In der Gruppentherapie werden dynamische Techniken der analytischen Gruppentherapie angewandt, zum Beispiel Traumanalyse, Reflexion und Interpretation frühkindlicher Erfahrungen sowie Analyse der sich innerhalb der Gruppe abspielenden Interaktionen und Prozesse. Teilweise werden auch andere, nonverbale Techniken herangezogen.

Entschließen sich Angehörige der Zweiten Generation zu einer Therapie, so geschieht dies meist vor Beendigung des dritten oder zu Beginn des vierten Lebensjahrzehnts, also in dem Alter, in dem junge Erwachsene im allgemeinen ein eigenständiges Leben zu führen beginnen. In der Regel ist der Übergang ins Erwachsenenleben mit einer räumlichen und emotionalen Trennung von Familie und Zuhause verbunden. Für viele Angehörige der Zweiten Generation ist diese Trennung besonders schwierig, und sie scheint einer der Hauptgründe dafür zu sein, daß sie sich gerade in diesem Lebensabschnitt einer Therapie zuwenden. Ein anderer Grund ist in den Problemen und Konflikten zu suchen, denen sie sich gegenübersehen, wenn sie eine intime Paarbeziehung aufzubauen versuchen. Ihre Unfähigkeit, mit diesen Schwierigkeiten zurechtzukommen und ihre Konflikte aus eigener Kraft zu lösen, scheint der Auslöser dafür zu sein, daß sie gerade in diesem Stadium therapeutische Hilfe suchen.

Ich konzentriere mich also bereits seit vielen Jahren auf die Therapie mit Kindern von Überlebenden. Von daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß ich oft gefragt werde, ob ich selbst dieser Gruppe angehöre. Ich muß sagen, daß ich keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben kann. Meine Eltern sind zwar keine Holocaust-Überlebenden im engeren Sinne, und keiner von ihren Angehörigen fand im Holocaust den Tod, außer einem entfernten Verwandten meines Vaters. Trotzdem hat der Holocaust, wie bei jedem aus Europa stammenden Juden, verschiedene Schichten meiner inneren Welt entscheidend geprägt. Mein persönlicher Bezug zum Holocaust entstand bereits in meiner frühen Kindheit, doch er wurde mir erst relativ spät bewußt, genau gesagt im Zuge meiner therapeutischen Arbeit mit Angehörigen der Zweiten Generation. Rückblickend vermag ich vier Faktoren zu erkennen, die an der Entstehung dieses persönlichen Bezuges beteiligt waren.

Ich war noch ein Baby, als etwa ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges viele Flüchtlinge, die wegen des Naziregimes Deutschland verlassen hatten, in Italien einzutreffen begannen. Meine Eltern waren Zionisten und beabsichtigten, nach Palästina auszuwandern, konnten diesen Geschehnissen jedoch nicht tatenlos zusehen und verschoben deshalb ihre Abreise. Mein Vater der Künstler war, ließ alles stehen und liegen und schloß sich einer Gruppe italienischer Juden an, die den Flüchtlingen nach Kräften beizustehen versuchten. J ahre später erzählte mir mein Vater viele Geschichten aus den Tagen, in denen er diesem Hilfswerk seine ganze Zeit gewidmet hatte. Er kam immer erst sehr spät nach Hause, müde und innerlich aufgewühlt, und wenn er mich in den Armen hielt, schlief er dabei ein. Was mag jenes Baby damals wohl von den Gedanken und Ängsten, die seinen Vater beschäftigten, in sich aufgenommen haben? Ganz sicher hat sich ihm etwas davon mitgeteilt.

Das zweite Erlebnis hatte ich Ende 1944 in Palästina, als ich schon etwa fünf Jahre alt war. Eines Tages, als meine Mutter am Spülbecken stand und Geschirr abwusch, sah ich, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. Ich weiß noch heute, wie sehr ich damals erschrak und wie angstvoll ich sie fragte, warum sie weine. Sie antwortete, sie habe gerade erfahren, daß ihre Eltern und ihre Schwester noch am Leben seien. Die Nachricht hatte sie auf Umwegen erreicht, während sie freilich vom Schicksal ihrer übrigen Angehörigen noch immer nichts wußte. Was ihre Worte wirklich bedeuteten, vermochte ich damals aus naheliegenden Gründen nicht voll und ganz zu erfassen, denn ich kannte meine Großeltern und meine Tante eigentlich gar nicht. Erst viele Jahre später wurde mir langsam bewußt, wie groß die Anspannung und Angst meiner Mutter in jener Zeit gewesen sein mußten, die sich durch diese Nachricht auf einmal lösten.

In den ersten Jahren meiner Kindheit, den Jahren des Zweiten Weltkrieges, versuchten sich meine Eltern als Landwirte in einer der landwirtschaftlichen Kooperativen der Sharon-Ebene. Zwischen den Obstgärten, Hühnern und Anemonen, die unsere unschuldige, kindliche Welt erfüllten, freuten meine Schwester und ich uns am Frieden und am Glück der Natur, und ich bezweifle, daß wir den Ängsten unserer Eltern um das Schicksal ihrer Angehörigen viel Beachtung schenkten. Ich zweifle jedoch nicht daran, daß wir m den tieferen Schichten unserer jungen Psyche dennoch etwas von ihrer standigen schrecklichen Besorgnis in uns aufnahmen.

Das dritte Erlebnis war eine Reise als Achtjährige mit meiner Familie in das zerstörte Nachkriegsitalien, wo es zum bewegenden Wiedersehen mit den vielen Verwandten kam, die überlebt hatten. Die Eindrücke vom Besuch in dem Kloster, wo sich meine Großmutter versteckt hatte und überleben konnte, werden mich immer begleiten.

Meine Großmutter war eine stolze und starke Frau, die es trotz der Bedrohung und Angst, welche das Sichverstecken im Kloster mit sich brachte, geschafft hatte, ihre Identität, ihre Ehre und sogar ihre Schönheit zu bewahren. Zwischen ihr und der Äbtissin - außer der niemand im Kloster wußte, daß meine Großmutter Jüdin war - entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Sie spielten zusammen Klavierduette, und meine Großmutter erzählte ihr stolz von ihren Enkelinnen in Palästina. Sie verhielt sich in jeder Hinsicht wie eine Christin und nahm sogar regelmäßig an den Gottesdiensten der Nonnen teil. Obwohl ich in einem völlig säkularen Elternhaus aufwuchs, beunruhigte mich etwas an dieser Geschichte. Ich zögerte nicht lange und fragte meine Großmutter ängstlich und in ziemlich holprigem Italienisch: »Was? Großmutter, hast du etwa mit den anderen zusammen die christlichen Gebete gesprochen?« Meine Großmutter wurde ernst, schaute mir direkt in die Augen, lächelte mir dann aber plötzlich augenzwinkernd zu und sagte: »Keine Angst, Dina, in Wirklichkeit habe ich dabei immer ganz leise, ohne daß es jemand gehört hat, unsere jüdischen Gebete gesprochen.« Ich erinnere mich deutlich, wie mich bei ihren Worten ein Gefühl der Erleichterung überkam und wie mich zugleich Stolz auf diese meine Großmutter erfüllte, die es geschafft hatte, selbst im Versteck ihre Ehre und ihre jüdische Identität zu bewahren. Dieses Gefühl hat mich bis zum heutigen Tag nicht verlassen, und ich hüte es wie einen wertvollen inneren Schatz, den ich von der Familie meiner Mutter geerbt habe.

Mehr als dreißig Jahre vergingen, bis ich erneut das Gefühl bekam, daß der Holocaust mich ganz persönlich angeht. Als ich meine therapeutische Arbeit mit Angehörigen der Zweiten Generation aufnahm, erinnerte mich meine Mutter an den Schriftsteller Primo Levi, einen Verwandten aus Turin, den sie noch in ihrer Kindheit kennengelernt hatte. Sie erzählte mir, was er während des Krieges in den Todeslagern erlebt hatte, und gab mir sein Buch Ist das ein Mensch?

Als ich dieses Buch auf italienisch las, das heißt in der Sprache des Autors, die auch meine Muttersprache ist, war ich sehr bewegt und aulgewühlt. Ich erinnere mich insbesonders an meine Empfindungen während des Abschnitts, in dem Levi beschreibt, wie er während einer der Selektionen im Hof des Lagers Auschwitz stand, nackt wie am Tag seiner Geburt. Plötzlich hörte ich zu lesen auf, denn mich durchfuhr ein Gedanke so scharf wie ein Rasiermesser:

An Primos Stelle, oder neben ihm, hätte mein Großvater, meine Großmutter oder irgendein anderer meiner zahlreichen Verwandten stehen können, die nur durch ein Wunder diesem Schicksal entronnen waren. In diesem Moment der Erkenntnis überflutete mich eine große Welle von Schmerz und Trauer. Ich zwang mich, zu diesem imaginären Bild meiner Großmutter und meines Großvaters zurückzukehren, wie sie da nackt im Schnee in einer Schlange von Menschen stehen, die in den Tod marschieren. Das Gefühl schrecklicher Demütigung und Angst, das dieses Bild in mir hervorrief, war derart stark, daß ich es nicht ertragen konnte und mich von dem Bild emotional distanzieren mußte. Erst nach einer Weile konnte ich zu ihm zurückkehren. In diesen Momenten, so schien es mir, konnte ich einen winzigen Teil der intensiven Gefühle und Ängste nachempfinden, die in den Tiefen der Psyche eines jeden Kindes von Holocaust-Überlebenden herrschen.

Nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte, verspürte ich auch Stolz, Dankbarkeit und Bewunderung für Primo Levi, weil er es geschafft hatte, »ein Mensch« zu bleiben und sein Bild vom Menschsein selbst mitten auf jenem »anderen Planeten« zu bewahren. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schrieb ihm einen Brief. Ich erzählte ihm von meiner therapeutischen Arbeit mit den Kindern Überlebender, dankte ihm für die eindringliche Erfahrung, die mir sein Buch vermittelt hatte, und erklärte ihm die besondere Bedeutung, die es persönlich wie beruflich für mich hatte. Levi antwortete mir, und bis zu seinem Tod schrieben wir uns noch einige Male.

Im engeren Sinne bin ich also eigentlich nicht die Tochter von Holocaust-Überlebenden, doch wie andere Nachkommen des europäischen Judentums jener Zeit bin ich das Kind von Eltern, die ebensogut zu den überlebenden Opfern des Holocaust hätten zählen können.

Und in der Tat, welcher Jude ist nicht zumindest das Kind von Eltern, deren Schicksal es auch hätte sein können, in den Holocaust hineingerissen zu werden und am Ende zu überleben? Ich glaube deshalb, daß die in diesem Buch angesprochenen Probleme den Wesenskern der jüdischen Nation nach dem Holocaust und vor allem den Kern der israelischen Gesellschaft berühren. Das zentrale Thema dieses Buches ist, wie die Traumata von Entwurzelung, Vertreibung und Vernichtung, die unsere Vorfahren im Laufe der Jahrhunderte nur zu oft erlitten haben und deren Ende auch heute noch nicht absehbar ist, von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Vielleicht können meine Beschreibungs- und Erklärungsversuche dazu beitragen, Probleme zu erhellen, mit denen sich viele Menschen in vielen Ländern seit Generationen auseinandersetzen müssen. In Israel jedenfalls leben viele Familien, die solchen Traumata in verschiedener Weise und in unterschiedlichem Maße ausgesetzt waren. Deshalb werden sich wahrscheinlich junge ebenso wie ältere Menschen von den hier dargestellten Problemen angesprochen fühlen, und den Sensibleren kann das Buch vielleicht eine Hilfe sein, ihre Mitmenschen besser zu verstehen.

In der Fachliteratur zu den psychischen Problemen der Kinder von Holocaust-Überlebenden wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob diese spezifischen, von Psychologen festgestellten Syndrome bei allen Kindern von Überlebenden auftreten oder nur bei der klinischen Population zu finden sind, also bei denjenigen, die psychotherapeutische Hilfe suchen. Die Frage stellt sich noch dringlicher, wenn man die überdurchschnittlichen Leistungen der Zweiten Generation auf praktischem und theoretischem Gebiet betrachtet. Sie hat sich in Politik und Geschäftsleben bis hin zur Literaturwissenschaft und Kunst hervorgetan, ohne daß dabei irgendein bedeutsamer Unterschied zu erkennen wäre zwischen denen, die therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, und denen, die keine Therapie machen. Die Antworten sind kontrovers und bergen entweder das Risiko unzulässiger Verallgemeinerungen oder besitzen nur für die klinische Population Gültigkeit. Deutlich ist jedenfalls, daß man, um eine zutreffende Antwort geben zu können, viele unterschiedliche Variablen berücksichtigen muß, zum Beispiel wie alt die überlebenden Eltern zur Zeit des Holocaust waren, in welchen Verhältnissen sie vor dem Krieg lebten und welche Art von Trauma sie während des Holocaust erlitten haben. Alle diese Faktoren können, ebenso wie die psychische Stärke des jeweiligen Kindes der Überlebenden, Art und Intensität der Übertragung von Traumata auf die nächste Generation entscheidend beeinflussen. Die Formen, die diese Übertragung annimmt, sind einander im allgemeinen sehr ähnlich, und auf sie konzentriere ich mich in meinem Buch.

Hinzu kommt, wie in folgendem deutlich werden wird, daß in den meisten Familien von Überlebenden eines der Kinder die Rolle einer »Gedenkkerze« für alle im Holocaust umgekommenen Angehörigen erhält und daß ihm die Last aufgebürdet wird, an der inneren Welt der Eltern in weit stärkerem Maße Anteil nehmen zu müssen als seine Geschwister. Diesem Kind wird auch die besondere Aufgabe übertragen, jenes Verbindungsglied zu sein, das einerseits die Vergangenheit bewahrt, andererseits jedoch die Verbindung zur Gegenwart und Zukunft herstellt. Seine Rolle entspringt dem Bedürfnis, das ungeheure Vakuum, das der Holocaust hinterlassen hat, zu füllen. Weil die natürliche Kontinuität zwischen den Generationen abgeschnitten wurde, ist der Zweiten Generation das Privileg wie auch die Pflicht zugefallen, das Verbindungsglied zu bilden, welches jenes Trauma des Abbruchs heilen und die gewaltigen Erwartungen der Eltern und in gewissem Maße sogar des gesamten jüdischen Volkes erfüllen soll. Die Last dieser Erwartungen ist für die Zweite Generation ein anspornendes und aktivierendes Moment und zugleich auch ein Faktor, der sie in ihrem psychischen Wachstum und ihrer Lebenstüchtigkeit hemmt und behindert. Meiner Meinung nach sind diese beiden inneren Kräfte bei allen Kindern von Überlebenden wirksam, aber bei jedem einzelnen anders ausbalanciert, so daß die Lebenstüchtigkeit und das Bedürfnis nach therapeutischer Hilfe jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sind.

Im Laufe der Jahre habe ich mich also bemüht, die Schwerpunkte der zentralen Konflikte, die die innere Welt der »Gedenkkerzen« beeinträchtigen, ausfindig zu machen, und die Konflikte, die mit dem Holocaust, mit ihren Eltern und den irgendwo in Europa verlorenen Angehörigen zusammenhängen, zu verstehen und aufzulösen, mit der Unterstützung der »Gedenkkerzen« selbst, deren aktive Teilnahme dabei die treibende Kraft ist. Ich hoffe, daß unsere gemeinsame Arbeit, die manchmal sehr schwierig und schmerzhaft, aber auch bewegend und bereichernd war, wirklich Früchte getragen hat.

Dina Wardi: Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust - Psychotherapie mit den Kindern der Überlebenden. Mit einem Vorwort von Tilman Moser. Klett Cotta 1997, Euro 25,00
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