[Das
Wesen des Antisemitismus]
Von Graf Heinrich Coudenhove-Kalergi (1859,
Wien - 1906, Poběžovice)
Zweites Kapitel:
Antijudaismus im Altertum
pp 142 in der 1.Auflage von R.N. Coudenhove-Kalergis
1935 herausgegebenem Buch "Judenhass - Antisemitismus".
4. Römerzeit
Das Judentum zur Zeit Christi war bereits fast in
allen Ländern der damals bekannten Welt zerstreut, und zwar hat diese
Zerstreuung begonnen mit der Deportation großer jüdischer Volksmassen
durch die assyrischen und babylonischen Eroberer.
Schon um 140 v. Chr. sagt die Sibylle, dass jegliches Land und jegliches
Meer von Juden erfüllt ist. Um dieselbe Zeit erließ der römische Senat
ein Rundschreiben zugunsten der Juden an die Könige von Ägypten, Syrien,
Pergamum, Kappadokien und viele Provinzen, Städte und Inseln des
Mittelmeeres. 85 v. Chr. sagt Strabo, dass die Juden bereits in jede
Stadt gekommen waren, dass es keinen Ort der Welt gibt, der dieses Volk
nicht aufgenommen hätte. Ähnliches sagen Josephus und Philo. In
Mesopotamien, Medien und Babylonien zählten sie, wie Schürer, die größte
Autorität über das Judentum zur Zeit Christi, sagt, nicht nach
Tausenden, sondern nach Millionen; namentlich waren sie in ganz
Kleinasien und Syrien zerstreut. Philo schätzt die Zahl der ägyptischen
Juden auf zirka eine Million. In den großen Städten Griechenlands fand
der Apostel Paulus überall Synagogen, in Rom zählte die jüdische
Gemeinde nach Tausenden. Julius Cäsar war ein großer Judenfreund; als er
starb, weinten und klagten Scharen von Juden nächtelang an seinem
Scheiterhaufen. Zu Neros Zeit scheint die Kaiserin Poppaea jüdische
Proselytin geworden zu sein, auch scheint es, dass die Juden Roms in
nahen Beziehungen zum Throne gestanden haben. In Gallien und Spanien
treffen wir Juden, wenigstens in der späteren Kaiserzeit. Diese Juden
waren eifrige Proselytenmacher und hatten darin bedeutende Erfolge, da
schon in der letzten Zeit der Republik in Rom eine große Vorliebe für
orientalische Kulte Mode geworden war. Die jüdische Religion war eine im
römischen Staate anerkannte. Die Juden hatten das Recht der eigenen
Vermögensverwaltung und Jurisdiktion über ihre Mitglieder. Vom
Militärdienst waren sie befreit; warum? Aus einem religiösen Grunde, da
sie am Sabbat keine Waffen tragen und nicht weiter als 2000 Ellen
marschieren durften. Sie hatten das Privilegium, am Sabbat nicht vor
Gericht erscheinen zu müssen. Vorübergehend wurden die Juden auch im
römischen Reich verfolgt. Tiberius verbannte im Jahre 19 n.Chr. die
Judenschaft aus Rom, weil ein paar Juden einer Proselytin, namens
Fulvia, große Summen Geldes abgeschwindelt hatten, unter dem Vorwande,
dieselben seien für den Tempel in Jerusalem bestimmt.
Unter Caligula drohte der gesamten Judenschaft des
römischen Reiches die größte Verfolgung, als die Juden sich weigerten,
ihm göttliche Ehren zu erweisen. Zum Glück für die Juden starb Caligula,
bevor es zum Ärgsten gekommen war. Seit Caligula wurde nie mehr
versucht, die Juden zum Kaiserkultus zu bewegen, weil die römischen
Machthaber begriffen hatten, dass es unmöglich wäre, sie dazu zu zwingen
und ein derartiger Versuch nur zwecklose Hinrichtungen zur Folge haben
würde. Schon in der seleukidischen und ptolemäischen Zeit hatten viele
Judengemeinden in Syrien und Ägypten das Bürgerrecht erhalten. Julius
Cäsar bestätigte es ihnen ausdrücklich. Die Folge waren fortwährende
Reibungen der Juden mit den Nicht-Juden, und warum? Bloß aus religiösen
Gründen. Die Juden hatten alle Rechte wie die übrigen Bürger, wollten
aber um keinen Preis den mit dem Bürgerrecht als Pflicht verbundenen
Kultus der nationalen Götter mitmachen, da sie dies infolge der
Bestimmungen ihrer Thora für ein entsetzliches Verbrechen hielten. Alle
anderen von den Römern unterjochten Völker huldigten anstandslos den
heidnischen Göttern, und kein Mensch hinderte sie, sich dabei ihren Teil
zu denken, wie die Gebildeten der Zeit es ja auch taten. Eine
Verneigung, eine Handvoll Weihrauch vor dem Götterbild, kein Mensch
verlangte mehr. Alle Völker des Erdkreises taten dies anstandslos und
machten sicherlich ihre Witze über diesen Aberglauben. Aber die Juden
und später auch die Christen sagten: nein, lieber sterben! Dass das die
"Heiden" wegen des darin sich äußernden Mangels an Patriotismus auf das
höchste reizen musste, lässt sich denken. Nur dadurch sind die Juden-
und Christenhetzen zu erklären. Erleben wir doch ganz genau dasselbe in
C h i n a. Die blutigen Verfolgungen und Kriege der Chinesen gegen
die Mohammedaner, die grausamen Massakers der Christen dortselbst*)
haben in gar nichts anderem ihren Grund, als in der Verweigerung des
Kompliments vor der uralten Staatsreligion seitens der beiden
monotheistischen Bekenntnisse. Würden Christen und Muslime in
Kleinigkeiten nachgegeben, ihren Kratzfuss vor den "Götzen" gemacht, an
religiösen Prozessionen teilgenommen, hie und da einen Heller für die
Tempel und die Geistlichkeit
gespendet und bei Eheschließungen nicht in schroffer Weise die
Bedingung, dass alle Nachkommen in ihrer, das heißt einer anderen als
der Staatsreligion erzogen werden müssen, gestellt haben, welcher
chinesische Mandarin würde sich jemals um die zwei fremden Religionen
gekümmert haben? Nicht mehr, als sie sich für den Buddhismus und den
Taoismus interessieren.
•) Boxerunruhen. (A. d. H.)
Hätten Juden und Christen im römischen Reiche sich
tolerant und freundlich wohlwollend gegen die kindische römische
Staatsreligion benommen, kein Mensch hätte sie in der Ausübung ihres
Kultus gestört. Sie taten es nicht, sie bluteten und starben lieber. Und
warum? Weil in der Thora steht, dass man nur an einen einzigen Gott
glauben darf und dass "Götzendienst" ein verruchtes Verbrechen sei. Jene
Märtyrer nun, die für ihren Glauben, selbst unter Martern, ihr Leben
ließen, sind sicherlich nicht zu bedauern, denn sie starben mit
Begeisterung, im Vorgefühl unendlicher, unmittelbar bevorstehender
Seligkeit. Die schwerste Stunde des menschlichen Lebens, ihre
Todesstunde, wird ihnen verklärt; es ist möglich, ja wahrscheinlich,
dass sie sich in einem Zustande der Ekstase befanden, in welchem
physischer Schmerz überhaupt nicht empfunden wird. Diese Personen sind
nicht zu bedauern, sondern im Gegenteil zu beneiden. Aber was ist von
jenen zu halten, die, lau im Glauben, gar kein Verlangen haben nach der
Palme der Märtyrer, die unter dem Motto: "Mitgefangen, mitgehangen" zur
Schlachtbank geführt werden, die nicht mehr apostasieren können, weil
die Richter oder Henker ihnen die Zeit und Gelegenheit dazu nicht mehr
geben; was ist zu halten vom Schmerz der unglücklichen Eltern und
Verwandten dieser Märtyrer, wenn sie selbst "Ungläubige" und
"Götzendiener" geblieben sind? Welche furchtbaren Leiden, welch ein
Schmerz! Und wer sind jene, die solche Situationen heraufbeschworen
haben? Wer hat eine Situation geschaffen, durch welche solche Massaker
möglich geworden sind? Jüdische Theologen, die vor mehr als 25
Jahrhunderten die Feder geschwungen haben.
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der römischen Judenverfolgung... |