Der Erste Weltkrieg
Von Werner Bergmann
Werner Bergmann ist Professor für Antisemitismusforschung an der
Technischen Universität Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zur
Geschichte des Antisemitismus vorgelegt, darunter "Antisemitismus in
der Bundesrepublik Deutschland" (1991, zus. mit R. Erb) und "Geschichte
des Antisemitismus" (Beck 2002).
Die Behandlung der Juden in
Russland, Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg bündelt wie
in einem Brennglas ihre Stellung in der Nation. Während in
Frankreich die Dreyfus-Affäre und die Kriegsteilnahme die weitere
Integration der Juden in die französische Gesellschaft förderten,
erlebten sie in Russland als potenzielle Landesverräter eine
vollständige Exklusion. In Deutschland wendete sich mit dem
ungünstigen Kriegsverlauf das Blatt immer stärker zu Gunsten einer
antisemitischen Ausschlusspolitik.
Als sich im Kriegsverlauf die wirtschaftlichen Probleme in Russland
verschärften, spielte die nationale Rechte bis in die Duma hinein
die "Judenfrage" hoch. Man sah überall eine jüdisch-freimaurerische
Verschwörung am Werk. Die Juden wurden trotz ihres Dienstes in der
zaristischen Armee als Spekulanten beschuldigt und - wohl wegen des
Jiddischen - permanent der Spionage für die Deutschen und
Österreicher verdächtigt, zumal das deutsche Heer in Polen als
Befreier der Juden auftrat, obwohl man tatsächlich 70.000 jüdische
Zwangsarbeiter nach Deutschland verbrachte. Beim Rückzug der
russischen Armee 1915 kam es zur Massenevakuierung von einer halben
Million Juden, auch andere Teile der Bevölkerung waren davon
betroffen. Die Evakuierungen aus dem Rayon und die Wirren des
Krieges beraubten viele Juden ihrer Lebensgrundlage, die sich nun in
bisher "judenfreien" zentralrussischen Städten ansiedelten. Der
Krieg brachte in der Armee erstmals viele russische Bauern und
Arbeiter mit Juden zusammen (es gab 60.0000 jüdische Soldaten), da
man außerhalb des Ansiedlungsrayons oft keine Juden kannte. Diese
Begegnung hinterließ bei den russischen Soldaten ein Gefühl der
"Fremdheit". Das Jiddische ähnelte der Sprache des Feindes, und die
antisemitische Agitation über jüdische Profiteure tat ein Übriges,
um hier Vorurteile einzupflanzen, auf die später die kommunistischen
Parteiinstruktoren stoßen sollten.
Mit der Revolution wurde die rechtliche Emanzipation der Juden
endlich verwirklicht. Am 20. März 1917 hob die provisorische
Regierung Kerenskij alle Einschränkungen auf, was die Rechten das
Gerücht ausstreuen ließ, Kerenskij sei jüdischer Herkunft. Wenn auch
die Gleichstellung erreicht war, bedeutete die Revolutions- und
Bürgerkriegszeit für viele Juden doch Pogrom und Verfolgung.
Anders als in Russland wurden im nationalen Überschwang bei Ausbruch
des Krieges die Juden im Deutschen Reich zusammen mit den
Sozialdemokraten zunächst in den sog. "Burgfrieden" einbezogen. Es
schien, als sei der gegenseitige Argwohn, mit dem sich die
Reichsregierung und die jüdische Gemeinschaft vor dem Krieg
gegenübergestanden hatten, überwunden. Die Juden erhofften sich vom
Nachweis ihrer patriotischen Gesinnung im Kriegsdienst die völlige
Gleichbehandlung in der deutschen Gesellschaft. Dieser patriotische
Konsens bestand vom liberalen C.V. über die Orthodoxie bis zu den
Zionisten. Tatsächlich wurden Juden wie Walther Rathenau oder Albert
Ballin in führende Positionen der Kriegswirtschaft berufen, und die
antisemitische Agitation unterlag strenger Zensur. Der "Burgfrieden"
erwies sich jedoch als eine "Schönwetter-Konstruktion", die
vielleicht bei einem deutschen Sieg bleibende Effekte auf das
deutsch-jüdische Verhältnis gehabt hätte. Je mehr sich das
Kriegsglück gegen Deutschland wendete, desto mehr Raum gewann die
Rechte für ihre antijüdische Agitation. Im Militär machte sich auf
allen Ebenen bereits 1915 Antisemitismus wieder offen bemerkbar.
Dahinter stand eine Kampagne der Rechten, die Eingaben an die
Regierung und das Kriegsministerium organisierte, in denen Juden
"Drückebergerei" vorgeworfen wurde. SPD und Fortschrittliche
protestierten dagegen im Reichstag, und eine Weile widerstand die
Regierung dem Druck von rechts, bis sie schließlich im Oktober 1916
eine "Judenstatistik" anordnete, die den Einsatz von Juden im Heer
erfassen sollte. Gegen diese infame Maßnahme erhob sich vor allem
von jüdischer Seite Protest, so dass die Ergebnisse nicht
veröffentlicht wurden, was antisemitischen Unterstellungen Tür und
Tor öffnete. Für die Juden bedeutete die "Judenzählung" eine tiefe
Enttäuschung, sie fühlten sich von dem Land verraten, für das sie
ihr Leben einsetzten.
Die antijüdische Stimmung der Front und die von der Rechten in die
Welt gesetzte Legende von der jüdisch beherrschten Kriegswirtschaft
beeinflußten die Bevölkerung, die die Juden als "Schieber" und
"Kriegsgewinnler" für die sich im "Kohlrübenwinter" 1916/17
drastisch verschlechternde Versorgungslage verantwortlich machte.
Der Kriegsverlauf spaltete die Deutschen in zwei ideologische Lager:
Die Kriegsziele der "Falken" liefen auf einen imperialistischen
"Siegfrieden" hinaus, der Deutschland Weltgeltung sichern sollte.
Innenpolitisch strebten sie die "Entfernung des Giftes aus dem
deutschen Volkskörper" an, womit vor allem das "internationale
Judentum" gemeint war. In diesem Lager befanden sich die
Spitzenverbände von Industrie und Landwirtschaft, die Konservative
Partei, der Alldeutsche Verband und Teile der Nationalliberalen. Ihr
Kampf richtete sich gegen die "Flaumacher", die einen Frieden ohne
Annexion anstrebten und für Demokratie und soziale Rechte stritten.
In diesem Lager fanden sich Liberale, Linke, Juden und Katholiken.
Die Polarisierung zwischen beiden Lagern wuchs. Im Reichstag wurde
1917 mit den Stimmen von SPD, Nationalliberalen und
Deutschkonservativen eine Friedensresolution verabschiedet. Gegen
diese von der Heeresleitung ignorierte Resolution gab es eine
heftige Kampagne des AV, der BdL, der Veteranenverbände und
antisemitischen Gruppen. Der AV warnte, "der Reichstag der Juden
wird einen Judenfrieden machen!" Im September 1917 wurde vom
späteren Putschisten Wolfgang Kapp und Admiral v. Tirpitz die
"Deutsche Vaterlandspartei" gegründet, die als Sammelbecken
völkisch-nationaler und annexionistischer Kreise zur
mitgliederstärksten Partei des Kaiserreichs wurde.
Ein weiterer Streitpunkt war die schon vor dem Krieg debattierte
"Ostjudenfrage", also die Einwanderung russischer Juden nach
Deutschland (bis 1915 ca. 90.000), die sich schon bald nach dem
Kriegsausbruch intensivierte, da man nun mit der Ausdehnung
Deutschlands nach Osten die Gefahr einer Masseneinwanderung
heraufkommen sah. In der Broschüre "Die Ostjudenfrage, Zionismus und
Grenzschluß" warnte Geheimrat Georg Fritz schon 1915 vor der Flut
von "Millionen nicht nur armer, leiblich und sittlich verkümmerter
Menschen, sondern rassefremder, verjudeter Mongolen". Für eine
Grenzsperre für Ostjuden gab es durchaus auch Sympathie bei
deutschen Juden, die eine Verschärfung des Antisemitismus
befürchteten, warnten doch rechtsstehende Verbände, die verstärkte
Zuwanderung würde zum Wiederaufleben der "Judenfrage" führen, die
dann nur durch Aufhebung der Gleichberechtigung zu lösen wäre. Im
April 1918 kam es dann zur medizinalpolitisch mit Fleckfieber
begründeten Grenzschließung, obwohl man allenthalben in Osteuropa
Fremdarbeiter für die deutsche Wirtschaft anwarb. Trotz der Proteste
deutsch-jüdischer Organisationen und des Auswärtigen Amtes blieb die
Grenzsperre bis Kriegsende bestehen.
Die Alldeutschen und andere völkische und antisemitische Gruppen
mussten nicht den Waffenstillstand, die Abdankung des Kaisers und
die Ausrufung der Republik im November 1918 abwarten, um den Juden
die Schuld an der Niederlage zu geben, hatten sie doch bereits 1917
den Krieg in einen Kampf ums Dasein zwischen Deutschtum und Judentum
umgedeutet. Noch im September 1918 gründeten sie zur Koordination
der antisemitischen Aktivitäten einen "Ausschuss für die Bekämpfung
des Judentums", der die Bereitschaft signalisierte, Antisemitismus
bedenkenlos als politische Waffe bis hin zum Mord einzusetzen. Mit
der "Dolchstoßlegende" besaß man ein wirksames Propagandainstrument,
um die Wende des Krieges aus der Verantwortung des Militärs auf
andere Gruppen wie Juden und Sozialdemokraten abzuschieben. Auf
jüdischer Seite sah man diese Aktivitäten mit Sorge und fürchtete,
dass man sich würde "auf einen Judenkrieg nach dem Kriege gefasst
machen müssen".
Der Antisemitismus der Vor- und Nachkriegszeit besitzt starke
organisatorische, personelle und inhaltliche Kontinuitäten, dennoch
spricht vieles dafür, im Zusammenbruch der europäischen Ordnung von
1914 und im Erleben des ersten Massenkrieges und -todes eine Zäsur
zu sehen. Die Erfahrung der "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts -
die Wirkung des Gaskrieges auf Adolf Hitler ist bekannt - hat
gemeinsam mit der von Niederlage und Revolution vor allem, aber
nicht nur in den Verliererstaaten zur Ausbreitung eines
revolutionären Hypernationalismus (Faschismus) geführt und die
Bereitschaft der Bevölkerung verstärkt, den "alten" Behauptungen der
Antisemiten zu glauben, die "Lösung der Judenfrage" wäre die Lösung
der sozialen und nationalen Probleme. Auch wenn die Wurzeln des
deutschen und österreichischen Antisemitismus vor 1914 zu suchen
sind, so erklären sich seine ungeheure Dynamik und Radikalität nach
1918 aus Krieg, Niederlage, Revolution und Gewalterfahrung. Auch das
Beispiel Ungarn zeigt, wie ein scharfer politischer Antisemitismus
relativ unvermittelt nach der Niederlage und den Gebietsverlusten
von 1918 hervortrat. Offenbar sind durch den Ersten Weltkrieg und
seine Folgen die Resonanzbedingungen für antisemitische Politik in
vielen europäischen Staaten grundlegend verändert worden.
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Geschichte des Antisemitismus
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