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"Was der Jude glaubt ist einerlei...":
Der Rassenantisemitismus in Deutschland

Von Ludger Heid
aus: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien 1995. Elektronische Quelle: http://www.link-f.org

Der Begriff "Antisemitismus" wurde erstmals 1879 in Deutschland verwendet und bezeichnet die Feindschaft gegen Juden. Die Antisemiten stützen sich dabei auf vorgegebene religiöse, wirtschaftliche, rassische, kulturelle und politische Motive, um die Juden gesellschaftlich auszugrenzen.

Ein religiös motivierter Antijudaismus war bereits in der Antike verbreitet, machte sich vor allem im Mittelalter bemerkbar und fand seinen Ausdruck in der Errichtung von Ghettos, Kennzeichnungen ("Judenfleck"), Zwangstaufen und Verfolgungen. Nie erloschen ist der seit Beginn der frühen Neuzeit erhobene Vorwurf, der Jude sei von Natur aus ein Geldmensch, ein "Wucherer" und "Blutsauger". Dabei ist es nicht schwer zu erklären, dass Juden seit dem Mittelalter aus der wirtschaftlichen Gesellschaft des "christlichen" Kaufmannsstandes systematisch herausgedrängt und ihnen "unehrliche" Berufe zugewiesen wurden. Wirtschaftliche Judenfeindschaft ist eine Folgeerscheinung der gesellschaftlichen Ausgrenzung und fordert die Beschneidung jüdischen Einflusses in der Wirtschaft. Der kulturelle Antisemitismus wendet sich gegen die Beschäftigung von Juden mit nichtjüdischem Kultur- und Gedankengut und ihre Beteiligung an kulturtragenden Institutionen. Der neuzeitliche Judenhass nahm alte Begriffe wieder auf wie: "Christuskreuziger", "Ungläubige", "Volksschädlinge", "Kulturzersetzer", "Untermenschen", "Weltverschwörer".

Seit dem 19. Jh. stützt sich die Judenfeindschaft vorwiegend auf Rassegedanken durch Betonung der Fremdartigkeit des jüdischen "Stammes".

In Opposition gegen den Reformkurs Karl August Fürst von Hardenbergs, in Überbetonung nationaldeutscher Werte und in Abneigung gegen die Juden schlossen sich adelige und bürgerliche Romantiker 1811 zu einer Berliner "Christlich-deutschen Tischgesellschaft" zusammen. Unter den Teilnehmern dieses literarischen Zirkels befanden sich auch Heinrich von Kleist, Clemens Brentano, Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte. Das Vereinsstatut setzte einen "Arierparagraphen" fest, der die Mitgliedschaft von Juden ausschloss. Bei einer Sitzung der Tischgesellschaft im März 1811 trug Clemans Brentano eine "scherzhafte Abhandlung" vor, in der er traditionell christlichen Judenhass mit Animositäten gegen die aufziehende kapitalistische Markt- und Geldwirtschaft vermengte. Die antijüdischen Auslassungen Brentanos wurden von der Tischgesellschaft - von der einige Mitglieder ständig in den jüdischen Salons von Henriette Herz und Rahel Levin verkehrten - mit solcher Zustimmung aufgenommen, dass sich Brentano veranlasst sah, sein Vortragsmanuskript drucken zu lassen. (1)

Dieses Beispiel aus der Voremanzipationsphase zeigt, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben religiösen und wirtschaftlichen Motiven erstmals rassistisch-biologische Vorurteile in das antijüdische Denken der Zeit eingeflossen waren.

In seiner Schrift mit dem programmatischen Titel "Germanomanie" verurteilte der Berliner jüdische Schriftsteller Saul Ascher Nationalismus und Deutschtümelei und zog sich damit den Zorn der deutschen Burschenschaften zu, die Aschers Broschüre auf dem Wartburgfest 1817 verbrannten. Diese symbolische Ermordung Aschers war der Anstoss zu Heinrich Heines drei Jahre später geäußerter Prophezeiung: "Dies war ein Vorspiel nur; dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen." (2)

Im Zeitalter eines "hoch aufschäumende(n) deutsche(n) Nationalismus" (3) gaben rassistische Volkstumslehren romantischer Agitatoren wie Ernst Moritz Arndt und "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn den Ton an. Die nationale Idee der deutschen Einheitsbewegung verband sich mit Doktrinen, die an die Stelle der traditionellen religiösen Judenfeindschaft eine biologisch begründete setzten. In einer wertmässig abgestuften Hierarchie von Menschenrassen wurden einzelnen Völkern kollektive, unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben. Jahn war überzeugt, dass es - so wie es "taube Nüsse" gibt - auch "taube Staaten und ohne Volkstum taube Völker" gebe, zu denen er unzweifelhaft die Juden rechnete. (4) Und Arndt wollte die Juden von Deutschland fernhalten, damit sich der "germanische Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein" (5) erhalte.

Mit der Taufe konnten sich die Juden in gewissem Sinne das "Entree-billett" in die europäische Kultur erwerben, doch in einer Zeit, in der man begann, sie ethnisch zu definieren, war der Glaubenswechsel allenfalls eine Scheinlösung. Heinrich Heine nahm zwar die Taufe, ohne allerdings das Judentum zu verlassen. "Ich bin getauft", räumte er ein, "aber ich bin nicht bekehrt." (6) In ihrer Gegnerschaft zu den Juden waren sich konservative Nationaldeutsche und Fortschrittliche, die von den Ideen der Französischen Revolution durchdrungen waren, einig - die Judenfeindschaft unterschiedlicher sozialer Klassen war sozusagen eine ideologische Klammer. In der Voremanzipationsphase begannen antijüdische Autoren, die eine radikale Reform hinsichtlich des Status der Juden befürchteten, eine heftige "literarische" Kampagne gegen diese. Die antijüdischen Ideologen warnten - ganz im Fichteschen Sinne - vor einer bürgerlichen Gleichstellung: "Die wesentlichen Punkte des Judentums untergraben die Geselligkeit, sie bewirken einen Staat im Staate, und zwecken dahin ab, den Juden die Herrschaft zu verschaffen und die übrigen Bürger zu ihren Sklaven zu machen." (7)

Das deutsche Nationalbewusstsein, das die Befreiungskriege getragen und das die deutschen Juden ebenso wie die deutschen Christen beseelt hatte, besaß einen gefährlichen judenfeindlichen Akzent. In seiner Schrift "über die Gefährdung des Wohlstandes und des Charakters der deutschen durch die Juden" kam der Heidelberger Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries zu dem Schluss, die Juden seien auszutreiben oder mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein Berliner Universitätskollege, der Historiker Friedrich Rühs, schlug vor, den Juden alle Rechte abzusprechen und die Judensteuer sowie die alten Judenkennzeichen - Spitzhut, gelben Ring ("Judenfleck") - wieder einzuführen.

Am weitesten jedoch ging der Publizist Hartwig von Hundt-Radowsky. In seinem 1819 in Würzburg erschienenen "Judenspiegel" regte er an, alle Jüdinnen ins Bordell zu stecken, alle Juden zu kastrieren, sie nur noch in Bergwerken unter Tage arbeiten zu lassen oder sie an die Engländer zu verkaufen, die sie in ihren überseeischen Kolonien als Sklaven einsetzen sollten. Die Tötung eines Juden hielt er weder für eine Sünde noch für ein Verbrechen.

Hundts demagogische Forderungen, die Juden auszurotten oder sie mindest zu vertreiben und Deutschland ganz von dem "Ungeziefer" zu reinigen, wurden in der Hepp-Hepp-Bewegung im Jahre 1819 blutige Wirklichkeit. In vielen deutschen Städten kam es zu Pogromen mit Einbrüchen, Plünderungen, Misshandlungen und Morden. Zentrum der judenfeindlichen Ausschreitungen war Würzburg, wo es zur Austreibung von 400 Juden kam. An den Tumulten beteiligten sich v.a. Studenten, Kleinbürger und verschuldete Bauern, die mit "Hepp-Hepp-Jud-verreck!"-Rufen (8) als diabolische Volksbelustigung Juden verhöhnten und misshandelten.

Die akademischen Hetzschriften machten eine antijüdische Haltung im Bildungsbürgertum salonfähig. Flugblätter und antijüdische Parolen erreichten die unteren Schichten und lösten die Gewalttätigkeiten aus. Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Erbitterung waren die Kennzeichen dieser Jahre nach dem Aufschwung der Befreiungskriege: das dürftige Ergebnis des Wiener Kongresses, eine Wirtschaftskrise nach Aufhebung der Kontinentalsperre, Polizeischikanen, "Demagogen"-Verfolgung und die Karlsbader Beschlüsse nach dem Attentat auf den Diplomaten August von Kotzebue, steigende Brotpreise nach den Missernten von 1816/17. Es genügte schon, wenn ein jüdischer Händler seine Waren billiger verkaufte als sein nichtjüdischer Konkurrent, um Krawalle auszulösen. Eine scharfe Konkurrenzerfahrung löste bei manchen "christlichen" Kaufleuten den antisemitischen Komplex aus: Es sei nur deshalb so schlimm um die Wirtschaft bestellt, weil auch "die Juden" ihre Hände im Spiel hätten. Die kleinen Händler fühlten sich an die Wand gedrängt und reagierten bitter. Mit der Formel "Flucht in den Hass" hat Eva Reichmann die psychische Reaktion auf jene ökonomischen Umstände treffend bezeichnet. (9)

Die Hepp-Hepp-Unruhen - durchaus keine marginalen und lokal begrenzten Erscheinungen - zeigen besonders eindringlich die Verflechtung von lokalen Anlässen und politisch-sozialen Bedingungen mit historischen Traditionen. Sie wiederholen sich in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder: In den revolutionären Jahren 1830 und 1848 erfolgten unter diesem Schlachtruf weitere Gewalttätigkeiten gegen Juden, häufig auch im Zusammenhang mit der Anschuldigung des Ritualmordes, dessen man die Juden dann bis ins 20. Jh. hinein zieh.

Zwar gelangten in der preussischen Reformzeit unter der Kanzlerschaft Hardenbergs einige (getaufte) Juden in Staatsämter, (10) doch erst die gescheiterte, aber für die demokratische Entwicklung in Deutschland nicht vergebliche Revolution von 1848 bot ihnen die Möglichkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden. Zu diesem Zeitpunkt glaubten die Juden endlich ihr Ziel erreicht zu haben. Mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 und der beginnenden Reaktionsphase mussten sie jedoch erkennen, dass die Emanzipationsgesetze und die ihnen verfassungsmässig zustehenden Rechte mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit bestanden. Die von den Hochkonservativen entwickelte christliche Staatsidee zielte auf die Rücknahme des Gleichberechtigungsprinzips für die Juden. Sprachrohr der Vertreter dieser Richtung war die "Neue Preussische Zeitung" ("Kreuzzeitung"), die keine Gelegenheit ausließ, gegen die Juden zu polemisieren. Besonders der Chefredakteur dieser Zeitung, Hermann Wagener, ein Vertrauter Bismarcks, betrieb in seinen Leitartikeln antijüdische Agitation: Die Presse würde zu zwei Dritteln von Juden beherrscht, und diese führten einen "boshaften und erbitterten Vernichtungskampf" gegen alles, "was Christ oder Christentum" (11) heiße.

Zum antijüdischen Repertoire gehörte auch das Bild des Wucherers, des Preisträgers und Ausbeuters, der sich an den Christen bereichere und an ihrem Schweiß vollsauge. Es sei unbedingt notwendig, hieß es in dem Blatt, sich gegen die Juden zur Wehr zur setzen. Provozierend prophezeite das Organ Hass und Rache des Proletariats, die sich unter bestimmen Umständen leicht Luft machen könnten. Und ganz im Jargon der Vernichtungsantisemiten wurde von einer Judenverfolgung orakelt, wie sie die Welt noch nicht erlebt habe. (12) Und immer wieder ist die Rede von der "Fremdartigkeit" der Juden, womit der rassistisch-biologistische Antisemitismus der mörderischen Form antizipiert wurde. Die antisemitischen Gedankengänge, die in den Konservatismus eindrangen, sind im Wesentlichen auf den Einfluss des Hegelianers Bruno Bauer zurückzuführen. In der Auseinandersetzung mit Bauer hat sich übrigens auch Marx - der mit Bauers Schilderungen der Juden, nicht aber mit dessen Schlussfolgerungen, übereinstimmt - mit der "Judenfrage" befasst. Bauer bediente sich seit den 1850er Jahren, wenn er über Juden spricht, einer Rassenterminologie: "(...) man nehme den Juden aus Portugal, Deutschland, Polen, England oder sonst wo her, er ist überall derselbe, weder Portugiese noch Deutscher, weder Pole noch Engländer. Er ist der echte und unverfälschte Jude geblieben, den nichts beherrscht als der Racetypus. Der Jude gibt den Kern seiner nationalen Eigentümlichkeit ebenso schwer auf, als es ihm vermöge seiner geistigen Elastizität leicht wird, sich in das Kleid jeder beliebigen Nationalität zu hüllen und bis zu einem gewissen Grade sich die fremde Nationalität formell anzueignen. Aber seine Denkweise bleibt in jedem Kleide und unter jedem Himmelsstrich dieselbe; jüdischer Sinn und jüdisches Blut sind unzertrennlich geworden, weshalb das Judentum nicht allein als Religion und Kirche, sondern ganz vorzüglich als der Ausdruck einer Raceneigentümlichkeit die eingehendste Betrachtung verlangt: die Taufe macht den Juden nicht zum Germanen ..." (13)

Parallel zur Emanzipationsbewegung bildet sich in der Belletristik ein negativ verzerrtes Bild vom Juden heraus, das zwar stereotype Urteile aus der christlichen Tradition übernimmt, jedoch neue Überzeichnungen popularisiert. Juden verkörpern in Romanen häufig das dunkle Gegenstück zu den lichteren christlich-germanischen Gestalten (z.B. in Gustav Freytags "Soll und Haben", in Felix Rabes "Hungerpastor" oder in Felix Dahns "Ein Kampf um Rom"): den jüdischen Wucherer, den Streber, den herzlosen Ausbeuter und den fremden, "Jargon" sprechenden, also "mauschelnden" Juden. Hinzu kommt der jüdische Revolutionär, der alles Bestehende verneint und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Annette von Droste-Hülshoffs "Judenbuche" oder Adalbert Stifters "Abdias", wo menschlich-sympathische Judengestalten gezeichnet werden, sind literarische Ausnahmen.

Im Herbst 1879 hatte der protestantische Hofprediger Adolf Stöcker mit seiner judenfeindlichen Rede "Unsere Forderungen an das moderne Judentum" die "Berliner Bewegung" ins Leben gerufen und mit der Gründung der "Christlich-sozialen (Arbeiter-)Partei" den politischen Antisemitismus zu einer Massenbewegung in Deutschland gemacht. Proagandistisch unterstützt wurde Stöcker von dem Berliner Historiker Heinrich von Treitschke, der eigentlichen treibenden Kraft des modernen Antisemitismus.

Nichts hat die öffentliche Meinung zu Beginn der 1880er Jahre mehr aufgewühlt und beschäftigt als die "Judenfrage". Eduard Bernstein, ein sensibler Beobachter der Szene, hat die Berliner Pogromluft dieser Jahre als eine "Sturzwelle judenfeindlicher Reaktion" beschrieben. (14) Kein Zweifel - die Antisemiten waren auf dem Vormarsch. Sie brachten eine Viertelmillion Unterschriften unter eine Petition zusammen, in der die Errungenschaften der Judenemanzipation von 1812 quasi rückgängig gemacht werden sollten. U.a. wurde darin die Einschränkung bzw. Verhinderung der (ost-)jüdischen Einwanderung sowie die Ausschließung der Juden aus allen obrigkeitsstaatlichen Stellungen gefordert. Im November 1880 debattierte das Preussische Abgeortdnetenhaus an zwei Sitzungstagen über diese Petition, und die Abgeordneten der "Fortschrittspartei", die die Debatte beantragt hatten, kämpften allein gegen eine Parlamentsmehrheit, die kein Vorurteil unausgesprochen liess.

Die Sozialdemokraten - als außerparlamentarische Opposition - blieben in der Debatte stumm und überließen den Linksliberalen das Feld. Kein führender Sozialdemokrat erhob seine Stimme zur Verteidigung der Juden. (15) Erst 13 Jahre später rang sich die Partei zu einer grundsätzlichen Stellungnahme durch. Dennoch: Auf pogromähnliche antisemitische Ausschreitungen am Silvesterabend 1880 in Berlin hin, beriefen die Sozialdemokraten eine Massenversammlung ein, um die Stellung der Arbeiter zur "Judenfrage" klarzulegen. Auch in der Folgezeit demonstrierten sozialdemokratische Arbeiter in antisemitischen Versammlungen. (16)

Doch auch innerhalb der Sozialdemokratie gab es einen volkstümlichen, "taktischen" Antisemitismus - als Reflex auf eine in der Arbeiterschaft verbreitete intellektuellenfeindliche Stimmung. Mit dieser Haltung konnten antisemitische Angriffe gegen die Sozialdemokratie neutralisiert und auf ihre Urheber zurückprojiziert werden. Sicherlich war die deutsche Sozialdemokratie - nach ihrer Selbsteinschätzung - nicht antisemitisch, einzelne Parteigenossen haben ihre Unsicherheit in der "Judenfrage" jedoch nicht abzulegen vermocht, und es gab in der Arbeiterpartei erklärte Antisemiten. Das funktionale Argument der Sozialisten gegen den Antisemitismus war die Behauptung, dass dieser das Klassenbewusstsein der Arbeiter verschleiere und den Klassenkampf in die falsche Richtung lenke. Dieses Argument bemühte sich nicht um das Problem des Antisemitismus als solchen, schon gar nicht um dessen Opfer, sondern bildete sozusagen die funktionale und politische Grundlage in der tagtäglichen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Wer das Judentum nicht mehr religiös, sondern als Synonym mit Geld und "Schacher" definiert, oder - wie Marx - mit dem weltbeherrschenden bösen Prinzip "Kapital", der muss irgendwann seine eigenen Ressentiments in eine gute Ideologie umpolen. Durch den Antisemitismus hindurch zum Klassenbewusstsein - das war ein wichtiges Element im Selbstverständnis der Arbeiterbewegung. Marxens Haltung zur "Judenfrage" hat dazu beigetragen judenfeindliche Vorurteile innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung zu bewahren und den Juden mit dem kapitalistischen Ausbeuter gleichzusetzen. Erst als die Sozialdemokratie begriffen hatte, dass sich Antisemiten und Konservative zu einer Allianz gegen die Arbeiterbewegung zusammengeschlossen hatten und der Antisemitismus eine Domäne und integraler Bestandteil der Rechten geworden war, trat die Partei deutlich und programmatisch dagegen auf. Allgemein lässt sich feststellen, dass die deutsche Sozialdemokratie insgesamt in Theorie und Praxis den Antisemitismus ablehnte, wenngleich sie ebenso grundsätzlich allen Bestrebungen der Juden, ihre religiösen, kulturellen oder nationalen Traditionen zu bewahren oder mit neuem Leben zu erfüllen, gleichgültig bis feindlich gegenüberstand.

Während der stürmischen Industrialisierung und Modernisierung Deutschlands gelang den Juden zwar eine weitgehende Akkulturation, aber von einer "Symbiose" der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung kann nicht die Rede sein. Viele Juden schafften den sozialen Aufstieg in Bereiche des Handelns, einiger Industriebranchen und der Geldwirtschaft. Allgemein strebten sie ins Besitz- und Bildungsbürgertum, da ihnen auch trotz der rechtlichen Emanzipation nach der Reichsgründung de facto Stellungen im öffentlichen Dienst und eine Militärlaufbahn vorenthalten blieben. Obwohl die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 die rechtliche und politische Gleichstellung der Juden gesetzlich verankerte und mithin die Emanzipation äußerlich zu einem Ende gelangt war, bestand eine Kluft zwischen dem geschriebenen und dem in Wirklichkeit geltenden Gesetz, "zwischen Sollen und Sein, zwischen Sittlichkeit und Sitte". (17) So drängten viele in die freien Berufe und den ihnen offenstehenden Kulturbereich - hier ließ sich eine gute Bildung mit der Möglichkeit, Besitz zu erwerben, verbinden. Die Berufe, in denen Juden stärker repräsentiert waren - Verleger, Regisseure, Schauspieler, Journalisten und Kritiker -, waren zugleich diejenigen, denen ein hoher öffentlicher Bekanntheitsgrad zukam. Folglich waren die Antisemiten religiöser, wirtschaftlicher und rassistischer Prägung ohne große Schwierigkeiten imstande, auf die "Überfremdung" des deutschen Volkes durch die Juden hinzuweisen und, indem sie deren weithin bekannte Namen nannten, diese als Träger der Moderne und damit als die Zerstörer der althergebrachten Ordnung zu brandmarken.

Auch in Krisenzeiten konnten die wirklichen Urheber des Massenelends auf die jüdischen "Sündenböcke" verweisen, um die breite Masse zu verdummen und abzulenken. Derartige Krisen erlebte das emanzipierte deutsche Judentum v.a. nach dem "Gründerkrach" ab 1873, als nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und der nachfolgenden Hochkonjunktur die deutsche Wirtschaft zusammenbrach. Für die "große Depression" wurden in der deutschen Öffentlichkeit "Spekulierende" jüdische Kapitalisten verantwortlich gemacht, aber es waren ebenso einzelne jüdische Namen, die als Symbole für den unvorstellbaren wirtschaftlichen Aufstieg galten. Der wirtschaftliche Antisemitismus hatte ein ganzes Arsenal verleumderischer Vorwürfe gegen die Juden parat: unfaire Konkurrenten, volkswirtschaftliche Parasiten, kapitalistische Ausbeuter, ungehemmte Profitstreber, Zerstörer einheimischer und altdeutscher Produktionsweisen, "artfremde" Werbungspraktiker.

Der wirtschaftliche Antisemitismus wuchs sich nach der deutschen Reichsgründung zu einer feststehenden Größe aus: Herkommend aus dem Konkurrenzmotiv, aufgeladen mit Fremdenhass, stabilisiert durch die Ungunst wirtschaftlicher Umstände, entstand besonders in der mittelständischen Bevölkerung ab dem frühen 19. Jh. eine erhebliche Existenzangst, deren Urgrund wiederum den Juden zugeschrieben wurde. Sie galten als internationale Finanzverschwörer, die Inflation, Wirtschaftskrisen und Kriege manipulierten, um sich zu Börsenherren aufzuschwingen, mit dem Ziel, die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 war den Juden in Deutschland zwar die volle gesetzliche Gleichberechtigung gewährt worden, doch zugleich markieren die nachfolgenden Krisenjahre den Beginn des modernen Antisemitismus. Nicht mehr religiös, sondern rassisch definiert, sahen sich die Juden nunmehr Vorurteilen ausgesetzt, denen sie nichts entgegenzusetzen vermochten. Innerhalb eines Menschenalters wurde Auschwitz möglich. Antisemitismus als konzertierte Aktion mit dem Ziel, antijüdische Denkweise in politische Aktion umzumünzen, erlangte hauptsächlich in Deutschland Bedeutung. Hauptingredenzien des neuen giftigen Gebräus: als Antikapitalismus verkleideter Antisemitismus mit einem Schuss deutschem Sozialismus. Protagonisten des deutschen Antisemitismus waren u.a. Stöcker, Treitschke, Eugen Dühring, die vorwegnahmen, was die nationalsozialistischen Vernichtungsantisemiten Jahre später in die Tat umsetzten.

Der moderne Antisemitismus formierte sich im politisch-gesellschaftlichen Bereich und fand als integraler Bestandteil in den 1880er Jahren Eingang in Parteiprogramme. Hier manifestierte sich eine fortschritts- und demokratiefeindliche Ideologie, die bewusstseinsstiftend auf die nachfolgenden Jahrzehnte wirkte. Als neues, alles überlagerndes Moment antisemitischer Theorien bildete sich der Begriff der "Rasse" heraus.

In der Zeitspanne von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik war die Geschichte der Juden in Deutschland einerseits durch eine fortschreitende Assimilation, andererseits jedoch durch wachsende Widerstände gegen diesen Integrationsprozess gekennzeichnet. Die wirtschaftliche Krise, die sich nach der deutschen Reichsgründung 1871 im "Gründerkrach" von 1873 niederschlug, war der Ausgangspunkt einer organisierten antijüdischen Bewegung. Judenhass war nichts Neues in Deutschland. Aber im Unterschied zu früheren Zeiten war der Hass jetzt nicht gegen die Anhänger des jüdischen Glaubens gerichtet, sondern gegen die Angehörigen der "jüdischen Rasse". Nach dieser Definition galten als Juden auch diejenigen, die sich selbst nicht mehr zum jüdischen Glauben bekannten, durch Taufe aus dem Judentum ausgetreten oder Nachkommen von Juden waren, die eine Generation vorher das Judentum verlassen hatten.

Die moderne Judenfeindschaft in Deutschland bedurfte einer nomenklatorischen Sprachregelung, und diese erhielt sie durch das von Wilhelm Marr 1879 geprägte Wort "Antisemitismus" (18). Dies war der Begriff, mit dem sämtliche antijüdischen Motive und Argumente der vorangegangenen Jahrzehnte gebündelt, etikettiert und zudem alle Vorurteile "verwissenschaftlicht" werden konnten. Seinen kirchlichen und universitären Segen erhielt der moderne Antisemitismus durch den Hofprediger Adolf Stöcker und den Historiker Heinrich v. Treitschke. Kirche und Katheder waren eine unheilige Allianz eingegangen und gaben die Parole aus: "Die Juden sind unser Unglück!" (19)

Mit der Gründung der "Christlich-sozialen (Arbeiter-)Partei" suchte Stöcker eine parteipolitische Alternative zur weitgehend religionskritischen und kirchenfeindlichen Arbeiterbewegung zu schaffen. Schon zu Beginn seiner politischen Tätigkeit hatte es von ihm sporadisch judenfeindliche Äußerungen gegeben, doch zum Protagonisten des Antisemitismus avancierte er erst Ende der 1870er Jahre. Im September 1879 hielt er mit dem Vortrag "Unsere Forderungen an das moderne Judentum" seine erste programmatische judenfeindliche Rede. Durch das große Echo wurde er mit diesem Thema zum Erfolgsredner, zum Demagogen und Agitator, der große Säle füllte und die Massen mitzureißen verstand.

Der Antisemitismus als Weltbild bot den zu kurz gekommenen Kleinbürgern - und nicht nur diesen - eine praktikable Ideologie an, sämtliche politischen, sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten auf die Juden abzulenken: der Jude als Objekt rhetorischer und realer Aggressionen und Brutalitäten. Die jüdische Minderheit wurde zum gesellschaftlichen "Abladeplatz", auf dem Ressentiments und Minderwertigkeitsgefühle kompensiert werden konnten, ohne das das soziale Gefüge des Volkes dadurch besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde. Im Dunkel wirrer Mythen wurde ein neues Fundament gelegt, auf dessen feste weltanschauliche Pfeiler sich später der rassistische nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus stützen konnte. "Was der Jude glaubt ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!" (20) war der stereotyp vorgetragene Slogan deutscher Gossenantisemiten. Zwar versuchten sich die Salonantisemiten und intellektuellen Drahtzieher von dem national(sozial)istischen Radauantiemitismus zu distanzieren, der für ihr ästhetisches Gefühl zu blutig war, doch wurden sie die Geister, die sie gerufen hatten, nicht mehr los. Der moderne Antisemitismus zog sich durch alle gesellschaftlichen Schichten, er war die nationale Klammer - bewusstseinsstiftend und konstitutiv für die politische Kultur in Deutschland und Österreich.

Unmittelbar nach der Reichsgründung, in den wirtschaftlichen Rückschlägen der Gründerjahre, artikulierten sich antijüdische Gruppen und Parteien immer deutlicher. Die Zeitschrift, die Judenfeindlichkeit gesellschaftsfähig machte, war die "Gartenlaube". Diese illustrierte Familienzeitschrift mit einer Auflagenhöhe von etwa 400.000 Exemplaren im Jahre 1875 nahm sehr wesentlich Einfluss auf die Bildung des neuen Mittelstandes und verhalf mit einer Artikelserie aus der Feder Otto Glagaus dem Antisemitismus zu einer ungewöhnlichen Popularität bei breiten Bevölkerungsschichten. Die "Gartenlaube" war für "warme Herzen", doch ging es um die Juden, brach eine neue Eiszeit an: "Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, dass ein heimatloses Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerierte Rasse bloss durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet." (21)

Auch Wilhelm Busch, den Pessimismus und Humanismus verbindenden geistreichen, witzigen Dichter und Zeichner, der die Schwächen des Philistertums erkannte und schonungslos karikierte, verließ die Menschenliebe, wenn die Sprache auf die Juden kam:

"Und der Jud' mit krummer Ferse,
krummer Nas' und krummer Hos'
schlängelt sich zur hohen Börse
tiefverderbt und seelenlos." (22)

Bei Busch durchdringen sich wirtschaftliche und rassistische Ressentiments zu einem antisemitischen Gemisch, das den Juden immer negative Eigenschaften zuschreibt. "Schmulchen Schievelbeiner" ist für ihn der typische Vertreter des deutschen Juden, dessen charakteristischer Steckbrief sich so liest:

"Kurz die Hose, lang der Rock,
Krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau -
So ist Schmulchen Schievelbeiner.
(Schöner ist doch unsereiner!)"

Mit seinen satirischen Zeichnungen und Dichtungen erzielte Busch große Wirkung, seine komisch-grotesken Typen wurden Allgemeinbesitz. Das "Fremde", das "Unheimliche" des Juden, das Busch so wirkungsvoll darstellen konnte, fand in der Romanliteratur wie in der Karikatur zahlreiche Nachahmer. So konnte sich das Bild des krummbeinigen, höckernasigen, schwulstlippigen, hässlichen Juden, der mit unredlichen Mitteln nach dem Geld jagt und unschuldigen blonden Mädchen auflauert, stereotyp verfestigen. Buschs "gutmütige" Karikatur des "Schmulchen Schievelbeiner" war eine rassistische Verzerrung, wie sie dem populären Humoristen bei keiner seiner "deutschstämmigen" Typen in den Sinn gekommen wäre. Durch ihre weite Verbreitung beeinflusste sie das Judenbild und wurde selbst von vielen jüdischen Lesern als eine Karikatur anderer Juden amüsiert zur Kenntnis genommen.

In vulgärer, hämischer und manchmal pornographischer Weise wurden Juden seit 1896 im "Simplicissimus" überzeichnet dargestellt. Diese satirische Wochenschrift stand auf künstlerisch hohem Niveau, und auch die literarischen Beiträge konnten sich sehen lassen - Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse zählten zu den Autoren. Abstoßende Darstellungen sexueller und geschäftlicher Verdächtigungen von Juden versprachen dem Blatt eine höhere Auflage. In einer Karikatur droht der jüdische Unternehmer seinen jungen weiblichen Angestellten in jiddisch: "Man is nich sufrieden mit eiern Leistungen", um dann, nachdem der Zweck des Begehrens erfüllt ist, in bestem Deutsch eine Lösung anzubieten: "Ihr werdet wahrscheinlich am Ersten entlassen. Die endgültige Entscheidung könnt ihr euch heut' Abend bei mir zu Hause in meiner Wohnung abholen." Der Jude als Typus, ausgestattet mit einem fremden Jargon und einem ekelhaften Aussehen nutzt hier, so will der Text glauben machen, ein ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis aus, um mit seinen geilen Wünschen "arische" Mädchen zu schänden. Sexuelle Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen behandelte der "Simplicissimus" regelmäßig, manchmal satirisch kritisch, manchmal voyeuristisch genießend.

Der "hochgelehrte" Houston Stewart Chamberlain, Engländer von Geburt und als Schwiegersohn Richard Wagners in Bayreuth lebend, seit 1914 naturalisiert, sah in den Juden eine durch ein "blutschänderisches Verbrechen" gegen die Natur hervorgegangene "Bastardrasse" mit unreinem Blut: "(...) ein Bastardhund ist nicht selten sehr klug, jedoch niemals zuverlässig, sittlich ist er stets ein Lump". (23) Die wirklich große Rasse aber ist nach Chamberlain die germanische und ihr Hauptvertreter das Deutschtum, die eigentliche "Gegenrasse" die der semitischen Juden.

Paul Bötticher, der sich Paul de Lagarde nannte, hatte sich als Orientalist einen Ruf erworben und galt als ein christlicher Vorkämpfer für eine evangelische Nationalkirche. In seinen "Deutschen Schriften" kommen seine verdrängten atavistischen Hassgefühle in Form eines besonders bösartigen Antisemitismus zum Ausdruck: "Die Juden sind als Juden in jedem europäischen Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung." Viele Deutsche seien zu feige, das jüdische Ungeziefer zu zertreten. Er selbst empfahl im Jahre 1888 folgende "Endlösung": "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht 'erzogen', sie werden so rasch und gründlich wie möglich unschädlich gemacht." (24) Lagarde ist ein "Klassiker" des Antisemitismus. In seinem Denken verschmelzen alle Gegensätze und Widersprüche zu einer völkischen Einheitsidee - Einheit von Rasse und Religion, von Blut und Geist. Dabei sind Blut und Rasse nach dem Verständnis der völkischen Ideologie nicht so kompromisslos und starr in rein biologischen Kategorien zu verstehen - weshalb auch christlich-kirchliche Kreise sich haben darauf einlassen können.

All diese Zitate, die beliebig ergänzt werden könnten, sind Gedankengänge des deutschen Kulturbürgertums, in dem der rassisch motivierte Antisemitismus seit den 1880er Jahren ideologisch und emotional fest verankert war. Der moderne Antisemitismus konnte sich auch und gerade etablieren, weil er von "intellektuellen" Agitatoren organisiert wurde, deren Parolen bei den Gebildeten, Halbgebildeten und "dummen Kerls" ankamen - ganz gleich, ob diese dem Kaiserhaus, dem Adel, der Geistlichkeit, der Beamten-, Professoren- und Lehrerschaft, den Angestellten, dem Handwerkertum oder der Kaufmannschaft angehörten. Gegen den antisemitischen Bazillus zeigte sich allein die Arbeiterschaft weitgehend immun.

Die große Verbreitung und politische Wirksamkeit des Antisemitismus - im Jahre 1893 gab es z.B. 16 Abgeordnete antisemitischer Parteien im Reichstag - führten den Juden vor Augen, dass die Integration in die Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreiches nicht so problemlos verlaufen würde, wie es nach der in der Reichsverfassung verbrieften Rechtsgleichheit schien. Sowohl die Argumentation während der Emanzipationszeit, die Juden hätten ihre "Eigenart" aufzugeben und sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen, wie auch die Vorwürfe der Antisemiten, die den Juden generell "undeutsche" Eigenschaften und Fremdheit vorwarfen und damit grundsätzlich die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Anpassung negierten, hatten die jüdischen Staatsbürger veranlasst, ihre deutsche Seite stets sehr deutlich zu betonen. Trotzt der Erfahrungen des Antisemitismus hat die Mehrheit der deutschen Juden den Weg der Assimilation niemals in Frage gestellt. Nur ein kleiner Teil zog aus der Realität des Antisemitismus die Konsequenz, sich der um die Jahrhundertwende entwickelnden zionistischen Bewegung anzuschließen.

Wie keine andere nationalistische Organisation im Deutschland des Kaiserreichs wirkte der im Jahre 1891 gegründete "Alldeutsche Verband" an der Herausbildung und Verbreitung des Rassenantisemitismus mit. Als Sammelbecken der Antisemiten übernahm er die Führung der völkischen Bewegung. In dem großes Aufsehen erregenden (1912 pseudonym erschienenen) Buch seines Vorsitzenden Heinrich Class "Wenn ich Kaiser wär" sind Forderungen zur "Behandlung" der Juden enthalten, die zehn Jahre später im Programm der NSDAP wiederkehren sollten. In dieser Propagandaschrift entwickelte Class seine Pläne, die darauf abzielten, jede weitere Demokratisierung Deutschlands zu verhindern und bereits eingeleitete Entwicklungen rückgängig zu machen. Class forderte u.a. die Aufhebung der Judenemanzipation, Verhinderung jeder jüdischen Einwanderung, Ausweisung aller nichteingebürgerten Juden und ein Fremdenrecht für alle deutschen Juden. (25)

Das Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Randstellung beeinflusste die Haltung der deutschen Juden im 1. Weltkrieg. Mit dem grössten Teil der nichtjüdischen Bevölkerung ließ sich die Mehrheit der Juden von der allgemeinen Kriegsbegeisterung mitreißen. In den Synagogen wurde für den "Sieg der deutschen Waffen" gebetet und in den jüdischen Zeitungen erschienen Kriegsgedichte, die in ihrem patriotischen Überschwang die Stimmung jener Tage widerspiegelten. In allen öffentlichen Aufrufen kam jedoch noch ein weiteres Motiv zum Ausdruck: Die große Mehrheit der Juden hoffte, durch die Betonung ihrer patriotischen Gesinnung die letzten Hindernisse auf dem Wege der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft zu überwinden. Auch die jüdischen Freiwilligen wollten als "stammesstolze Juden" zu den "besten Söhnen des Vaterlandes" gehören. (26)

Selbst im Lager der offenen Antisemiten schien es zunächst, als ob man denn jüdisch-nichtjüdischen "Burgfrieden" akzeptieren wollte. Jedenfalls schrieb Houston St. Chamberlain 1915: "Deutschland zählt (...) zehnmal soviele Juden (als England), und wo sind sie jetzt! Wie weggeputzt von der gewaltigen Erhebung: als 'Juden' nicht mehr auffindbar, denn sie tun ihre Pflicht als Deutsche vor dem Feinde oder daheim." (27)

Doch die Verbrüderung war trügerisch. War der Antisemitismus in Deutschland bei Kriegsbeginn "staatlicherseits" obsolet geworden, so wurde er nach der Besetzung Russisch-Polens durch deutsche Truppen 1915 sehr bald vehement wiederbelebt. Als billige Arbeitskräfte teils freiwillig angeworben, teils gewaltsam ins Deutsche Reich deportiert, wurden die ostjüdischen Arbeiter bald Anlass zu wilder Agitation. Und weil die Regierung Bethmann-Hollweg nach Ansicht der Völkischen nicht genug gegen den "Zustrom" der Ostjuden tat, wurde sie als "verjudet" beschimpft. Die extremen Nationalisten und Antisemiten gaben jede Form der Zurückhaltung, auch dem Kaiser gegenüber, auf.

"Überall grinst das Judengesicht, nur im Schützengraben nicht!" war ein für diese Zeit typischer, die Juden verunglimpfender und diffamierender Spottvers, der nicht nur an deutschen Stammtischen die Runde machte. So ist es nicht verwunderlich, dass es im Herbst 1916 auf antisemitischen Druck zu einer sog. "Judenzählung" kam, mit deren Hilfe das Kriegsministerium die aktive Beteiligung der jüdischen Soldaten am Weltkrieg nachprüfen ließ. Dass dieser statistischen Erhebung antisemitische Motive zugrunde lagen, geht nicht nur aus der Tatsache hervor, dass ausschließlich jüdische Soldaten erfasst wurden, sondern auch daraus, dass ihr Ergebnis nicht veröffentlicht wurde, so dass antisemitische Agitatoren weiterhin das Märchen von der "jüdischen Drückebergerei" verbreiten konnten. Bekannt gemacht, hätten die Daten das Gegenteil des von den Initiatoren der Erhebung Beabsichtigten belegt. Die "Judenzählung", mit der der antisemitischen Agitation erstmals ein Durchbruch größten Ausmaßes glückte, hatte für die Betroffenen nur die Wirkung, stigmatisiert und degradiert worden zu sein.

Das Militär war vollends zur Kaderschmiede der Judenfeindschaft geworden. Spott und Witze über die angebliche Untauglichkeit der Juden als Soldaten hatten geradezu sprichwörtlichen Charakter und machten in Offizierskasinos und in breiten Gesellschaftskreisen des wilhelminischen Deutschlands die Runde. Dabei hatten die Juden in Deutschland seit den Befreiungskriegen ihre Pflicht als Soldaten tapfer erfüllt und sich damit gewissermaßen ihre Gleichberechtigung als loyale Staatsbürger "erkämpft". Doch das Militär blieb der gesellschaftliche Bereich, in dem die Juden auch nach der rechtlichen Emanzipation keine Aufstiegsmöglichkeiten besaßen. Bei aller weitverbreiteten, aus der jüdischen Tradition abzuleitenden pazifistischen Grundhaltung dokumentierten Juden ihren Patriotismus auch dadurch, dass sie in fünf Kriegen in aller Regel freiwillig zu den Fahnen eilten.

In seiner autobiographischen Schrift "Mein Weg als Deutscher und Jude" hat Jakob Wassermann die Atmosphäre im Vorkriegsheer in eindrucksvoll-erschreckender Weise festgehalten. Schon die distanziert-verächtliche Haltung der Vorgesetzten sei schwer erträglich gewesen: "Obwohl ich meine Ehre und ganze Kraft darein setzte, als Soldat meine Pflicht zu tun und das geforderte Maß der Leistung zu erfüllen, (...) gelang es mir nicht, die Anerkennung meiner Vorgesetzten zu erringen, und ich merkte bald, dass es mir auch bei exemplarischer Führung nicht gelungen wäre, dass es nicht gelingen konnte, weil die Absicht dawider war." Und weiter: "Von gesellschaftlicher Anerkennung konnte nicht die Rede sein, (...) Beförderung über eine zugestandene Grenze hinaus kam nicht in Frage, alles, weil die bürgerliche Legitimation unter der Rubrik Glaubensbekenntnis die Bezeichnung Jude trug." Bei den niederen militärischen Rängen, den Mannschaften, spürte Wassermann eine besondere Judenfeindschaft, die er als noch "quälender" empfand als das Verhalten der Vorgesetzten: "Auffallender, weitaus quälender war mir (...) das Verhalten der Mannschaften. Zum ersten Mal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen, dumpfen, starren, fast sprachlosen Hass, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Hass hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, (...) der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit (...) wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst, verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung." Und den Antisemitismus deutscher Prägung sieht Wassermann so: "Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Hass." (28)

Die Friedensresolution des Reichstags im Juli 1917 und die Ankündigung der Einführung des gleichen und direkten Wahlrechts in Preussen im selben Monat waren Anlass zu einer immer vulgärer werdenden antisemitischen Phraseologie in der Öffentlichkeit. Demokratische Ideen waren in den Augen der Führer der alldeutschen Verbandsleitung "Gift", und dies war "jüdischer Herkunft". Sie konstatierten die unumstössliche "Schuld des Judentums" an sämtlichen politischen Veränderungen in Deutschland und an allen damaligen Erscheinungen des wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Lebens, die von ihnen aufs schärfste missbilligt wurden.

Bedingt durch Opfer und Entbehrungen, die der Weltkrieg den Menschen auferlegte, nahm der Antisemitismus an Bedeutung zu. Teile der wilhelminischen Machtelite passten sich der veränderten Stimmungslage an und schufen so auf ihre Weise die Grundlage für den administrativen Antisemitismus, der sich durch die nachfolgenden Jahre der Weimarer Republik zog. Noch während des Weltkriegs bildete sich eine reaktionär-demagogisch-nationalistische Bewegung mit antisemitischer Stossrichtung heraus, die in der deutschen Politik einen ebenso gefährlichen wie spürbaren Einfluss ausübte.

Gegen den wachsenden Antisemitismus setzten die Juden sich zur Wehr. In einem Aufruf erklärte der "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens": "Keine Macht der Erde wird das Band zerreißen, das sich um die Volksgenossen schlingt. Mit ihnen kämpfen wir, wenn Deutschland weiterkämpfen muss (...) Wir wollen einig sein, vergessen, was Zwietracht geschaffen hat, zurückstellen, was Zwietracht schaffen kann (...)." (29)

Doch dieser patriotische Appell blieb ungehört. Im Gegenteil: Ohne alle Umschweife forderte Class die alldeutschen Aktivisten im Oktober 1918 auf, die krisenhaften Zeitumstände zu "Fanfaren gegen das Judentum" und die Juden "als Blitzableiter für alles Unrecht" zu benutzen. (30) Unumwunden versicherte Class, dass er sich von keinem Mittel zurückschrecken ließe, und forderte seine Zuhörer - sich an ein Zitat Heinrich von Kleists (31) anlehnend -, zur blutigen Rache an den Juden auf: "Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht!" (32)

Eine Hochburg antisemitischer Feindseligkeit blieb weiterhin das Militär, einschließlich der Freikorps und Freiwilligenverbände. Der Kapp-Putsch in Berlin 1920 machte dies hinreichend augenfällig: Hakenkreuze an Helmen und Fahrzeugen und Handzettel des "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes" verteilend, zog die Brigade Ehrhardt in die deutsche Hauptstadt ein. Welches Ausmaß an Verhetzung in diesen Kreisen herrschen konnte, lässt die Eingabe eines bayerischen Freiwilligen erkennen, dessen radikale Haltung vielleicht nicht exemplarisch war, für das Militär wohl aber in ähnlicher Weise die Spitze eines Eisbergs markierte wie für die radikalen völkischen Gruppen und die gesamte, zumindest rechtsgerichtete Bevölkerung Deutschlands. Die dem bayerischen Ministerpräsidenten 1920 eingereichte und sich ausdrücklich frei von "humanitären Erwägungen" erklärende Denkschrift zur "radikale(n) aber gerechte(n) Lösung der Judenfrage antizipierte die Ergebnisse der Berliner "Wannsee-Konferenz" 21 Jahre später: Innerhalb 24, längstens 48 Stunden, hätten sich 1. "der grösste Teil der Juden" mit den "notwendigsten Bekleidungsstücken" versehen an "bestimmten Sammelstellen" einzufinden. Von diesen Plätzen habe dann der "Abtransport in die Konzentrationslager" zu erfolgen. 2. Juden, die sich "durch Flucht oder durch Bestechung" dieser Internierung zu entziehen suchten, sollten zum Tode verurteilt werden. Ihr Vermögen sei einzuziehen. 3. Deutsche, die den Juden zur Flucht verhelfen würden, sollten "das gleiche Schicksal zu gewärtigen" haben. 4. Eröffne die Entente die Feindseligkeiten gegen Deutschland, so müsse "unverzüglich mit Repressalien an den Juden" geantwortet werden. Bei Verhängung der Blockade "müssen die Juden dem Hungertode ausgeliefert" werden. Erfolge der Einmarsch der Feinde, so müsse "die Niedermetzelung der Juden" stattfinden, bis der Vormarsch eingestellt sei. 5. Die Internierung solle so lange aufrechterhalten werden, wie Deutschland "von inneren und äusseren Feinden bedroht" bleibe. Für den Fall, dass Juden noch überlebten, sollte nach der Beseitigung der "inneren und äusseren Gefahren" deren "restlose Abschiebung" nach Palästina erfolgen, selbstverständlich unter Zurücklassung ihres Besitzes und Vermögens. Eine Rückkehr nach Deutschland habe als "todeswürdiges Verbrechen" zu gelten. (33)

Von 1919 an wurden immer neue völkisch-antisemitische Agitationsverbände gegründet, die in dem über das ganze Reich verbreiteten "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund" mit über 200.000 Mitgliedern ihre grösste organisatorische Plattform besaßen. Mit beträchtlichen finanziellen Unterstützungen durch die Industrie und alle möglichen Wirtschaftsunternehmen konnte diese Organisation mit ihrem antisemitischen Gift in Form von Handzetteln, Flugblättern und Pamphleten aller Art Deutschland millionenfach überschwemmen. In rascher Folge erschienen Pamphlete wie "Judas Schuldbuch" (34), Arthur Dinters Roman "Die Sünde wider das Blut", der - vorsichtig geschätzt - anderthalb Millionen Leser fand, schließlich "Die Protokolle der Weisen von Zion", die den Mythos einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung unter die Massen brachten. In zahlreiche Sprachen übersetzt, feiert diese perfide Fälschung bis in die heutige Zeit fröhliche Urständ.

Mit ihren planmäßigen Kampagnen gelang es den rechtsextremen Organisationen, den ersten demokratischen deutschen Staat als "Judenrepublik" verächtlich zu machen, permanent zu attackiere und schließlich aus den Angeln zu heben. Zur Zielscheibe antisemitischen Terrors wurde auch Walther Rathenau, Deutschlands erster nicht getaufter jüdischer (Außen-)Minister. Aber gerade an der Person Rathenaus zeigt sich die widersprüchliche Lage der Juden in der Weimarer Republik: Zwar genossen sie seit der Novemberrevolution 1918 formal die volle - soziale Aspekte einschließende - Gleichberechtigung und konnten auch Staatsämter bekleiden, andererseits aber war ihre Bedrohung durch den militanten Antisemitismus in hohem Masse gewachsen. Rathenau wurde 1923 von Rechtsradikalen ermordet, die ihn als "Erfüllungspolitiker" denunziert hatten. Bei dem tödlichen Attentat auf ihn spielte aber v.a. die Tatsache eine Rolle, dass er Jude war. "Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!" - so lautete die Parole der rechtsradikalen Stosstrupps.

Die Geschichte der deutschen Juden seit der Aufklärung ist die Geschichte des allmählichen Hineinwachsens in eine nichtjüdische - christliche - Gesellschaft, die selbst einem langdauernden Wandlungs- und Modernisierungsprozess unterworfen war. Die Forderung aus der Emanzipationszeit, die Juden sollten für die Aufnahme in die deutsche Gesellschaft ihre jüdische Identität aufgeben, war am Ende der Weimarer Zeit weitgehend erfüllt worden. Die Mehrheit der jüdischen Staatsbürger betrachtete ihre Religion als Privatsache und lebte als deutsche Staatsbürger (jüdischen Glaubens) in Deutschland, das für sie Heimat war. Die Fremdheit zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen war weitgehend geschwunden. Juden und Nichtjuden waren ununterscheidbar geworden - und gerade diese Tatsache erfüllte die Antisemiten mit wachsendem Hass. Die Nationalsozialisten, die die Saat der völkischen Alldeutschen ernteten, stellten dann durch Sondergesetze für die deutschen Juden und ihre allmähliche gesellschaftliche Ausgrenzung erneut deren Fremdheit her und kennzeichneten die jüdischen Bürger mit dem gelben Stern.

Wie der Antisemitismus in der Ideologie von nationalistischen und antidemokratischen Organisationen und Parteien seit Beginn des 20. Jh. seinen festen Platz hatte, so nahm er in der Programmatik der Nationalsozialisten von Anfang an eine zentrale Stellung ein. Für sie war der Kampf gegen die Juden zugleich Ziel und Mittel ihrer Politik. Indem die Propaganda der NSDAP sowohl das Finanzkapital als auch den Kommunismus für "jüdisch" erklärte, schuf sie sich eine Möglichkeit, gesellschaftliche und innenpolitische Probleme in den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind, "die Juden", umzuleiten.

Dann kam der 30. Januar 1933. Der organisierte Fackelzug in die finstere Nacht, der Beginn von Hitlers Macht. Das Ende der Emanzipation. Ein gewichtiger Vertreter des emanzipierten deutschen Judentums, Jakob Wassermann, dessen millionenfach gedruckte Werke in vielen Bücherschränken standen und der sich als Deutscher und Jude zugleich verstand, hatte - ungeachtet dieser für ihn unlöslichen Verbindung - Jahre zuvor in tiefer Resignation festgestellt: "Es ist vergeblich (...) das Volk der Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. Es ist vergeblich, die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen worden ist, (...) sie schlagen auch die rechte. Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. (...) Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: der Feigling, er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn dazu. Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu bieten. Sie sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit? (...) Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude." (35)

Während der Zeit des Nationalsozialismus steigerte sich in Deutschland der Rassenantisemitismus, der alle antisemitischen Strömungen vereinigte, zu einem staatstragenden Vernichtungsantisemitismus. Zwischen 1941 ud 1945 wurden ca. 6 Millionen europäische Juden in Vernichtungslagern fabrikmässig ermordet. Dem millionenfachen Judenmord ging die ideologisch-geistige Agitation einer Reihe von Theoretikern seit dem frühen 19. Jahrhundert voraus. Die politische Romantik, deren geistiger Ahnherr der Philosoph Johann Gottlieb Fichte war, die deutschtümelnde Publizistik eines Ernst Moritz Arndt oder Friedrich Ludwig Jahn führten zur sozialdarwinistischen Vorstellung, dass das stärkere Volkstum das schwächere besiege. Der Siegeszug der Naturwissenschaften, der eng mit dem Namen Darwin verknüpft ist, fällt zusammen mit der großen Industrialisierung seit den 1860er Jahren. Die Entwicklung wurde als Ergebnis westlicher Kulturleistung angesehen, die dazu berechtige, andere Völker zu beherrschen.

Diese Volkstumsdoktrinen, die prinzipiell von einer Hierarchie der Menschenrassen und von einer konstanten Ungleichwertigkeit ausgingen und vorgaben, die Deutschen seien als Herrenvolk von der Vorsehung dazu bestimmt, über andere zu herrschen, waren tradiertes, allgemeines, pädagogisch abgestütztes Bildungsgut. Die Volkstumsideologen schrieben den Deutschen alle guten und den Juden alle schlechten Eigenschaften zu, wobei der jüdische Volkscharakter angeboren und verderbt sei und den Krankheitskeim der Zersetzung in sich trage. Aus dieser Überhöhung des nationalen Gefühls speiste sich der aggressive Charakter des manifesten Antisemitismus und wurde sozusagen musterbildend für die spätere völkische und nationalsozialistische Propaganda. (36)

Innerhalb der Völkergemeinschaft hielten sich die Volkstumsideologen für biologisch überlegen gegenüber weniger "zivilisierten" Völkern anderer Hautfarbe und Rasse. Oswald Spenglers Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes", das nach dem 1. Weltkrieg mit großem Erfolg herauskam, unterscheidet zwischen "Kultur" und "Zivilisation". Bei ihm gelten nur die Deutschen als "kultiviert"; die westlichen Völker bloß als "zivilisiert". Anders der Osten, der weder als "kultiviert" noch als "zivilisiert" angesehen wurde. Er wurde als rückständig, minderwertig und unkultiviert betrachtet. Rassistische Dünkel Russen oder Polen gegenüber waren traditionell keine seltene Erscheinung. In den Juden hingegen, zumal aus Osteuropa stammenden, bündelten sich sämtliche Vorurteile in einem die menschliche Existenz bedrohenden Rassenantisemitismus.

Anmerkungen:

1 Clemens Brentano, Der Philister vor, in und nach der Geschichte. scherzhafte Abhandlung, in: ders., Werke, 2 Bde, München 1973, S.959-1016
2 Heinrich Heine, Almansor. Eine Tragödie, in: ders., Sämtliche Schriften Bd. 1, hg. v. Klaus Briegleb, FfM/Berlin/Wien 1981, S.284f
3 Walter Grab, Der preussisch-deutsche Weg der Judenemanzipation 1789-1938, München 1991, S.15
4 Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum (1806), zit. nach: Ludger Graf v. Westphalen, Geschichte des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jh. (= Quellen- und Arbeitshefte zur Geschichte und Politik), Stuttgart 1971, S.15
5 Ernst Moritz Arndt, Ein Blick aus der Zeit auf die Zeit (1814), zit. nach: Ebda., S.16
6 Heinrich Heine, Bekenntnis, zit. nach: Julius Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, 5. Teil. Neueste Zeit: 1789 bis zur Gegenwart, FfM 1930, S.98f
7 Christian Ludwig Palzow, über das Bürgerrecht der Juden, übersetzt von einem Juden, Berlin 1803, S.98f
8 Zum Wort und zur Bedeutung des "Hepp-Hepp"-Rufes vgl. die überzeugenden Erklärungen bei: Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Bd.2, Anmerkungen, Exkurse, Register, Stuttgart 1980, S.160ff
9 Eva Reichmann, Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, FfM o.J. (1956)
10 Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, Tübingen 1968, S.70
11 Neue Preussische Zeitung, Nr. 120/1850
12 Ebda.
13 Bruno Bauer, in: Hermann Wagener, Staats- und Gesellschaftslexikon, 23 Bde, Berlin 1859-1867, hier: Bd.7, S.11f
14 Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, 2.Teil. Neudruck: Glashütten 1972, S.59
15 Von den führenden Sozialdemokraten hat Wilhelm Hasenclever - unter dem Pseudonym "Revel" - eine sozialdemokratische Antwort auf die Stöcker-Bewegung verfasst, wobei er selbst einem latenten Antisemitismus das Wort redete. Siehe dazu: Wilhelm Revel, Der Wahrheit die Ehre. Ein Beitrag zur Judenfrage in Deutschland, in: Wilhelm Hasenclever. Reden und Schriften, hg. u. eingel. v. Ludger Heid / Klaus-Dieter Vinschen / Elisabeth Heid, Bonn 1989, S.181-206
16 Zur sozialdemokratischen Gegenbewegung vgl. Bernstein, Berliner Arbeiter-Bewegung, 2. Teil, S. 58-80, u. Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, FfM 1959, S.180ff
17 Walter Grab, Der preussisch-deutsche Weg der Judenemanzipation, a.a.O., S.29
18 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judentums über das Germanentum, Bern 1879
19 Heinrich v. Treitschke, Unsere Aussichten, in: Preussische Jahrbücher, Nov. 1879, zit. nach: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. Walter Böhlich, FfM 1965, S.11
20 Zit. nach: E.V.v. Rudolf, Georg Ritter v. Schönerer, der Vater des politischen Antisemitismus, o.O. 1936, S.61
21 Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel, in: Die Gartenlaube 1876, zit. nach: Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871-1933, hg. v. Harry Pross, FfM 1983, S.259
22 Wilhelm Busch, Die fromme Helene (Lenchen kommt aufs Land). Zit. nach: ders., Und die Moral von der Geschicht, hg. v. Rolf Hochhuth, Gütersloh o.J. (1959), S.559
23 Houston St. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. Volksausgabe, München 1909, S.312
24 Paul de Lagarde, Juden und Indogermanen, Göttingen 1888, S.339
25 Daniel Frymann (i.e. Heinrich Class), Wenn ich Kaiser wär'. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912
26 Jüdische Rundschau Nr.32, 7.8.1914
27 Houston Steward Chamberlain, Kriegsaufsätze, München 1915, S.46
28 Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921, S.38f
29 Zit. nach: Rhein- und Ruhrzeitung Nr.550, Duisburg, 27.10.1918
30 Protokoll der Sitzung der Hauptleitung und des geschäftsführenden Ausschusses am 19. und 20. Oktober 1918 in Berlin, zit. nach: Werner Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945, Hamburg 1988, S.120
31 Heinrich v. Kleist, Germania an ihre Kinder. Dort heisst es: "Schlagt ihn tot! Das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht!"
32 zit. nach: W. Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft, a.a.O., S.121
33 Hans Knodn am 11. Mai 1920 an Ministerpräsident v. Kahr, Bayr. Hauptstaats-Archiv, Allg. StA, M Inn 66282, zt. nach: W. Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft, a.a.O., S.144
34 Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung von Wilhelm Meister (i.e. Paul Bang), München 1919. - Wie viele Antisemiten stand Bang nicht mit seinem Namen für diese Propagandabroschüre ein. Sie erschien im März 1919 in 1. Auflage und erreichte bis August 1920 insgesamt 6 Auflagen mit über 30.000 Exemplaren.
35 J. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, a.a.O., S.122f
36 Zum Axiom konstanter, unveränderbarer und kollektiver nationaler Mentalitäten und zur Rassendoktrin der romantischen Volkstumsideologen vgl. Walter Grab, Aspekte der Judenemanzipation in Tagesliteratur und Publizistik 1848-1869, in: Ders., Der deutsche Weg der Judenemanzipation, a.a.O., S.108-133, bes. S.123

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