Antisemitismus - eine Einführung
Von Werner Bergmann
Als
die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen,
glaubten viele, dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den
Boden entziehen und sich, wie Heinz Galinski, bis 1992 Vorsitzender des
Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, "eine Welt auftun
(würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen
werde".
Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den
europäischen Ländern und in den USA im Vergleich zur ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich abgenommen hat
und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch
sehen sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt.
In Deutschland haben antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im
Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich zugenommen.
Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische
Stereotype so hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule
und der Öffentlichkeit entgegengetreten ist und in vielen europäischen
Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle spielt dabei, dass
negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass
das Thema "Juden" von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel
empfunden und häufig gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und
Schamgefühle begreiflicherweise einem normalen, gelassenen Verhältnis
zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich antijüdische
Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der
Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und
Österreich auch einen spezifischen "Antisemitismus wegen Auschwitz", der
sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die
Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern. Dieser
"sekundäre Antisemitismus" greift auf alte antijüdische Vorurteile und
Stereotypen zurück und aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen
Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, auf die
Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein negatives Bild des
Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen
Überlieferung geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe
von Stereotypen, denn auch wenn man sie nicht teilt, kennt man die negativen
Urteile über die Juden.
Die Judenfeindschaft besitzt mehrere historische Schichten, wobei die
älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht "vergessen", sondern
nur von neuen überlagert wurden.
Christlicher Antijudaismus
Die erste
Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen,
die als abgespaltene jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in
Konkurrenz zum Judentum standen, das in seiner Mehrheit die christliche
Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz entstand
eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die
Juden als "Volk des alten Bundes" aus dem neuen Gottesbund ausschloss. Im
Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe stand die Überbetonung des Anteils der
Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien (Matthäus 27,25: "Sein
Blut komme über uns und unsere Kinder"; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25), die
im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: "Welche auch den Herrn Jesum getötet
haben, und ihre eigenen Propheten, und haben uns verfolgt" (1 Thessalonicher
2,15). Weiter findet sich eine negative Zeichnung der jüdischen Pharisäer
und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und Verfechter einer
nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die
Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie
hätten "den Teufel zum Vater" (8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale
Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen: Verwerfung der Juden durch
Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative
Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen
Sprachgebrauch hinein: Wir nennen einen Heuchler immer noch "Pharisäer".
Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden wurden in der
Geschichte häufig des Verrats an ihren "Gastvölkern" bezichtigt.
Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen
Reformbewegungen, insbesondere die Missionsbestrebungen der Bettelorden und
die Wendung gegen abweichende christliche "Irrlehren" (so genannte Ketzer)
und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft
über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen
Juden zum festen Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden.
Im 13. Jahrhundert gewannen mit der Verkündigung der
Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und
Wein real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie
und das Blut zentrale religiöse Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden
würden als "Feinde Christi" die Hostie durchbohren, um damit den Leib Jesu
erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu
antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden
würden das Blut von Christen zu rituellen Zwecken benötigen und deshalb
Christenknaben rauben oder kaufen, um sie dann zu ermorden. Obwohl diese
Vorstellung im Widerspruch zur ausgeprägten Abneigung gegen den Genuss von
Blut im Judentum stand (Das Schächtungsgebot sieht beispielsweise das
völlige Ausbluten des geschlachteten Tieres vor. Blutig wird das Fleisch als
unrein angesehen.) und auch die Kirchenführer ihr widersprachen, verbreitete
sich diese so genannte Ritualmordlegende in ganz Europa und hat bis ins
frühe 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anlass zu antijüdischen
Übergriffen gegeben. Die Vorstellung, dass Andersgläubige Kinder misshandeln
und zu rituellen Zwecken opfern, ist historisch und geographisch weit
verbreitet. Diese Bedrohungsängste, zu denen – etwa angesichts der sich
rasch ausbreitenden Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – auch die Angst
vor Brunnenvergiftungen gehört, machten die Juden zu einer dämonisierten
Minderheit, die sich angeblich gegen die Christen verschworen hatte.
Soziale Stereotype
Die
geschilderte Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert führte zu einer deutlichen
Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Juden. Kirchlicherseits
wurden sie durch die Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 zu einer
sozial ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung, Ausschluss von
öffentlichen Ämtern). Ihnen wurde die Zulassung zu den sich als christliche
Bruderschaften verstehenden Zünften versperrt. Dies zwang die Juden zu einer
ökonomischen Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, die den Christen aus
religiösen Gründen verboten war. Als Finanziers der Feudalherren und der
Städte und als Großkaufleute galten sie als "reiche Wucherer", was sie zu
einer lohnenden Beute in politischen Konflikten und zum Ziel von Übergriffen
machte. Vor allem ihre Schuldner hatten ein Interesse, mit den Juden auch
zugleich ihre Schulden loszuwerden.
Kleidungsvorschriften (Quellentext):
Das Ziel
der Nationalsozialisten war die Stigmatisierung und die vollkommene
Isolierung der Juden von der übrigen Bevölkerung. Als
Stigmatisierungszeichen verwendeten Nationalsozialisten den sechszackigen
Davidstern bereits bei den ersten antisemitischen Ausschreitungen, so beim
Boykotttag vom 1. April 1933, bei dem Geschäfte und Arztpraxen von Juden mit
einem großen Davidstern beschmiert wurden. Viele Menschen erblickten damals
in den Schmierereien einen Rückfall in mittelalterliche Methoden der
Kennzeichnung von Juden. [...]
Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Kennzeichnung von Juden im
Mittelalter in einem vollkommen anderen Kontext stand. Kleidungsvorschriften
existierten im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit für alle Stände
der Bevölkerung und waren ein wesentlicher Bestandteil der
Ständegesellschaft. Neben den Juden mussten auch andere Außenseiter der
Gesellschaft, beispielsweise Seuchenkranke, ein besonderes Erkennungszeichen
tragen. Dennoch sind auch hier Absonderung und Stigmatisierung die
eigentlichen Ziele dieser Verordnungen. [...]
Hierbei ordnete man erstmals die Farbe Gelb den Juden zu. Gelb galt dann
auch während des gesamten christlichen Mittelalters als Farbe zur
Kennzeichnung von Außenseitern.
Für die Kennzeichnung der Juden im christlichen Herrschaftsbereich ist das
4. Laterankonzil des Jahres 1215 das entscheidende Datum. Auch hier stellt
die Angst vor einer möglichen Vermischung von Juden und Sarazenen einerseits
und von Christen andererseits den entscheidenden Beweggrund dar. In den
folgenden Jahrhunderten erließen Provinzialsynoden regional unterschiedliche
Kleiderordnungen. [...] Die dabei am häufigsten verwendeten Kennzeichnungen
waren der spitze Hut (Judenhut), der auf verschiedenen Provinzialsynoden und
-erlassen des 13. Jahrhunderts verordnet wurde, und der meist gelbe
Ring, den Nicolaus von Kues auf seiner Legationsreise durch Deutschland
1441/42 als Konkretisierung der allgemeinen Beschlüsse des Konzils von Basel
festlegte. [...]
In der frühen Neuzeit empfanden die Juden die Kennzeichnungen zunehmend als
Stigmatisierung. Berichte verweisen darauf, dass die Regelungen immer
häufiger missachtet wurden. Bereits im 16. Jahrhundert konnten sich einzelne
Juden von der Kennzeichnungspflicht befreien und ab dem 18. Jahrhundert gab
es auch die Möglichkeit, sich vom Tragen der Kennzeichen freizukaufen. [...]
aus: Wolfgang Osiander, Gelber
Fleck, gelber Ring, gelber Stern. Kleidungsvorschriften und Kennzeichen für
Juden vom Mittelalter bis zum Nationalsozialismus, in: Geschichte lernen,
Heft 80, 2001, S. 26 f.
Mit der Lockerung des
kirchlichen Wucherverbots (das heißt für die Bereitstellung von Kapital
Zinsen zu erheben) wurden Juden durch ihre christlichen Konkurrenten auf die
Geldleihe für die ärmeren Schichten und die Hehlerei abgedrängt und damit
selbst zu verarmten und verfemten Außenseitern. Auch wenn keineswegs alle
Juden zur reichen Schicht der Finanziers gehörten und die Juden später
überwiegend eine verarmte Gruppe darstellten, blieb das Bild des "reichen
Juden" als Stereotyp haften. Die berufliche Spezialisierung hielt sich
teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein, so dass sich das Vorurteil
festigte, das die Juden mit Geld(-gier), Kapitalismus und Ausbeutung
verband. Man sprach Ende des 19. Jahrhunderts von der "Goldenen
Internationale" und verknüpfte dabei die Vorstellung einer großen
Finanzmacht der Juden mit dem altbekannten Vorwurf der Weltverschwörung.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein bildeten die Juden eine von der
Mehrheitsgesellschaft verachtete, randständig lebende Gruppe mit einem hohen
Grad an Selbstverwaltung und einer sehr kleinen und reichen Oberschicht von
Hofjuden, die primär mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut waren (zum
Beispiel Hofbankiers).
Im Laufe der Judenemanzipation, das heißt ihrer allmählichen rechtlichen und
sozialen Integration in die christliche Gesellschaft im Zuge der
Aufklärungsbewegung, engagierten sich Juden besonders in den politisch
fortschrittlichen Bewegungen und Parteien (Liberalismus, später Sozialismus
und Kommunismus), die sich für die Gleichstellung der Juden einsetzten und
weniger antijüdisch waren als christlich-konservative und
völkisch-nationalistische Parteien und Organisationen. Aus diesem
politischen Engagement einer intellektuellen Minderheit entwickelte sich das
Stereotyp des zu Radikalismus und Umsturz neigenden Juden. Dieser Vorwurf
traf besonders die linken und liberalen Parteien der Weimarer Republik, die
von ihren Gegnern als "Judenrepublik" verunglimpft wurde. Die
Nationalsozialisten sprachen dann vom "jüdischen Bolschewismus", um damit
nach der russischen Oktoberrevolution die in der deutschen Bevölkerung
verbreitete Furcht vor einem kommunistischen Umsturz für ihren
Antisemitismus zu instrumentalisieren.
Rassebegriff
Der
Begriff "Rasse" wurde in der Anthropologie seit Ende des 17. Jahrhunderts
beschreibend als naturgeschichtlicher Begriff verwendet, um Gruppen von
Tieren und Menschen mit gemeinsamen äußeren Merkmalen zu kategorisieren;
doch stuften bereits die frühen Klassifikationsschemata Menschen in höhere
und niedere Arten ein. An diese Rassentypologien knüpfte der französische
Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) in seinem
geschichtsphilosophischen "Essai sur l'inégalité des races humaines"
(1853/55) an, in dem er die Ungleichheit von Menschenrassen postulierte und
soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und den angeblichen neuzeitlichen
"Kulturverfall" auf die fortschreitende Rassenmischung zurückführte. Die
"arische weiße Rasse" verkörperte für ihn den Gipfel kultureller und
moralischer Entwicklung, doch sah er ihre Überlegenheit durch Rassenmischung
bedroht. Mit diesem Ariermythos, der Betonung des Blutes und der
Unterscheidung in niedere und edlere Rassen hatte Gobineau ein Denkmodell
für den rassistischen Antisemitismus vorgegeben.
Einen neuen Gedanken führte der Sozialdarwinismus, eine im Anschluss an
Charles Darwin (1809–1882) entstandene sozialphilosophische Strömung ein,
indem er dessen Entwicklungstheorie der natürlichen Zuchtwahl von der
Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Die
Darwinsche Anpassungstheorie vom "survival of the fittest" wurde zum "Kampf
ums Dasein" zwischen "höheren" und "niederen" Rassen umgedeutet. Houston
Stewart Chamberlain verband in seinem weit verbreiteten Buch "Die Grundlagen
des 19. Jahrhunderts" (1899) den Mythos vom reinrassigen "Arier" als
Kulturträger mit dem Gedanken des Rassenkampfes, wonach die "Arier" der
minderwertigen "Mischlingsrasse" der Juden in einem historischen Endkampf
gegenüberstünden, in dem es nur Sieg oder Vernichtung geben könnte. Seit den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde so der vorher religiös oder
ökonomisch begründete Antisemitismus zur "Rassenfrage" erklärt, wobei der
vage Rassenbegriff eine Reihe anderer Begriffe wie Volk, Nation, Arier,
Deutsch- und Germanentum umschloß.
Die nationalsozialistische Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Sie
lehnte eine Vermischung der Rassen ab. Entsprechend wurden sexuelle Kontakte
von "Ariern" und Juden ab 1935 als "Blutschande" strafrechtlich verfolgt.
Das vulgärantisemitische NS-Blatt "Der Stürmer" charakterisierte die Juden
als zersetzende Elemente und als sexuelle Bedrohung und stufte sie
rassentypologisch als "niedere Rasse" ein. Andererseits galten die Juden als
gefährlichster Gegner im weltgeschichtlichen Endkampf ("Gegenrasse"), wurden
sie doch – unlogischerweise – als die "Drahtzieher" sowohl hinter dem
amerikanischen Kapitalismus ("Wall Street") wie auch hinter dem sowjetischen
Kommunismus ("jüdischer Bolschewismus") vermutet.
In der Geschichte sind also negative Einstellungen zu Juden aus ganz
unterschiedlichen Gründen entstanden und weiter vermittelt worden: Die
früheste Schicht bildet die religiöse Feindschaft des Christentums gegenüber
dem Judentum. Die (von der christlichen Gesellschaft erzwungene) besondere
Berufsstruktur der Juden seit dem Mittelalter führt auf eine zweite Schicht:
Die ökonomisch begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer,
Betrüger, später als ausbeuterische Kapitalisten und Spekulanten
gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist eine weitere Dimension, nämlich
die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld
weltweit die Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des
"Drahtziehers", der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung und
Pressemacht. Eine weitere Schicht bilden rassistische Vorstellungen über den
jüdischen Körper, also die vom schwachen, unsoldatischen (Stereotyp des
"Drückebergers"), hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden (was die
jüdischen Frauen angeht, so dominierte das exotische Bild der "schönen
Jüdin"), zum anderen die Fantasien vom sexuell bedrohlichen Juden. Alle
diese Dimensionen des antijüdischen Vorurteils sind bis in die Gegenwart
mehr oder weniger wirksam geblieben und finden sich heute in aktualisierter
Form wieder.
Wandel des Judenbildes
Trotz des Holocaust änderte sich das antijüdische Stereotyp zunächst wenig.
Als im Jahre 1951 Studenten der Freien Universität Berlin in einer Studie zu
"Nationalen Vorurteilen" Völkern Eigenschaften aus einer Liste von über 300
Merkmalen zuordnen sollten, fanden sich die genannten Stereotype wieder: Es
dominierten abwertende Kennzeichnungen des ökonomischen und sozialethischen
Verhaltens (Handelsvolk, materiell eingestellt, Schacherer, scheut
körperliche Arbeit, raffgierig, Ausbeuter), gefolgt von Begabungen (gute
Ärzte, Wissenschaftler, intelligent, redegewandt, sprachbegabt,
musikalisch). Diese positiven Stereotype sind allerdings als ambivalent
anzusehen, da positive Eigenschaften bei einem "Feind" natürlich gefährlich
sind: Dies ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass Juden einerseits als
intelligent (wie die Deutschen sich selbst sehen), andererseits als
raffiniert und schlau charakterisiert wurden. Das rassistische Körperbild
lebte in dieser Zeit ebenfalls fort (krumme Nase, unsoldatisch), ebenso wie
die Vorstellung eines engen Zusammenhalts der Gruppe ("rassebewusst,
Zusammengehörigkeitsgefühl, familiengebunden").
Vom historisch überlieferten Bild fehlten die Dimensionen des religiösen
Konflikts und der Politik (radikal, kommunistisch). Eigenschaften, die
exklusiv nur einem Volk zugeschrieben werden, spiegeln besonders gut das
Stereotyp dieser Gruppe. Demnach werden die Juden als "krummnasig,
raffiniert, schlau, raffgierig und heimatlos" bezeichnet, als "Schacherer
und Ausbeuter mit einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl". Es wird damit
ein deutlich negativ akzentuiertes Bild einer Gruppe entworfen, die nicht
zur Mehrheitsgesellschaft dazugehört (heimatlos), aber untereinander eng
zusammenhält, und die andere Nationen ausbeutet. Zur Einschätzung der
Beziehung zwischen zwei Gruppen ist der Vergleich zwischen dem Selbst- und
dem Fremdbild aufschlussreich. Die deutschen Studenten des Jahres 1951
schrieben Deutschen und Juden zwar bestimmte Begabungen ("Intelligenz,
sprachbegabt, Wissenschaftler") gleichermaßen zu, aber wesentliche Züge des
deutschen Selbstbildes ("pflichtbewusst, sauber, fleißig, gründlich,
zuverlässig, anständig, gemütlich, aber auch tapfer, guter Soldat") fehlten
bei den Angaben zu den Juden, manche Eigenschaften, die beide Gruppen
charakterisieren sollten, standen sogar in Opposition: "heimatliebend –
heimatlos; militaristisch/der beste Soldat – unsoldatisch; Idealist –
materiell eingestellt; Arbeitstier – scheut körperliche Arbeit".
Vergleichen wir nun diese frühen Ergebnisse mit der Eigenschaftsliste einer
repräsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahre 1987 (wiederholt 1993;
ermittelt mit dem Verfahren der Faktorenanalyse), zeigen sich gegenüber 1951
sowohl Konstanz wie Veränderungen, die sich in sechs Dimensionen
zusammenfassen lassen.
- In dem Vorstellungskomplex der "jüdischen
Weltverschwörung" werden die Juden als "machthungrig, verschwörerisch,
unheimlich, rücksichtslos, hinterhältig und politisch radikal"
betrachtet. Im Durchschnitt schreiben allerdings nur circa 15 Prozent
der Befragten den Juden diese Eigenschaften zu. Diese
Verschwörungstheorie ist heute vor allem in der arabischen Welt
verbreitet. Die Antisemiten in Deutschland machen "jüdischen Einfluss"
dafür verantwortlich, dass es nicht gelingt, "einen Schlussstrich unter
die Vergangenheit zu ziehen". Hier werden gesellschaftlich nicht zu
steuernde Prozesse öffentlicher Diskussion und Erinnerung auf die
vermeintliche (Presse-)Macht einer Gruppe zurückgeführt. Diese
Personalisierung von sozialen Prozessen ist typisch für vorurteilshaftes
Denken.
- In der deutschen Bevölkerung werden die Juden
am häufigsten als fest zusammenhaltende religiöse Gruppe gesehen (70
Prozent). Ähnlich wie 1951 wird dieses Festhalten an Tradition und
Religion nicht (mehr) negativ bewertet, der alte christlich-jüdische
Gegensatz scheint an Bedeutung verloren zu haben. Dies liegt an dem
relativen Bedeutungsverlust von Religion (Säkularisierung), an der
veränderten Haltung der Kirchen zum Judentum sowie daran, dass mit dem
Islam (in seiner fundamentalistischen Variante) ein neues Feindbild
entstanden ist.
- Sozialethische Verhaltensstandards wie
"Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Treue" und so genannte Sekundärtugenden
wie "Ordnung, Sauberkeit, Fleiß" bewerten im Durchschnitt nur 20 Prozent
der Deutschen als typische Eigenschaften von Juden. Vor allem
Ehrlichkeit und Treue werden mit elf Prozent nur selten zugeschrieben.
- Das traditionelle Bild vom "hässlichen und
feigen" Juden, der "schwächlich und unsoldatisch" ist, hat sich fast
völlig verloren: Nur vier Prozent schreiben Juden diese Eigenschaften
zu. Dies zeigt, dass es durchaus Veränderungen in der Vorurteilsstruktur
gibt, wenn Zuschreibungen keinerlei empirischen Anhaltspunkt mehr haben
und das Urteil der Wahrnehmung zu krass widerspricht. Das Bild der
israelischen Kibbuzim und der erfolgreichen israelischen Armee dürfte
das alte Bild überlagert haben. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass die
mittelalterliche religiöse Dämonisierung des Juden, dessen Bosheit sich
in einem abstoßenden Äußeren zeigen musste, in der modernen Welt ihre
Funktion verloren hat.
- Das traditionell dominante ökonomische
Stereotyp des geschäftstüchtigen Juden bildet bis heute den Kern des
antijüdischen Vorurteils: 43 Prozent der befragten Deutschen stimmen
diesem negativen Bild zu. Der Grund dürfte darin liegen, dass gerade in
den deutsch-jüdischen Beziehungen nach 1945 die Frage der Entschädigung
für verfolgungsbedingte gesundheitliche Schäden und materielle Verluste
(so genannte Wiedergutmachung) eine zentrale Rolle gespielt hat. Dies
hat bei nicht wenigen Deutschen das Vorurteil "bestätigt", es ginge "den
Juden" bei der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust
vorrangig um ökonomische Vorteile.
- Neu gegenüber 1951 hinzugekommen ist das
Vorurteil vom nachtragenden Juden. Es spiegelt eine wichtige Facette im
deutsch-jüdischen Verhältnis wider, nämlich die Tatsache, dass die Juden
als Mahner an die Verbrechen der NS-Vergangenheit gesehen werden, die
angeblich nicht vergessen und vergeben wollen. Fast ein Drittel der
befragten Deutschen (29 Prozent) hielt die Juden für "empfindlich,
nachtragend und unversöhnlich". Dieses neue Bild kann allerdings auf
einem älteren und immer noch wirksamen religiösen Stereotyp aufbauen,
nämlich dem des "rachsüchtigen" jüdischen Gottes ("Rache bis ins siebte
Glied"), dem der christliche Gott der Liebe und Vergebung
entgegengesetzt wird.
Antisemitismus heute
Wie
ist es nun zu erklären, dass bestimmte Dimensionen des antijüdischen
Vorurteils noch von vielen Deutschen geteilt werden und andere nicht mehr,
obwohl nichtjüdische Deutsche mit Juden im Alltagsleben kaum je
zusammentreffen? Die Erklärung liegt darin, dass sich vor allem die
Vorurteile gehalten haben, die sich mit neuen Inhalten haben füllen lassen,
die also die alten Vorurteile scheinbar "bestätigen". Diese Inhalte ergeben
sich primär aus den Problemen, die die Deutschen mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit haben.
Anders als bei den Vorbehalten gegen Ausländer gibt es gegenüber den Juden
in Deutschland kaum Gefühle einer ökonomischen Konkurrenz oder einer
kulturellen Bedrohung durch eine große Zahl von Zuwanderern; auch Rassismus
ist hier ohne Bedeutung. Umfragen zeigen, dass die soziale Distanz zu Juden
heute sehr gering ist. Auch der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und
Christentum spielt weder in den Kirchen noch in der Bevölkerung eine
wesentliche Rolle. Die Motive des Antisemitismus liegen vorwiegend in dem
Schuldgefühl gegenüber den Juden, das in verschiedener Weise abgewehrt wird:
- Man schreibt den Juden eine Mitschuld an ihrer
Verfolgung zu: Dies tun seit fünf Jahrzehnten circa 20 Prozent der
deutschen Bevölkerung, die glauben, "dass die Juden mitschuldig sind,
wenn sie gehasst und verfolgt werden". Hier haben wir es mit der
Denkweise "Wo Rauch ist, ist auch Feuer" zu tun, die aus der Tatsache,
dass Juden in der europäischen Geschichte häufig verfolgt wurden,
schließt, dafür müsse es Gründe im Verhalten der Juden gegeben haben. Es
ist deshalb für die Entkräftung von Vorurteilen wichtig, sich historisch
die gesamte Breite der christlich-jüdischen Beziehungen zu
vergegenwärtigen und diese nicht auf eine reine Konflikt- und
Verfolgungsgeschichte zu reduzieren.
- Man unterstellt den Juden, dass sie ihre Leiden
unter der NS-Verfolgung heute dazu benutzen, um möglichst hohe Summen an
"Wiedergutmachungs"-Geldern zu kassieren. Dieses Vorurteil verbindet
sich mit dem traditionellen Bild des "geldgierigen, betrügerischen und
ausbeuterischen Juden". Eng verbunden damit ist die Vorstellung vom
großen Einfluss, den Juden ausüben, um die Deutschen zu weiteren
Zahlungen zu zwingen. Auch hier kann sich das neue Motiv mit dem alten
Vorurteil von der "jüdischen Weltmacht" verbinden, das heute ebenfalls
noch von vielen Deutschen vertreten wird. Der Vorwurf, die Juden würden
ihren Einfluss geltend machen, um die Deutschen auszubeuten, ist ein
klassisches Beispiel für die im Antisemitismus generell zu beobachtende
Täter-Opfer-Umkehr.
- Die Juden werden als "Störenfriede" gesehen, die
durch ihr Beharren auf der Erinnerung an den Holocaust – der
Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 öffentlich von der "Moralkeule
Auschwitz" – permanent an eine Periode deutscher Geschichte gemahnen,
die viele gern vergessen würden: Jeweils zwei Drittel der Deutschen
würden am liebsten "einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit"
ziehen. Auch hier verbindet sich ein aktuelles Unbehagen mit alten, aus
dem Antijudaismus stammenden Negativurteilen über die
"alttestamentarische Vergeltungssucht" der Juden.
- Durch die Gründung des jüdischen Staates ist eine
neue Vorurteilsdimension hinzugekommen, indem man nun die einheimischen
Juden, die deutsche Staatsbürger sind, für die Politik Israels
verantwortlich macht. Hier treffen wir auf ein weiteres wichtiges Motiv
des heutigen Antisemitismus unter Deutschen: Die eigene Schuld an der
Verfolgung der Juden soll verkleinert werden, indem man sie gegen
Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Nahostkonflikt aufrechnet. 17
Prozent waren 1987 der Meinung, dass das, "was der Staat Israel heute
mit den Palästinensern macht, im Prinzip auch nichts anderes ist als
das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben" (33
Prozent unentschieden, 50 Prozent stimmten nicht zu).
Mit der Zuwanderung von Aussiedlern, Osteuropäern und
Muslimen kommen allerdings auch andere "Spielarten" des Antisemitismus nach
Deutschland, sodass auch religiöse Formen des Vorurteils (Antijudaismus) und
vor allem ein antizionistisches Feindbild, gespeist durch den
arabisch-israelischen Konflikt, anzutreffen sind.
Werner Bergmann ist Professor für Antisemitismusforschung an der Technischen
Universität Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte des
Antisemitismus vorgelegt, darunter "Antisemitismus in der Bundesrepublik
Deutschland" (1991, zus. mit R. Erb) und "Geschichte
des Antisemitismus" (Beck 2002).
Aus:
Werner Bergmanns "Geschichte
des Antisemitismus"
[BESTELLEN?]
hagalil.com
2007
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