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    Antisemitismus - eine Einführung 
    Von Werner Bergmann 
    
    Als 
	die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, 
	glaubten viele, dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den 
	Boden entziehen und sich, wie Heinz Galinski, bis 1992 Vorsitzender des 
	Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, "eine Welt auftun 
	(würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen 
	werde". 
     
    Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den 
	europäischen Ländern und in den USA im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. 
	Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich abgenommen hat 
	und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch 
	sehen sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. 
	In Deutschland haben antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im 
	Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich zugenommen. 
     
    Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische 
	Stereotype so hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule 
	und der Öffentlichkeit entgegengetreten ist und in vielen europäischen 
	Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle spielt dabei, dass 
	negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass 
	das Thema "Juden" von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel 
	empfunden und häufig gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und 
	Schamgefühle begreiflicherweise einem normalen, gelassenen Verhältnis 
	zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich antijüdische 
	Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der 
	Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und 
	Österreich auch einen spezifischen "Antisemitismus wegen Auschwitz", der 
	sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die 
	Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern. Dieser 
	"sekundäre Antisemitismus" greift auf alte antijüdische Vorurteile und 
	Stereotypen zurück und aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen 
	Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, auf die 
	Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein negatives Bild des 
	Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen 
	Überlieferung geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe 
	von Stereotypen, denn auch wenn man sie nicht teilt, kennt man die negativen 
	Urteile über die Juden. 
     
    Die Judenfeindschaft besitzt mehrere historische Schichten, wobei die 
	älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht "vergessen", sondern 
	nur von neuen überlagert wurden. 
    Christlicher Antijudaismus 
    
    Die erste 
	Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen, 
	die als abgespaltene jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in 
	Konkurrenz zum Judentum standen, das in seiner Mehrheit die christliche 
	Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz entstand 
	eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die 
	Juden als "Volk des alten Bundes" aus dem neuen Gottesbund ausschloss. Im 
	Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe stand die Überbetonung des Anteils der 
	Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien (Matthäus 27,25: "Sein 
	Blut komme über uns und unsere Kinder"; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25), die 
	im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: "Welche auch den Herrn Jesum getötet 
	haben, und ihre eigenen Propheten, und haben uns verfolgt" (1 Thessalonicher 
	2,15). Weiter findet sich eine negative Zeichnung der jüdischen Pharisäer 
	und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und Verfechter einer 
	nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die 
	Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie 
	hätten "den Teufel zum Vater" (8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale 
	Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen: Verwerfung der Juden durch 
	Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative 
	Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen 
	Sprachgebrauch hinein: Wir nennen einen Heuchler immer noch "Pharisäer". 
	Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden wurden in der 
	Geschichte häufig des Verrats an ihren "Gastvölkern" bezichtigt. 
     
    Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen 
	Reformbewegungen, insbesondere die Missionsbestrebungen der Bettelorden und 
	die Wendung gegen abweichende christliche "Irrlehren" (so genannte Ketzer) 
	und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft 
	über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen 
	Juden zum festen Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden. 
     
    Im 13. Jahrhundert gewannen mit der Verkündigung der 
	Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und 
	Wein real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie 
	und das Blut zentrale religiöse Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden 
	würden als "Feinde Christi" die Hostie durchbohren, um damit den Leib Jesu 
	erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu 
	antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden 
	würden das Blut von Christen zu rituellen Zwecken benötigen und deshalb 
	Christenknaben rauben oder kaufen, um sie dann zu ermorden. Obwohl diese 
	Vorstellung im Widerspruch zur ausgeprägten Abneigung gegen den Genuss von 
	Blut im Judentum stand (Das Schächtungsgebot sieht beispielsweise das 
	völlige Ausbluten des geschlachteten Tieres vor. Blutig wird das Fleisch als 
	unrein angesehen.) und auch die Kirchenführer ihr widersprachen, verbreitete 
	sich diese so genannte Ritualmordlegende in ganz Europa und hat bis ins 
	frühe 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anlass zu antijüdischen 
	Übergriffen gegeben. Die Vorstellung, dass Andersgläubige Kinder misshandeln 
	und zu rituellen Zwecken opfern, ist historisch und geographisch weit 
	verbreitet. Diese Bedrohungsängste, zu denen – etwa angesichts der sich 
	rasch ausbreitenden Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – auch die Angst 
	vor Brunnenvergiftungen gehört, machten die Juden zu einer dämonisierten 
	Minderheit, die sich angeblich gegen die Christen verschworen hatte. 
    Soziale Stereotype 
    
    Die 
	geschilderte Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert führte zu einer deutlichen 
	Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Juden. Kirchlicherseits 
	wurden sie durch die Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 zu einer 
	sozial ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung, Ausschluss von 
	öffentlichen Ämtern). Ihnen wurde die Zulassung zu den sich als christliche 
	Bruderschaften verstehenden Zünften versperrt. Dies zwang die Juden zu einer 
	ökonomischen Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, die den Christen aus 
	religiösen Gründen verboten war. Als Finanziers der Feudalherren und der 
	Städte und als Großkaufleute galten sie als "reiche Wucherer", was sie zu 
	einer lohnenden Beute in politischen Konflikten und zum Ziel von Übergriffen 
	machte. Vor allem ihre Schuldner hatten ein Interesse, mit den Juden auch 
	zugleich ihre Schulden loszuwerden. 
    
    
	Kleidungsvorschriften (Quellentext): 
    
    Das Ziel 
	der Nationalsozialisten war die Stigmatisierung und die vollkommene 
	Isolierung der Juden von der übrigen Bevölkerung. Als 
	Stigmatisierungszeichen verwendeten Nationalsozialisten den sechszackigen 
	Davidstern bereits bei den ersten antisemitischen Ausschreitungen, so beim 
	Boykotttag vom 1. April 1933, bei dem Geschäfte und Arztpraxen von Juden mit 
	einem großen Davidstern beschmiert wurden. Viele Menschen erblickten damals 
	in den Schmierereien einen Rückfall in mittelalterliche Methoden der 
	Kennzeichnung von Juden. [...] 
     
    Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Kennzeichnung von Juden im 
	Mittelalter in einem vollkommen anderen Kontext stand. Kleidungsvorschriften 
	existierten im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit für alle Stände 
	der Bevölkerung und waren ein wesentlicher Bestandteil der 
	Ständegesellschaft. Neben den Juden mussten auch andere Außenseiter der 
	Gesellschaft, beispielsweise Seuchenkranke, ein besonderes Erkennungszeichen 
	tragen. Dennoch sind auch hier Absonderung und Stigmatisierung die 
	eigentlichen Ziele dieser Verordnungen. [...] 
     
    Hierbei ordnete man erstmals die Farbe Gelb den Juden zu. Gelb galt dann 
	auch während des gesamten christlichen Mittelalters als Farbe zur 
	Kennzeichnung von Außenseitern. 
     
    Für die Kennzeichnung der Juden im christlichen Herrschaftsbereich ist das 
	4. Laterankonzil des Jahres 1215 das entscheidende Datum. Auch hier stellt 
	die Angst vor einer möglichen Vermischung von Juden und Sarazenen einerseits 
	und von Christen andererseits den entscheidenden Beweggrund dar. In den 
	folgenden Jahrhunderten erließen Provinzialsynoden regional unterschiedliche 
	Kleiderordnungen. [...] Die dabei am häufigsten verwendeten Kennzeichnungen 
	waren der spitze Hut (Judenhut), der auf verschiedenen Provinzialsynoden und 
	-erlassen des 13. Jahrhunderts verordnet wurde, und der  meist gelbe  
	Ring, den Nicolaus von Kues auf seiner Legationsreise durch Deutschland 
	1441/42 als Konkretisierung der allgemeinen Beschlüsse des Konzils von Basel 
	festlegte. [...] 
     
    In der frühen Neuzeit empfanden die Juden die Kennzeichnungen zunehmend als 
	Stigmatisierung. Berichte verweisen darauf, dass die Regelungen immer 
	häufiger missachtet wurden. Bereits im 16. Jahrhundert konnten sich einzelne 
	Juden von der Kennzeichnungspflicht befreien und ab dem 18. Jahrhundert gab 
	es auch die Möglichkeit, sich vom Tragen der Kennzeichen freizukaufen. [...] 
    aus: Wolfgang Osiander, Gelber 
	Fleck, gelber Ring, gelber Stern. Kleidungsvorschriften und Kennzeichen für 
	Juden vom Mittelalter bis zum Nationalsozialismus, in: Geschichte lernen, 
	Heft 80, 2001, S. 26 f. 
    Mit der Lockerung des 
	kirchlichen Wucherverbots (das heißt für die Bereitstellung von Kapital 
	Zinsen zu erheben) wurden Juden durch ihre christlichen Konkurrenten auf die 
	Geldleihe für die ärmeren Schichten und die Hehlerei abgedrängt und damit 
	selbst zu verarmten und verfemten Außenseitern. Auch wenn keineswegs alle 
	Juden zur reichen Schicht der Finanziers gehörten und die Juden später 
	überwiegend eine verarmte Gruppe darstellten, blieb das Bild des "reichen 
	Juden" als Stereotyp haften. Die berufliche Spezialisierung hielt sich 
	teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein, so dass sich das Vorurteil 
	festigte, das die Juden mit Geld(-gier), Kapitalismus und Ausbeutung 
	verband. Man sprach Ende des 19. Jahrhunderts von der "Goldenen 
	Internationale" und verknüpfte dabei die Vorstellung einer großen 
	Finanzmacht der Juden mit dem altbekannten Vorwurf der Weltverschwörung. 
     
    Bis ins 19. Jahrhundert hinein bildeten die Juden eine von der 
	Mehrheitsgesellschaft verachtete, randständig lebende Gruppe mit einem hohen 
	Grad an Selbstverwaltung und einer sehr kleinen und reichen Oberschicht von 
	Hofjuden, die primär mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut waren (zum 
	Beispiel Hofbankiers). 
     
    Im Laufe der Judenemanzipation, das heißt ihrer allmählichen rechtlichen und 
	sozialen Integration in die christliche Gesellschaft im Zuge der 
	Aufklärungsbewegung, engagierten sich Juden besonders in den politisch 
	fortschrittlichen Bewegungen und Parteien (Liberalismus, später Sozialismus 
	und Kommunismus), die sich für die Gleichstellung der Juden einsetzten und 
	weniger antijüdisch waren als christlich-konservative und 
	völkisch-nationalistische Parteien und Organisationen. Aus diesem 
	politischen Engagement einer intellektuellen Minderheit entwickelte sich das 
	Stereotyp des zu Radikalismus und Umsturz neigenden Juden. Dieser Vorwurf 
	traf besonders die linken und liberalen Parteien der Weimarer Republik, die 
	von ihren Gegnern als "Judenrepublik" verunglimpft wurde. Die 
	Nationalsozialisten sprachen dann vom "jüdischen Bolschewismus", um damit 
	nach der russischen Oktoberrevolution die in der deutschen Bevölkerung 
	verbreitete Furcht vor einem kommunistischen Umsturz für ihren 
	Antisemitismus zu instrumentalisieren. 
    Rassebegriff 
    
    Der 
	Begriff "Rasse" wurde in der Anthropologie seit Ende des 17. Jahrhunderts 
	beschreibend als naturgeschichtlicher Begriff verwendet, um Gruppen von 
	Tieren und Menschen mit gemeinsamen äußeren Merkmalen zu kategorisieren; 
	doch stuften bereits die frühen Klassifikationsschemata Menschen in höhere 
	und niedere Arten ein. An diese Rassentypologien knüpfte der französische 
	Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) in seinem 
	geschichtsphilosophischen "Essai sur l'inégalité des races humaines" 
	(1853/55) an, in dem er die Ungleichheit von Menschenrassen postulierte und 
	soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und den angeblichen neuzeitlichen 
	"Kulturverfall" auf die fortschreitende Rassenmischung zurückführte. Die 
	"arische weiße Rasse" verkörperte für ihn den Gipfel kultureller und 
	moralischer Entwicklung, doch sah er ihre Überlegenheit durch Rassenmischung 
	bedroht. Mit diesem Ariermythos, der Betonung des Blutes und der 
	Unterscheidung in niedere und edlere Rassen hatte Gobineau ein Denkmodell 
	für den rassistischen Antisemitismus vorgegeben. 
     
    Einen neuen Gedanken führte der Sozialdarwinismus, eine im Anschluss an 
	Charles Darwin (1809–1882) entstandene sozialphilosophische Strömung ein, 
	indem er dessen Entwicklungstheorie der natürlichen Zuchtwahl von der 
	Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Die 
	Darwinsche Anpassungstheorie vom "survival of the fittest" wurde zum "Kampf 
	ums Dasein" zwischen "höheren" und "niederen" Rassen umgedeutet. Houston 
	Stewart Chamberlain verband in seinem weit verbreiteten Buch "Die Grundlagen 
	des 19. Jahrhunderts" (1899) den Mythos vom reinrassigen "Arier" als 
	Kulturträger mit dem Gedanken des Rassenkampfes, wonach die "Arier" der 
	minderwertigen "Mischlingsrasse" der Juden in einem historischen Endkampf 
	gegenüberstünden, in dem es nur Sieg oder Vernichtung geben könnte. Seit den 
	achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde so der vorher religiös oder 
	ökonomisch begründete Antisemitismus zur "Rassenfrage" erklärt, wobei der 
	vage Rassenbegriff eine Reihe anderer Begriffe wie Volk, Nation, Arier, 
	Deutsch- und Germanentum umschloß. 
     
    Die nationalsozialistische Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Sie 
	lehnte eine Vermischung der Rassen ab. Entsprechend wurden sexuelle Kontakte 
	von "Ariern" und Juden ab 1935 als "Blutschande" strafrechtlich verfolgt. 
	Das vulgärantisemitische NS-Blatt "Der Stürmer" charakterisierte die Juden 
	als zersetzende Elemente und als sexuelle Bedrohung und stufte sie 
	rassentypologisch als "niedere Rasse" ein. Andererseits galten die Juden als 
	gefährlichster Gegner im weltgeschichtlichen Endkampf ("Gegenrasse"), wurden 
	sie doch – unlogischerweise – als die "Drahtzieher" sowohl hinter dem 
	amerikanischen Kapitalismus ("Wall Street") wie auch hinter dem sowjetischen 
	Kommunismus ("jüdischer Bolschewismus") vermutet. 
     
    In der Geschichte sind also negative Einstellungen zu Juden aus ganz 
	unterschiedlichen Gründen entstanden und weiter vermittelt worden: Die 
	früheste Schicht bildet die religiöse Feindschaft des Christentums gegenüber 
	dem Judentum. Die (von der christlichen Gesellschaft erzwungene) besondere 
	Berufsstruktur der Juden seit dem Mittelalter führt auf eine zweite Schicht: 
	Die ökonomisch begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer, 
	Betrüger, später als ausbeuterische Kapitalisten und Spekulanten 
	gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist eine weitere Dimension, nämlich 
	die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld 
	weltweit die Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des 
	"Drahtziehers", der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung und 
	Pressemacht. Eine weitere Schicht bilden rassistische Vorstellungen über den 
	jüdischen Körper, also die vom schwachen, unsoldatischen (Stereotyp des 
	"Drückebergers"), hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden (was die 
	jüdischen Frauen angeht, so dominierte das exotische Bild der "schönen 
	Jüdin"), zum anderen die Fantasien vom sexuell bedrohlichen Juden. Alle 
	diese Dimensionen des antijüdischen Vorurteils sind bis in die Gegenwart 
	mehr oder weniger wirksam geblieben und finden sich heute in aktualisierter 
	Form wieder. 
    Wandel des Judenbildes 
    
	Trotz des Holocaust änderte sich das antijüdische Stereotyp zunächst wenig. 
	Als im Jahre 1951 Studenten der Freien Universität Berlin in einer Studie zu 
	"Nationalen Vorurteilen" Völkern Eigenschaften aus einer Liste von über 300 
	Merkmalen zuordnen sollten, fanden sich die genannten Stereotype wieder: Es 
	dominierten abwertende Kennzeichnungen des ökonomischen und sozialethischen 
	Verhaltens (Handelsvolk, materiell eingestellt, Schacherer, scheut 
	körperliche Arbeit, raffgierig, Ausbeuter), gefolgt von Begabungen (gute 
	Ärzte, Wissenschaftler, intelligent, redegewandt, sprachbegabt, 
	musikalisch). Diese positiven Stereotype sind allerdings als ambivalent 
	anzusehen, da positive Eigenschaften bei einem "Feind" natürlich gefährlich 
	sind: Dies ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass Juden einerseits als 
	intelligent (wie die Deutschen sich selbst sehen), andererseits als 
	raffiniert und schlau charakterisiert wurden. Das rassistische Körperbild 
	lebte in dieser Zeit ebenfalls fort (krumme Nase, unsoldatisch), ebenso wie 
	die Vorstellung eines engen Zusammenhalts der Gruppe ("rassebewusst, 
	Zusammengehörigkeitsgefühl, familiengebunden"). 
     
    Vom historisch überlieferten Bild fehlten die Dimensionen des religiösen 
	Konflikts und der Politik (radikal, kommunistisch). Eigenschaften, die 
	exklusiv nur einem Volk zugeschrieben werden, spiegeln besonders gut das 
	Stereotyp dieser Gruppe. Demnach werden die Juden als "krummnasig, 
	raffiniert, schlau, raffgierig und heimatlos" bezeichnet, als "Schacherer 
	und Ausbeuter mit einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl". Es wird damit 
	ein deutlich negativ akzentuiertes Bild einer Gruppe entworfen, die nicht 
	zur Mehrheitsgesellschaft dazugehört (heimatlos), aber untereinander eng 
	zusammenhält, und die andere Nationen ausbeutet. Zur Einschätzung der 
	Beziehung zwischen zwei Gruppen ist der Vergleich zwischen dem Selbst- und 
	dem Fremdbild aufschlussreich. Die deutschen Studenten des Jahres 1951 
	schrieben Deutschen und Juden zwar bestimmte Begabungen ("Intelligenz, 
	sprachbegabt, Wissenschaftler") gleichermaßen zu, aber wesentliche Züge des 
	deutschen Selbstbildes ("pflichtbewusst, sauber, fleißig, gründlich, 
	zuverlässig, anständig, gemütlich, aber auch tapfer, guter Soldat") fehlten 
	bei den Angaben zu den Juden, manche Eigenschaften, die beide Gruppen 
	charakterisieren sollten, standen sogar in Opposition: "heimatliebend – 
	heimatlos; militaristisch/der beste Soldat – unsoldatisch; Idealist – 
	materiell eingestellt; Arbeitstier – scheut körperliche Arbeit". 
     
    Vergleichen wir nun diese frühen Ergebnisse mit der Eigenschaftsliste einer 
	repräsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahre 1987 (wiederholt 1993; 
	ermittelt mit dem Verfahren der Faktorenanalyse), zeigen sich gegenüber 1951 
	sowohl Konstanz wie Veränderungen, die sich in sechs Dimensionen 
	zusammenfassen lassen. 
    
      - In dem Vorstellungskomplex der "jüdischen 
		Weltverschwörung" werden die Juden als "machthungrig, verschwörerisch, 
		unheimlich, rücksichtslos, hinterhältig und politisch radikal" 
		betrachtet. Im Durchschnitt schreiben allerdings nur circa 15 Prozent 
		der Befragten den Juden diese Eigenschaften zu. Diese 
		Verschwörungstheorie ist heute vor allem in der arabischen Welt 
		verbreitet. Die Antisemiten in Deutschland machen "jüdischen Einfluss" 
		dafür verantwortlich, dass es nicht gelingt, "einen Schlussstrich unter 
		die Vergangenheit zu ziehen". Hier werden gesellschaftlich nicht zu 
		steuernde Prozesse öffentlicher Diskussion und Erinnerung auf die 
		vermeintliche (Presse-)Macht einer Gruppe zurückgeführt. Diese 
		Personalisierung von sozialen Prozessen ist typisch für vorurteilshaftes 
		Denken.
 
        
         - In der deutschen Bevölkerung werden die Juden 
		am häufigsten als fest zusammenhaltende religiöse Gruppe gesehen (70 
		Prozent). Ähnlich wie 1951 wird dieses Festhalten an Tradition und 
		Religion nicht (mehr) negativ bewertet, der alte christlich-jüdische 
		Gegensatz scheint an Bedeutung verloren zu haben. Dies liegt an dem 
		relativen Bedeutungsverlust von Religion (Säkularisierung), an der 
		veränderten Haltung der Kirchen zum Judentum sowie daran, dass mit dem 
		Islam (in seiner fundamentalistischen Variante) ein neues Feindbild 
		entstanden ist.
 
        
         - Sozialethische Verhaltensstandards wie 
		"Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Treue" und so genannte Sekundärtugenden 
		wie "Ordnung, Sauberkeit, Fleiß" bewerten im Durchschnitt nur 20 Prozent 
		der Deutschen als typische Eigenschaften von Juden. Vor allem 
		Ehrlichkeit und Treue werden mit elf Prozent nur selten zugeschrieben.
 
        
         - Das traditionelle Bild vom "hässlichen und 
		feigen" Juden, der "schwächlich und unsoldatisch" ist, hat sich fast 
		völlig verloren: Nur vier Prozent schreiben Juden diese Eigenschaften 
		zu. Dies zeigt, dass es durchaus Veränderungen in der Vorurteilsstruktur 
		gibt, wenn Zuschreibungen keinerlei empirischen Anhaltspunkt mehr haben 
		und das Urteil der Wahrnehmung zu krass widerspricht. Das Bild der 
		israelischen Kibbuzim und der erfolgreichen israelischen Armee dürfte 
		das alte Bild überlagert haben. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass die 
		mittelalterliche religiöse Dämonisierung des Juden, dessen Bosheit sich 
		in einem abstoßenden Äußeren zeigen musste, in der modernen Welt ihre 
		Funktion verloren hat.
 
        
         - Das traditionell dominante ökonomische 
		Stereotyp des geschäftstüchtigen Juden bildet bis heute den Kern des 
		antijüdischen Vorurteils: 43 Prozent der befragten Deutschen stimmen 
		diesem negativen Bild zu. Der Grund dürfte darin liegen, dass gerade in 
		den deutsch-jüdischen Beziehungen nach 1945 die Frage der Entschädigung 
		für verfolgungsbedingte gesundheitliche Schäden und materielle Verluste 
		(so genannte Wiedergutmachung) eine zentrale Rolle gespielt hat. Dies 
		hat bei nicht wenigen Deutschen das Vorurteil "bestätigt", es ginge "den 
		Juden" bei der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust 
		vorrangig um ökonomische Vorteile.
 
        
         - Neu gegenüber 1951 hinzugekommen ist das 
		Vorurteil vom nachtragenden Juden. Es spiegelt eine wichtige Facette im 
		deutsch-jüdischen Verhältnis wider, nämlich die Tatsache, dass die Juden 
		als Mahner an die Verbrechen der NS-Vergangenheit gesehen werden, die 
		angeblich nicht vergessen und vergeben wollen. Fast ein Drittel der 
		befragten Deutschen (29 Prozent) hielt die Juden für "empfindlich, 
		nachtragend und unversöhnlich". Dieses neue Bild kann allerdings auf 
		einem älteren und immer noch wirksamen religiösen Stereotyp aufbauen, 
		nämlich dem des "rachsüchtigen" jüdischen Gottes ("Rache bis ins siebte 
		Glied"), dem der christliche Gott der Liebe und Vergebung 
		entgegengesetzt wird.
 
     
    Antisemitismus heute 
    Wie 
	ist es nun zu erklären, dass bestimmte Dimensionen des antijüdischen 
	Vorurteils noch von vielen Deutschen geteilt werden und andere nicht mehr, 
	obwohl nichtjüdische Deutsche mit Juden im Alltagsleben kaum je 
	zusammentreffen? Die Erklärung liegt darin, dass sich vor allem die 
	Vorurteile gehalten haben, die sich mit neuen Inhalten haben füllen lassen, 
	die also die alten Vorurteile scheinbar "bestätigen". Diese Inhalte ergeben 
	sich primär aus den Problemen, die die Deutschen mit der 
	nationalsozialistischen Vergangenheit haben. 
     
    Anders als bei den Vorbehalten gegen Ausländer gibt es gegenüber den Juden 
	in Deutschland kaum Gefühle einer ökonomischen Konkurrenz oder einer 
	kulturellen Bedrohung durch eine große Zahl von Zuwanderern; auch Rassismus 
	ist hier ohne Bedeutung. Umfragen zeigen, dass die soziale Distanz zu Juden 
	heute sehr gering ist. Auch der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und 
	Christentum spielt weder in den Kirchen noch in der Bevölkerung eine 
	wesentliche Rolle. Die Motive des Antisemitismus liegen vorwiegend in dem 
	Schuldgefühl gegenüber den Juden, das in verschiedener Weise abgewehrt wird: 
    
      - Man schreibt den Juden eine Mitschuld an ihrer 
		Verfolgung zu: Dies tun seit fünf Jahrzehnten circa 20 Prozent der 
		deutschen Bevölkerung, die glauben, "dass die Juden mitschuldig sind, 
		wenn sie gehasst und verfolgt werden". Hier haben wir es mit der 
		Denkweise "Wo Rauch ist, ist auch Feuer" zu tun, die aus der Tatsache, 
		dass Juden in der europäischen Geschichte häufig verfolgt wurden, 
		schließt, dafür müsse es Gründe im Verhalten der Juden gegeben haben. Es 
		ist deshalb für die Entkräftung von Vorurteilen wichtig, sich historisch 
		die gesamte Breite der christlich-jüdischen Beziehungen zu 
		vergegenwärtigen und diese nicht auf eine reine Konflikt- und 
		Verfolgungsgeschichte zu reduzieren.
 
         
      
       - Man unterstellt den Juden, dass sie ihre Leiden 
		unter der NS-Verfolgung heute dazu benutzen, um möglichst hohe Summen an 
		"Wiedergutmachungs"-Geldern zu kassieren. Dieses Vorurteil verbindet 
		sich mit dem traditionellen Bild des "geldgierigen, betrügerischen und 
		ausbeuterischen Juden". Eng verbunden damit ist die Vorstellung vom 
		großen Einfluss, den Juden ausüben, um die Deutschen zu weiteren 
		Zahlungen zu zwingen. Auch hier kann sich das neue Motiv mit dem alten 
		Vorurteil von der "jüdischen Weltmacht" verbinden, das heute ebenfalls 
		noch von vielen Deutschen vertreten wird. Der Vorwurf, die Juden würden 
		ihren Einfluss geltend machen, um die Deutschen auszubeuten, ist ein 
		klassisches Beispiel für die im Antisemitismus generell zu beobachtende 
		Täter-Opfer-Umkehr.
 
         
      
       - Die Juden werden als "Störenfriede" gesehen, die 
		durch ihr Beharren auf der Erinnerung an den Holocaust – der 
		Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 öffentlich von der "Moralkeule 
		Auschwitz" – permanent an eine Periode deutscher Geschichte gemahnen, 
		die viele gern vergessen würden: Jeweils zwei Drittel der Deutschen 
		würden am liebsten "einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit" 
		ziehen. Auch hier verbindet sich ein aktuelles Unbehagen mit alten, aus 
		dem Antijudaismus stammenden Negativurteilen über die 
		"alttestamentarische Vergeltungssucht" der Juden.
 
         
      
       - Durch die Gründung des jüdischen Staates ist eine 
		neue Vorurteilsdimension hinzugekommen, indem man nun die einheimischen 
		Juden, die deutsche Staatsbürger sind, für die Politik Israels 
		verantwortlich macht. Hier treffen wir auf ein weiteres wichtiges Motiv 
		des heutigen Antisemitismus unter Deutschen: Die eigene Schuld an der 
		Verfolgung der Juden soll verkleinert werden, indem man sie gegen 
		Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Nahostkonflikt aufrechnet. 17 
		Prozent waren 1987 der Meinung, dass das, "was der Staat Israel heute 
		mit den Palästinensern macht, im Prinzip auch nichts anderes ist als 
		das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben" (33 
		Prozent unentschieden, 50 Prozent stimmten nicht zu).
 
     
    Mit der Zuwanderung von Aussiedlern, Osteuropäern und 
	Muslimen kommen allerdings auch andere "Spielarten" des Antisemitismus nach 
	Deutschland, sodass auch religiöse Formen des Vorurteils (Antijudaismus) und 
	vor allem ein antizionistisches Feindbild, gespeist durch den 
	arabisch-israelischen Konflikt, anzutreffen sind.
	Werner Bergmann ist Professor für Antisemitismusforschung an der Technischen 
	Universität Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte des 
	Antisemitismus vorgelegt, darunter "Antisemitismus in der Bundesrepublik 
	Deutschland" (1991, zus. mit R. Erb) und "Geschichte 
	des Antisemitismus" (Beck 2002). 
    
    
      
            Aus: 
            Werner Bergmanns "Geschichte 
			des Antisemitismus" 
            
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