Wolfgang Frindte, Friedrich Funke & Susanne Jacob:
Neu-alte Mythen über Juden
Ein Forschungsbericht
Daten zum Antisemitismus in Deutschland
Wie steht es also mit dem Antisemitismus in Deutschland?
Entfalten die "giftigen" Mythen über die Juden als Juden auch heute noch
ihre Wirkung? Und wenn ja, in welcher Weise spiegeln sie sich als
Einstellungen wider?
Die empirischen Daten, die wir im folgenden vorstelle,
stammen aus einer von der Volkswagenstiftung geförderten Studie mit 2133
deutsche Jugendlichen (im Alter von 15 bis 19 Jahren), die wir im Sommer und
Winter 1996 in vier deutschen Bundesländern befragten Bayern, Brandenburg,
Schleswig-Holstein und Thüringen).
Antisemitismus ist die Target Variable. Dabei gehen
wir von einem Dreikomponentenansatz antisemitischer Einstellungen aus:
Manifester Antisemitismus, latenter Antisemitismus und Verantwortung
gegenüber den Juden sind die Komponenten.
Als Manifesten Antisemitismus (AS-Man)
bezeichnen wir negative soziale Konstruktionen (Äußerungen,
Meinungen, Einstellungen und Deutungen) über Juden als Juden. Manifest
antisemitische Einstellungen spiegeln sich u.a. in religiös ausgedrückten
Vorurteilen gegenüber Juden wider ("Die Juden sind Schuld am Tode
Christus"), in säkularisierten Formen der Ablehnung von Juden ("Mit Juden
sollte man keine Geschäfte machen") und in politisch verbalisierten
antijüdischen Statements ("Die Juden sind Fremdkörper in unserer Nation").
Mit dem Konstrukt des Latenten Antisemitismus
(AS-Lat) greifen wir den o.g. Ansatz von Bergmann und Erb (1986, 1991) über
die Kommunikationslatenz im öffentlichen Umgang mit antisemitischen
Phänomenen auf und beschreiben damit die Ablehnungen, über die negativen
sozialen Konstruktionen gegenüber Juden öffentlich zu reden.
Relativ neue Formen des Umgangs der Deutschen mit den
Juden drücken sich u.E. in der zunehmenden Ablehnung einer besonderen
Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden aus. Wir betrachten
diese Ablehnung als Teil aktueller antisemitischer Einstellungen und nehmen
sie als weitere Subdimension in unserem Modell auf (Ablehnung von
Verantwortung gegenüber Juden (AS-Ver).
Im nächsten Schritt konstruierten wir eine Skala, die die
o.g. drei Aspekte der Zielvariable erfassen soll: Manifester Antisemitismus,
Latenter Antisemitismus (im Sinne der Kommunikationslatenz) und Ablehnung
von Verantwortung gegenüber Juden. Für eine Vorversion der Skala wählten wir
aus verschiedenen Instrumentarien bzw. Umfragestudien bereits getestete
Items aus (IfD seit 1952, Gibson & Duch 1991, Bergmann & Erb 1991, Lederer
1994,) bzw. formulierten neue Items. Nach einer theoretisch-konzeptionellen
Überprüfung entwickelten wir schließlich die folgende Skala mit 13 Items und
versahen sie mit einem 5-stufigen Antwortmodell von 1 (lehne ich ab) bis 5
(stimme ich zu).
Eine Faktoranalyse (Hauptkomponentenanalyse mit
Varimax-Rotation) lieferte uns drei Faktoren, die insgesamt 62,7% der
Gesamtvarianz aufklären und unsere theoretisch angezielte Struktur
bestätigen: Faktor 1 klärt 43,5% der Gesamtvarianz auf und enthält all jene
Items, die nach unseren Vorstellungen "Manifesten Antisemitismus" zu
erfassen in der Lage sein sollen; Faktor 2 mit 10,7% Varianz-aufklärung
enthält die drei Items der Subskala "Abwehr von Verantwortung gegenüber
Juden"; auf dem Faktor 3 (8,6% Varianzaufklärung) laden die Items "Latenter
Antisemitismus" hoch. Auch in konfirmatorischen Faktorenanalysen mit Hilfe
von LISREL konnte die Dreifaktorenstruktur mit korrelierten Faktoren
gestützt werden. Dieses Modell erwies sich gegenüber alternativen Modellen
(unkorrelierte Faktoren bzw. andere Anzahl von Faktoren) als überlegen
(Adjusted Goodness of Fit Index AGFI = .92; Standardized Root Mean Square
Residual SRMR = .037).
Die folgende Tabelle zeigt die Items, ihre
Faktorzugehörigkeit und die prozentuale Zustimmung (Skalenwert 5) zu jedem
Item, getrennt für die männlichen und weiblichen Jugendlichen in
Ostdeutschland (Thüringen und Brandenburg) und Westdeutschland (Bayern und
Schleswig-Holstein.
Item
|
Faktorzugehörigkeit
|
weibliche Jugendliche
aus Ost-
deutschland
|
männliche Jugendliche
aus Ost-
deutschland
|
weibliche Jugendliche
aus West-
deutschland
|
männliche Jugendliche
aus West-
deutschland
|
1. Es wäre besser
für Deutschland, keine Juden im Land zu haben. |
Faktor 1
"Manifester Antisemitismus"
|
5,6
|
7,9
|
3,1
|
6,0
|
2. In Deutschland
haben die Juden zuviel Einfluß. |
Faktor 1 "Manifester
Antisemitismus"
|
3,5
|
6,6
|
1,9
|
4,8
|
3. Die Juden sind
mitschuldig, wenn sie gehaßt und verfolgt werden. |
Faktor 1 "Manifester
Antisemitismus"
|
5,2
|
7,0
|
3,3
|
5,6
|
4. Juden haben
auf der Welt zuviel Einfluß. |
Faktor 1 "Manifester
Antisemitismus"
|
3,5
|
5,0
|
2,7
|
4,2
|
5. Ich gehöre zu
denen, die keine Juden mögen. |
Faktor 1 "Manifester
Antisemitismus"
|
6,8
|
5,5
|
2,5
|
6,3
|
6. Juden sollten
keine höheren Positionen im Staate innehaben. |
Faktor 1 "Manifester
Antisemitismus"
|
8,9
|
12,8
|
4,6
|
8,8
|
7. Mit Juden
sollte man keine Geschäfte machen. |
Faktor 1 "Manifester
Antisemitismus"
|
8,7
|
11,2
|
5,2
|
8,0
|
8. Das deutsche
Volk hat eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden. |
Faktor 2
"Ablehnung von Verantwortung
gegenüber Juden"
|
17,0
|
19,3
|
20,9
|
23,3
|
9. Als heute
lebender Jugendlicher muß man nicht mehr über die Schuld der
Deutschen gegenüber den Juden nachdenken. |
Faktor 2
"Ablehnung von Verantwortung
gegenüber Juden"
|
11,1
|
20,0
|
12,0
|
21,1
|
10. Jahrzehnte
nach Kriegsende sollten wir nicht mehr soviel über die
Judenverfolgung reden, sondern endlich einen Schlußstrich unter die
Vergangenheit ziehen. |
Faktor 2
"Ablehnung von Verantwortung
gegenüber Juden"
|
18,2
|
32,0
|
20,8
|
29,2
|
11. Ich glaube,
daß sich viele nicht trauen, ihre wirkliche Meinung über Juden zu
sagen. |
Faktor 3
"Latenter Antisemitismus"
|
31,7
|
38,0
|
27,3
|
30,7
|
12. Mir ist das
ganze Thema "Juden" irgendwie unangenehm. |
Faktor 3
"Latenter Antisemitismus"
|
3,6
|
7,4
|
2,9
|
5,2
|
13. Was ich über
Juden denke, sage ich nicht jedem. |
Faktor 3
"Latenter Antisemitismus"
|
13,1
|
15,9
|
12,1
|
16,0
|
Tab. 1: Antisemitische Einstellungen;
Zustimmung zu den Items (aussagen) in Prozent
Die Zustimmungen zu den manifest antisemitischen
Äußerungen sind - wie es die Tabelle 1 illustriert - durchweg relativ
niedrig und liegen (bis auf zwei Ausnahmen; Zustimmung der ostdeutschen
männlichen Jugendlichen zu Item 6 und 7) unter der 10-Prozent-Grenze. Das
sollte sicher optimistisch stimmen. Auffallend sind allerdings wiederum die
Unterschiede zwischen den ostdeutschen und westdeutschen Jugendlichen. Ob
diese Befunde auf die ausgeprägteren manifesten antisemitischen
Einstellungen der ostdeutschen Jugendlichen verweisen oder auf die größere
Zurückhaltung der westdeutschen Jugendlichen, sich in der
"Fragebogen-Öffentlichkeit" als Antisemiten zu outen (im Sinne einer
sozialen Erwünschtheit), muß zunächst einmal offen bleiben. Aus den
Zustimmungen zu den Items, mit denen wir "Latenten Antisemitismus" (im Sinne
besagter Kommunikationslatenz) zu erfassen versuchten, lassen sich keine
eindeutigen Hinweise ableiten, um diese Frage zu beantworten.
Auffallend sind hingegen die relativ hohen
Zustimmungen zu jenen Items, die sich auf die dritte Subdimension unseres
Konstrukts "Antisemitismus", auf die "Verantwortung gegenüber den Juden"
beziehen (die Items 8, 9 und 10). Fast ein Drittel der Jungen in Ost und
West stimmt der Äußerung zu, daß über die Judenverfolgung nicht mehr so viel
geredet und statt dessen endlich ein Schlußstrich unter die Vergangenheit
gezogen werden sollte (Item 10). Überdies stimmen im Mittel nur ca. 20%
aller Jugendlichen zu, daß das deutsche Volk auch heutzutage eine
besondere Verantwortung gegenüber den Juden habe (Item 8).
Wie bereits ausgeführt, erwies sich in konfirmatorischen
Faktorenanalysen, daß die Annahme korrelierter Faktoren sinnvoll ist. Hohe
Werte von manifestem Antisemitismus gehen mit hohen
Kommunikationslatenzwerten einher (r=.51). Dieser Zusammenhang widerspiegelt
sich in der folgenden Kreuztabelle, in der die Verteilung in den jeweiligen
Quartilen wiedergegeben ist:
Tab. 2: Kreuzvergleich "manifester/latenter
Antisemitismus"
Ebenso wie in den Untersuchungen von Bergmann und Erb
(1991, S. 505) fanden auch wir, daß der Anteil der Antisemiten mit
zunehmender Kommunikationsscheu (also mit zunehmendem latenten
Antisemitismus) stark zuzunehmen scheint. Während nur 0,9% der
befragten Jugendlichen mit relativ ausgeprägten manifest antisemitischen
Einstellungen niedrige Werte in der Dimension "Latenter Antisemitismus"
aufweisen, zeigen 13,2% gleichzeitig hohe Werte im manifesten und latenten
Antisemitismus. Verallgemeinert könnte man mit Bergmann und Erb (1991)
vermuten, Jugendliche, die sich in einer Befragungssituation ausgeprägt
manifest antisemitisch äußern, würden ihre antisemitischen Einstellungen und
Vorurteile in der Alltags-Öffentlichkeit eher für sich behalten.
Gleichwohl nehmen diese Jugendlichen an, auch andere würden sich wie sie
verhalten (Item 11) und ihre "wirkliche Meinung" über Juden aufgrund
sozialen Drucks nicht öffentlich äußern.
Welche Rolle spielt nun aber die Dimension der
Verantwortungsabwehr
im Vergleich zu den Dimensionen latenter und manifester Antisemitismus? Die
deutlichste Besonderheit besteht in der größeren Varianz der Antworten auf
diesen Fragenkomplex. Füllt man dieses statistische "Zeichen" mit Inhalt,
könnte man die höhere Varianz mit einem größeren Diskussionsbedarf
übersetzen; oder aber mit einem weniger wirksamen gesellschaftlichen Tabu,
als dies bei manifestem Antisemitismus der Fall zu sein scheint.
Im Mittelwertsvergleich der Bundesländer hinsichtlich
dieser Dimension zeigt sich zunächst ein graphischer Unterschied, der
allerdings nur zwischen den Ländern Brandenburg und Bayern auf dem 5%-Niveau
signifikant ist.
Abb. 1: Ablehnung von Verantwortung
gegenüber den Juden
(Mittelwertsvergleich zwischen den Bundesländern)
Was steckt aber hinter der Verantwortungsablehnung? Drückt
sich in der Zurückweisung von Verantwortung gegenüber den Juden der alte
Antisemitismus in Deutschland - nun allerdings in neuem Gewande - aus oder
sollte man eher sagen, die deutsch-jüdischen Beziehungen haben dadurch, daß
sie nicht mehr mit dem Verantwortungsgefühl gegenüber den Verbrechen der
Vergangenheit beladen werden, endlich das normale Maß des Umgangs zwischen
verschiedenen Völkern erreicht? Hängt eine derartige Zurückweisung gar mit
der Dimension der Ausländerfeindlichkeit zusammen?
Die Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden haben
wir konzeptionell als eine Dimension unserer abhängigen Variable
"Antisemitismus" gefaßt. Dieses Konstrukt ist damit integraler Bestandteil
dieses Komplexes. Dennoch wollten wir noch genauer hinterfragen, wie sich
die Übernahme oder aber die Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden
aus den anderen Teildimensionen (manifester Antisemitismus und
Kommunikationslatenz) und aus der Dimension der Ausländerfeindlichkeit
(erhoben mit einer Skala zur Ausländerfeindlichkeit; s. Anhang) erklären
läßt. Diese Fragestellung ist nicht trivial; in ihrer Beantwortung liegt
auch ein wichtiger Schlüssel für die Frage, ob es sich beim modernen
Antisemitismus um ein Konstrukt handelt, das von Fremdenfeindlichkeit
unterscheidbar ist, oder aber ob beide Konstrukte austauschbar sind. Die im
folgenden dargestellte Regressionsanalyse ging dieser Frage nach.
Das Ergebnis gibt uns recht; es lohnt sich, die Frage
überhaupt zu stellen. In der dargestellten Regressionsanalyse zeigt
sich, daß sich die Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden aus
manifestem und latentem Antisemitismus(statistisch) erklären läßt. Vor allem
aber die Ausländerfeindlichkeit erweist sich als signifikanter Prädiktor.
Tab. 3: Regressionanalyse "Ablehnung von
Verantwortung gegenüber Juden"
Man könnte auch sagen: Nicht mehr über die Schuld der
Deutschen gegenüber den Juden nachdenken, endlich einen Schlußstrich unter
die Vergangenheit ziehen und keine besondere Verantwortung gegenüber den
Juden zeigen - all das scheint auch zu den Facetten antisemitischer
Einstellungen von Jugendlichen zu gehören. Die Zurückweisung von
historischer Verantwortung ist vielleicht ein Teil der neuen oder neu
gewendeten alten antisemitischen Mythen.
Unsere Befunde, die, und das sollte man nicht übersehen,
Ergebnisse einer Jugendstudie sind, sprechen zunächst einmal dafür,
daß es nach wie vor antisemitische Einstellungen und Vorurteile unter
deutschen Jugendlichen gibt. In der Ablehnung von Verantwortung gegenüber
den Juden spiegelt sich möglicherweise auch eine neue Form von
Antisemitismus wider. Aber: Wenn sich Jugendliche heute in Deutschland
antisemitisch äußern, tun sie dies - und darauf verweisen auch die
Ergebnisse der Regressionsanalyse - meist im Kontext einer allgemeinen
Ausländerfeindlichkeit.
Jugendlicher "Antisemitismus nach Auschwitz" ist kein Antisemitismus
ohne "Objekte". Der neue Antisemitismus ist Teil der Ausländer- und
Fremdenfeindlichkeit. Das Tabu, sich nicht antijüdisch zu äußern, wird von
Jugendlichen gebrochen, und scheinbar beliebig greifen sie auf die Mythen
des Antisemitismus zurück, um ihre Abneigung gegenüber Fremden auszudrücken.
Damit gehört der Antisemitismus zu jenen sozialen Konstruktionen über
soziale Konstruktionen, mit denen die Konstrukteure (die Antisemiten und
Fremdenfeinde) sich selbst konstruieren.
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2007
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